Hamburg. Steigende Strompreise und rückläufige Aufträge gefährden den Standort, warnt Matthias Boxberger. Was er aus dem Rathaus erwartet.

Die Nachricht der Stromnetzbetreiber, dass sie ihre Entgelte aufgrund wegbrechender Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt teilweise verdoppeln müssen, lässt in der Hamburger Industrie die Alarmglocken schrillen. „Die drastisch steigenden Netzentgelte zum Jahreswechsel bedeuten eine erhebliche Belastung des Industriestandortes Hamburg, gerade im internationalen Wettbewerb“, sagt Matthias Boxberger, Vorsitzender des Industrieverbands Hamburg (IVH), im Gespräch mit dem Abendblatt.

Der Preisanstieg wird nach Angaben von Stromnetz Hamburg für einen durchschnittlichen Privathaushalt Mehrkosten von rund 100 Euro im Jahr ausmachen. „Bei einem großen Industriebetrieb können die Mehrkosten in die Millionen gehen“, so Boxberger, der das allerdings nicht dem Senat oder dem städtischen Unternehmen anlastet.

Wirtschafts-Standort Hamburg: Industrie-Chefs schlagen Alarm

Der Verbandschef, der für 270 Unternehmen mit rund 100.000 Beschäftigten spricht, sieht viel mehr die Ampel im Bund in der Verantwortung: „Die von der Regierung zugesagten 5,5 Milliarden Euro zur Dämpfung der Netzentgelte stehen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem damit verfassungswidrigen Haushaltsplan der Ampel nicht mehr zur Verfügung. Die unmittelbaren Folgen dieser Haushaltspolitik spüren nun auch Verbraucher und Industrie in Hamburg.“

Die Nachricht komme zur Unzeit, so Boxberger. „Obwohl wir erfreulicherweise eine gewisse Entspannung an den Märkten für Gas und Strom beobachten, sind wir nach wie vor bei den Energiepreisen einer der teuersten Standorte innerhalb Europas.“ Das gelte insbesondere für die Zukunftsenergie Strom.

Weniger Aufträge bedeuten weniger Produktion und weniger Beschäftigung

Noch mehr Sorgen machten ihm aber die erneut abgesenkten Konjunkturprognosen der großen Wirtschaftsforschungsinstitute, so der IVH-Vorsitzende. „Am Industriestandort Hamburg stagnieren die Neuinvestitionen, der Auftragseingang geht bereits deutlich zurück, gerade in der verarbeitenden Industrie – mit Ausnahme der Luftfahrt.“

Das setze „mit Ansage“ eine negative Kettenreaktion in Gang: „Auftragsrückgang führt zu Produktionsrückgang und der kann zu Beschäftigungsrückgang führen, und beides zusammen führt zu sinkenden Steuereinahmen und steigenden Kosten für den Sozialstaat“, prognostiziert Boxberger, der im Hauptberuf den Energiedienstleister HanseWerk führt. „Die Politik hat immer noch nicht auf dem Radar, wie es um den Wirtschafts- und Industriestandort tatsächlich steht. Wir klagen nicht, wir haben schon Feuer unterm Dach.“

Hamburg ist der größte zusammenhängende Industriestandort in Deutschland

Dabei sei die Erkenntnis im Rathaus, dass Hamburg der größte Industriestandort in Deutschland ist und eine enorme Bedeutung für die Stadt hat, in den letzten fünf Jahren durchaus gewachsen, hat Boxberger beobachtet. Er führt das auch darauf zurück, dass die Politik die herausragende Rolle der Industrie für die Dekarbonisierung und die Transformation der Wirtschaft hin in die Klimaneutralität erkannt hat.

Nicht umsonst hatte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) 2019 bei einer Rede vor dem Übersee-Club ein „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ angeregt, das dann auch kurz darauf ins Leben gerufen wurde. Im Frühjahr 2023 folgte daraufhin der „Masterplan Industrie“, in dem Senat, Industrieverband, Handelskammer und DGB die Vision entwickeln, „Hamburg als führende Modellregion für industrielle Wettbewerbsfähigkeit, Prosperität und Zukunftsentwicklung“ zu positionieren.

Wirtschafts-Standort Hamburg: Industrie fühlt sich zu oft von der Verwaltung ausgebremst

Auf die Frage, inwiefern diese Vereinbarung im Regierungslager auch „gelebt“ wird, kommt der IVH-Chef zu einem gemischten Urteil: „Beim Bürgermeister, der Wirtschaftssenatorin und weiteren Vertretern des Senats nehme ich Bekenntnis und Einsatz dafür wahr“, lobt Boxberger. „Aber bei der Umsetzung in konkretes Verwaltungshandeln gibt es noch viel Luft nach oben. Das industriepolitische Bekenntnis des Bürgermeisters muss eine Tiefenwirkung bis an die Schreibtische, Bildschirme und Tastaturen der Behördenmitarbeiter entfalten.“

2019 hatte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) in einer Rede vor dem Übersee-Club ein „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ angeregt.
2019 hatte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) in einer Rede vor dem Übersee-Club ein „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ angeregt. © dpa | Axel Heimken

Mit anderen Worten: Selbst bei politisch gewollten Projekten hakt es oft an der Umsetzung, weil die Verwaltung immer neue Anforderungen stellt oder einzelne Beamte diese besonders hartnäckig exekutieren wollen. „Wir brauchen in den Ämtern und Behörden eine Ermöglichungskultur, eine positive Grundhaltung gegenüber denjenigen, die investieren wollen, die etwas bewegen wollen“, so Boxberger, „das ist die größte Herausforderung, damit wir die nachhaltige Standortentwicklung hinbekommen, die wir uns vorgenommen haben“,

Frust bei Firmen: EU-Regeln werden in Hamburg besonders pingelig umgesetzt

Konkrete Einzelfälle möchte er ungern nennen, weil das Nachteile für die betroffenen Unternehmen mit sich bringen könne. Aber als Beispiel könne die Umsetzung von EU-Regeln gelten, bei der Hamburg oft besonders bürokratisch vorgehe - etwa, wenn Brüssel bei einem Vorhaben eine Untersuchung zu den Auswirkungen auf Flora und Faune fordere.

In Hamburg werde dann oft eine ganze Vegetationsperiode lang geprüft. „Damit verzögert sich das Vorhaben um mindestens ein Jahr Beobachtungsdauer mit anschließender Auswertung“, so Boxberger. „In anderen EU-Ländern geht das deutlich schneller, ohne dass die EU-Recht ignorieren. Gerade in Bundesländern wie Hessen oder Bayern gibt es da mehr Zug zum Tor.“

Unternehmen wünschen sich mehr Unterstützung für große Verkehrsprojekte

Doch auch aus dem Rathaus wünsche sich die Industrie mehr politische Orientierung: „Wer einerseits Hamburg zur beispielgebenden Modellregion machen will, muss andererseits konsequent alles, was dafür verkehrlich erforderlich ist, mit einer Stimme nach vorne treiben“, sagt Boxberger.

Mehr zum Thema

Er spielt damit vor allem auf die aus Sicht der Wirtschaft dringend erforderliche neue Köhlbrandquerung und die A26-Ost als Hafenpassage an: Letztere halten die Grünen für überflüssig, weswegen es im Koalitionsvertrag mit der SPD, die für die neue Autobahn ist, nur zu der Kompromiss-Formel reichte, dass Hamburg den Bund beim Bau „unterstützt“.

Köhlbrandquerung und A26-Ost: Industrie fordert „Klarheit“ vom Senat

Das sei zu wenig, findet der IVH-Chef: „Verkehrspolitik ist Wirtschaftspolitik. In diesen Fragen braucht nicht nur die Hamburger Industrie, sondern die gesamte norddeutsche Wirtschaft Klarheit – doch die zeigt der Senat nicht. Stattdessen stellt insbesondere ein Koalitionspartner diese Infrastrukturprojekte immer wieder infrage.“

Damit fehle es den Unternehmen an der nötigen Planungssicherheit: „Die Industiebetriebe sind bereit, Milliarden zu investieren, um zukünftig nachhaltig zu produzieren, sie kämpfen auf Weltmärkten um ihre Erträge, von denen dann auch ihre Beschäftigten und die Stadt profitieren – da dürfen sie auch erwarten, dass die Politik sich energisch für die nötige Infrastruktur einsetzt“, fordert Boxberger.

„Feuer unterm Dach“: Industrieverband erwartet klares Bekenntnis zu Hamburg

„Wir stehen im Wettbewerb: Bei jeder Investitionsentscheidung geht es um die Frage, ob sie hier getätigt wird oder anderswo auf der Welt – oder vielleicht nur 400 Kilometer entfernt von Hamburg“, fügt er hinzu. „Deshalb sind Entschlossenheit, Klarheit und Verbindlichkeit so wichtig: Wenn Hamburg seine industriepolitische Agenda nicht umsetzt, dann wird hier keine Standortentwicklung stattfinden, die Maßstab ist für andere.“

Das gelte im Übrigen für ganz Deutschland: „Wenn wir mit unserem industriepolitischen Weg nicht erfolgreich sind, wird ihn niemand auf der Welt kopieren“, ist Boxberger überzeugt und zählt auf: „Die geringsten Wachstumsraten führender Wirtschaftsnationen, die höchsten Energiepreise, trotzdem einen Anstieg der CO2-Emissionen und rasant schwindender politischer Kredit in der Bevölkerung – das ist doch kein Erfolgsmodell. Wer will denn beim Klassenschlechtesten abschreiben?“