Hamburg. „Aidar“ will mit einer Softwarelösung kleine Musikverlage dabei unterstützen, passende junge Künstler zu finden.

Rund 60.000 Musiktitel werden täglich allein in den StreamingdienstSpotify hochgeladen. Entsprechend aufwendig ist es für die zumeist sehr kleinen Musikverlage, vielversprechende und zum beabsichtigten Programm passende Talente aus dieser Flut neuen Materials herauszufiltern. Eine Softwarelösung aus Hamburg soll nun dabei helfen – mittels künstlicher Intelligenz (KI).

Eigentlich war es ein Zufall, der das Geschäftsmodell für das Start-up Aidar lieferte: Vor gut drei Jahren kam Janek Meyn, der gerade an der Kühne Logistics University (KLU) im Fach Musikmarketing promovierte und sich dazu mit Vergütungsmodellen für Streamingdienste beschäftigte, bei einer Präsentation im Rathaus mit dem Chef eines sogenannten Indie-Labels – also einer kleinen, unabhängigen Musikagentur – aus der Speicherstadt ins Gespräch. Zunächst ging es nur darum, „echte“ Nutzerdaten für das von Meyn entwickelte Computerprogramm beizusteuern, aber daraus entstand die Idee, die KI-Technologie auch für die Talentsuche einzusetzen.

„Inhaber kleiner Musikverlage können nur einen Teil des Tages darauf verwenden, und selbst wenn man neue Titel auf den entsprechenden Onlineplattformen nur kurz anspielt, kann man sich höchstens 50 Künstler täglich anhören“, sagt Mitgründerin Yana Asenova. Die 29-jährige alte Bulgarin hat bereits die International Music Business School in Barcelona absolviert und promoviert seit Januar an der KLU, ebenfalls in Musikmarketing.

Hamburger Start-up Aidar nutzt künstliche Intelligenz bei der Talentsuche

Wie gefragt die Technikunterstützung sein dürfte, zeigt schon diese Statistik: Etwa 60 Prozent aller Musikverlage haben weniger als fünf Beschäftigte. „Komplette Datenanalyseteams, wie sie die Branchengrößen Warner, Universal und Sony unterhalten, können sich Indie-Labels natürlich nicht leisten“, sagt Meyn, der aus Hamburg kommt, unter anderem bei Lufthansa Technik gearbeitet hat und nach Abschluss der Promotion an der KLU nun in Vollzeit damit beschäftigt ist, Aidar auf den Weg zu bringen.

„Man sagt, es gebe im Musikbereich weltweit rund zwölf Millionen Künstler“, so Meyn. „Die drei großen Labels haben Zugriff auf Daten von jeweils schätzungsweise sechs Millionen bis neun Millionen dieser Künstler.“ Die Aidar-Datenbank führt bisher 3,3 Millionen Namen sowie die relevanten Informationen über den Künstler, etwa seinen Musikstil, wie lange er schon aktiv ist und wie viel er bereits kommerziell veröffentlicht hat. Je jünger und unerfahrener die Musikerinnen und Musiker sind, umso eher kommen sie für ein kleines Label infrage.

Ein KI-Programm soll aus diesem Bestand den im Verlag für die Talentsuche und -betreuung (englisch: „artist and repertoire“, kurz A&R) verantwortlichen Personen Vorschläge unterbreiten. Der A&R-Manager prüft dann, ob das Künstlerprofil seinen Präferenzen entspricht, und bewertet die Qualität des Vorschlags auf einer Skala von eins bis sieben. „So lernt das Programm hinzu und wird mit der Zeit treffsicherer“, erklärt Meyn.

Debüt auf Reeperbahn Festival in Hamburg: Start-up Aidar stellt sich vor

Um „abzuschätzen“, ob ein Künstler für ein bestimmtes Label überhaupt interessant sein könnte, nutzt das Programm nicht nur die auf Spotify oder anderen Portalen aufgeführten Informationen, sondern es kann auch die Musikstücke selbst analysieren – zum Beispiel daraufhin, wie „tanzbar“ sie sind, in welcher Tonart es komponiert ist oder ob es sich um Liveaufnahmen handelt.

Erstmals öffentlich vorgestellt hat das Team von Aidar sein Programm kürzlich auf dem Reeperbahn Festival. Im ersten Schritt arbeiten zehn kleine Musikverlage damit. „Wir haben sehr positive Rückmeldungen bekommen“, so Meyn. Zwar sei noch kein Künstler, den die Software vorgeschlagen hat, von den Talentsuchern unter Vertrag genommen worden, aber das überrasche ihn überhaupt nicht: „Das ist ein sehr langfristiges Geschäft.“

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Aktuell gehören vier Personen zum Team von Aidar, wobei neben Asenova und Meyn auch Lyubomir Kushev und Caspar Hoeyng Absolventen der KLU sind. Der Name des Start-ups setzt sich zusammen aus den Begriffen „AI“ (englisch für KI), „aid“ (englisch für Hilfe beziehungsweise helfen) sowie A&R. Räumlichkeiten stellt bisher die KLU im Rahmen des Alumni-Förderprogramms zur Verfügung und dort will man zunächst auch bleiben.

Abo-Modell für KI-Nutzung von Hamburger Modell: Vorsortierung soll für kulturelle Vielfalt sorgen

„Wir gehen davon aus, dass wir demnächst die Zusage für ein ‚Exist‘-Gründungsstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums erhalten“, sagt Meyn. Das würde dann ein Jahr lang laufen – lange genug, um die Software zu einem wirklich marktreifen Produkt zu machen.

„Wir planen ein Abo-Modell, wobei wir nicht ausschließen, dass unsere KI-Lösung später einmal auch für die großen Label interessant sein könnte“, sagt Asenova. Doch zunächst einmal sollte der Markt den kleinen genug Chancen bieten: Allein für die Hansestadt listet die Initiative Rockcity Hamburg mehr als 70 Musiklabels auf, in Deutschland gibt es mehr als 900 und weltweit sind es fast 25.000.

Zwar ist der Umsatz der Musikbranche in Deutschland nach einem Höhepunkt Mitte der 1990er-Jahre angesichts des Rückgangs der CD-Verkäufe zeitweise abgebröckelt. Doch weil digitale Vertriebswege nun immer besser greifen, legt er seit etwa 2015 tendenziell wieder zu – auch das ist ein günstiges Vorzeichen für Aidar.

Sorgen um ihren Job müssen sich die A&R-Verantwortlichen in den Musikverlagen jedenfalls nicht machen, sagen die Gründer des Start-ups. Es gehe nur um eine intelligente Vorsortierung, die wegen des weltweiten Suchhorizonts sogar zu mehr kultureller Vielfalt führen könne.