Hamburg. Die Chancen auf gute Geschäfte in der virtuellen Welt sind angeblich immens. Und Hamburg soll zu einem Pionierstandort werden.
Wohl nur die wenigsten Hamburger könnten sich heute vorstellen, mehr als 5000 Euro für ein Paar Sneakers von Nike auszugeben – noch dazu für Schuhe, die nicht in der „realen“ Welt existieren, sondern nur von einem digitalen Abbild der eigenen Person getragen werden können. Dennoch verkaufte der US-Turnschuh-Gigant im vorigen Jahr innerhalb kurzer Zeit 600 Paar Sneaker seiner „CryptoKicks“-Reihe. Wer schon das verrückt findet, dürfte erst recht darüber staunen, dass jemand umgerechnet rund 450.000 Euro für ein virtuelles Grundstück direkt neben der Villa des US-Rappers Snoop Dogg im Cyberspace bezahlt hat.
All das spielt sich im sogenannten Metaverse ab – ein Begriff, den Umfragen zufolge bisher erst höchstens jeder zweite Deutsche kennt. Das Kunstwort setzt sich zusammen aus der Vorsilbe „meta“ und „universe“, englisch für Universum, und bezeichnet eine digitale 3-D-Welt, in der „echte“ Menschen miteinander in Kontakt treten. Sie tun das meist über eine Grafikfigur, einen Avatar, der sie selbst darstellt.
Es mag zwar reichlich abgehoben erscheinen, diesen Avatar mit einem von dem italienischen Designer-Duo Dolce & Gabbana entworfenen Haarschmuck für 300.000 Euro auszustatten. Doch das Metaverse ist keineswegs nur ein Spielfeld für Spinner mit zu viel Geld.
Metaverse – was Hamburger Firmen in der virtuellen Welt bereits tun
Denn die Technologie dahinter ist auch für den „normalen“ Arbeitsalltag einsetzbar – und Hamburger Unternehmen wollen sie nutzen oder tun das bereits. So arbeitet Airbus daran, die Gestaltung der Kabine nach den Wünschen der Kunden künftig mit ihnen direkt im virtuellen Flugzeuginnenraum vorzunehmen. Airbus-Beschäftigte werden sich mittels 3-D-Brillen mit den Kabinenexperten der Fluggesellschaften in anderen Teilen der Welt über Details, die beide sehen, austauschen können, ohne dass dafür stets weite Dienstreisen nötig sind. Für Kabinen der A320-Reihe soll das bis 2025 umgesetzt sein.
Beim Versandhandelskonzern Otto erprobt man seit etwa einem Jahr in Pilotprojekten, wie sich Teambesprechungen im Metaverse bewähren. „Da heißt es dann: Treffen wir uns real auf der Dachterrasse oder am virtuellen Strand?“, sagt Frederike Fritzsche, die als sogenannter Tech Ambassador des Unternehmens IT-Themen von Otto in der Öffentlichkeit vertritt.
„Besonders geeignet erscheint die Technologie bisher für den Austausch in lockerer Atmosphäre“, so Fritzsche. Sie weist aber auch auf die Grenzen hin: „Menschliche Emotionen sind sehr vielschichtig. Das lässt sich über Avatare bislang noch nicht transportieren.“ Außerdem gebe es Personen, die durch das Tragen einer 3-D-Brille seekrank werden.
„Treffen wir uns real auf der Dachterrasse oder am virtuellen Strand?“
Dennoch eröffne die Technik neue Möglichkeiten für die Berufswelt, gerade in IT-Teams: „Das Metaverse wird es erleichtern, mit Beschäftigten zusammenzuarbeiten, die nicht an einem der Unternehmensstandorte leben.“ Bei Otto gebe es schon seit einiger Zeit sogenannte Remote-Verträge. „Das kann helfen, mit dem Fachkräftemangel im IT-Bereich umzugehen“, meint Fritzsche.
Darüber hinaus beschäftigt man sich im Konzern mit Konzepten für den Verkauf digitaler Produkte, nachdem Firmen wie Nike, Adidas, aber auch Modemarken wie Ralph Lauren, Tommy Hilfiger oder Burberry längst auf diesem Feld aktiv sind. Und selbst die Beiersdorf-Marke Nivea startete bereits einen Versuchsballon, indem sie kostenlos digitale Kunstwerke, die die „Macht der Berührung“ deutlich machen sollten, in einer limitierten Auflage über eine spezielle Webseite anbot.
„Ein Unternehmen, das im Onlinehandel tätig ist, muss sich auf neue Geschäftsmöglichkeiten im Metaverse einstellen – vor allem dann, wenn sie sich in die reale Welt überführen lassen“, sagt Frederike Fritzsche. Dazu diente ein „Feldversuch“ beim zur Otto-Gruppe gehörenden Internet-Modehändler About You. Im April vergangenen Jahres startete die Plattform „Hypewear“, auf der virtuelle Kleidungsstücke offeriert wurden. Den „ersten Digital Fashion Store für den Mainstream“ wollte man schaffen, der ausdrücklich auch für Nutzer ohne Technologiekenntnisse gedacht war. Doch im Juli 2023 wurde der Shop vorerst gestoppt – wohl im Zusammenhang mit der Absicht des Vorstands, den Fokus stärker auf die Profitabilität des Kerngeschäfts zu legen.
Ist das Metaverse nur eine Neuauflage des „Second Life“ von 2003?
Derartige Rückzüge sind keineswegs untypisch für das Metaverse. Auch große Modemarken mussten bei entsprechenden Aktivitäten gelegentlich Rückschläge hinnehmen, nicht alles lief wie gewünscht und nicht alle Hoffnungen haben sich bisher erfüllt. So mancher Beobachter fühlt sich dabei an „Second Life“ erinnert. Gestartet im Jahr 2003, war auch dies eine virtuelle Welt, in der die Benutzer über Avatare agieren konnten. Nach einem kurzen Hype bröckelte die Teilnehmerzahl allerdings bald wieder ab.
Doch wer glaubt, dem Metaverse werde es zwangsläufig genauso ergehen, könnte sich irren. Denn zwei Dinge haben sich seit 2003 grundlegend geändert. Während Second Life, entwickelt und betrieben von einer US-Firma mit damals gerade einmal rund 100 Beschäftigten, technisch noch instabil war, eröffnen die heutigen Internet-Bandbreiten ganz andere Möglichkeiten. Vor allem aber sind die Menschen erst durch das Smartphone, dessen Siegeszug im Jahr 2007 mit dem ersten iPhone begann, wirklich daran gewöhnt worden, weitgehend online mit anderen zu kommunizieren.
Nicht ohne Grund hat sich der Facebook-Konzern im Oktober 2021 in „Meta“ umbenannt. Das Unternehmen mit Deutschlandzentrale in Hamburg beschloss im Juli mit der Initiative nextReality.Hamburg unter dem Titel „Metaverse Innovation Circle” (MIC) eine Kooperation im Bereich der Erweiterten Realität (XR). Vorgesehen sind unter anderem gemeinsame Veranstaltungen wie etwa Sommerschulen für Studierende. Der MIC werde „die Entwicklung Hamburgs zu einem Pionierstandort für die Digitalisierung weiter vorantreiben“, erwartet Carsten Brosda (SPD), Senator für Kultur und Medien.
Metaverse – in Hamburg startet sogar ein neuer Ausbildungsberuf
Zum 1. August ist in Hamburg zudem der neue Ausbildungsberuf „Gestalterin/Gestalter für immersive Medien“ offiziell an den Start gegangen. Zu den Lerninhalten gehört das Modellieren und Aufbereiten von 3-D-Daten ebenso wie das „Durchführen von Bild- und Tonaufnahmen in realen und virtuellen Produktionen“. Zwar seien in Hamburg zum Startdatum noch keine Schülerinnen und Schüler angemeldet worden, weil die Details erst zu kurz vorher feststanden, erklärt Helge Berlitz-Olle, Oberstudienrat an der Beruflichen Schule Farmsen, die in Hamburg für die neue Ausbildung zuständig ist. „Aber das ist bei neuen Berufen nicht unüblich, außerdem könnten Unternehmen auch jetzt noch Schülerinnen und Schüler nachmelden.“ Nicht nur Computerspieleentwickler seien sehr interessiert an dem Ausbildungsberuf, auch für den Bereich „Industrie 4.0“ sei er sehr relevant, wie das Beispiel von Airbus zeige.
„Hamburg beschäftigt sich bereits seit geraumer Zeit mit der Erschaffung digitaler Welten und hat sich eine hervorragende Startposition im Hinblick auf virtuelle Realitäten erarbeitet“, sagt Senator Brosda. Die Prognosen für das weltweite Geschäftsvolumen im Metaverse erreichen jedenfalls geradezu schwindelerregende Höhen. Analysten der Citibank veranschlagen ihn für das Jahr 2030 auf 8 Billionen bis 13 Billionen Dollar. Bis zu fünf Milliarden Nutzer könnten dann in der virtuellen Welt unterwegs sein.
Metaverse: Fernoperationen durch hoch spezialisierte Chirurgen – aber nur für Reiche?
Viele werden das rein spielerisch tun, aber Anwendungsfelder ergeben sich zum Beispiel in der Telemedizin. Hoch spezialisierte Chirurgen könnten mittels Robotern künftig Operationen überall auf der Welt ausführen – wobei sich die Frage stellt, ob dies dann nicht womöglich nur Reichen zugutekommt.
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Ohnehin sieht der Digitalverband Bitkom das Risiko, „dass eine neue Form von Klassengesellschaft entsteht: Menschen mit und ohne Zugang zum Metaverse“, wie es in einem Analysepapier heißt. Anreize, immer länger im Metaverse zu bleiben, etwa durch andauernden „Gruppenzwang“ oder die Kombination von Spielen und Geldverdienen, könnten zu gesundheitlichen Problemen führen oder sogar zu existenzbedrohenden Situationen – wie Vernachlässigung von Beruf oder Familie. Und die Konrad-Adenauer-Stiftung warnt davor, dass „Desinformation sowie Manipulation“ in der neuen virtuellen Welt noch stärker wirken könnten als schon heute im Internet, weil Informationen und Erfahrungen im Metaverse besonders intensiv wahrgenommen würden.
Eines steht laut Bitkom außer Frage: „Dass sich die Gesellschaft durch das Metaverse verändern wird, ist gewiss.“