Hamburg. Das Bundesverwaltungsgericht spricht wegweisendes Urteil. Auch 18 Kleinst-Eigenheime südlich von Hamburg sind betroffen.

Die Mail kam an einem Mittwochmorgen Mitte August. „Wichtige Informationen zur Tiny-House-Siedlung Steinfurt“ hatte ein Mitarbeiter der Stadt Celle in die Betreffzeile geschrieben. Corinna Voß öffnete das Schreiben eher nebenbei.

Seit sie im April ein Grundstück für ihren Traum von einem Leben im Mini-Haus gekaut hatte, hatte sie immer wieder Post aus der niedersächsischen Stadt bekommen. Dann der Schock. Der Beamte aus der Abteilung Grundstücksverkauf teilte mit, dass erst mal keine Baugenehmigung für das Gebiet erteilt werden könnte. Der Grund: ein neues Gerichtsurteil des Bundesverwaltungsgerichts.

Immobilien: Bundesverwaltungsgericht stoppt Baugenehmigung für Tiny-House-Siedlung Steinfurt

„Es war, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegzieht“, sagt Corinna Voß. Seit mehr als einem Jahr dreht sich in ihrem Leben alles um ihr neues Mini-Eigenheim. Das Abendblatt begleitet die Krankenschwester in loser Folge auf ihrem Weg zur Traum-Immobilie. „Alles lief bestens“, sagt sie. Das Haus eines Herstellers aus Münster ist schon seit Monaten ausgesucht. Am Tag vor der Schreckensmail hatte Voß mit ihrem Architekten die letzten Details für den Bauantrag besprochen. Dann kam die Vollbremsung.

Was die Sache besonders prekär macht: Corinna Voß braucht dringend eine langfristige Bleibe. Das Haus in Westenholz, in dem sie zuletzt mit ihrem Ex-Mann gelebt hat, ist so gut wie verkauft. Da muss sie in den nächsten Wochen raus. „Ich hänge komplett in der Luft. Ich weiß nicht, ob es überhaupt noch klappt mit dem Tiny House. Und wenn ja, wann“, sagt die 57-Jährige, die mit ihrer Tochter Lynn nach Celle ziehen will.

Tiny-House-Siedlung in Celle – Bürgermeister Jörg Nigge hat große Pläne

Die Tiny-House-Siedlung am Ortsrand von Celle ist ein Vorzeigeprojekt von Oberbürgermeister Jörg Nigge (CDU). Auf dem gut einen Hektar großen Areal des Bebauungsplans 159 Steinfurt sollen 18 Mini-Häuser mit einer Größe von maximal 50 Quadratmetern gebaut werden.

Jörg Nigge (CDU) ist Oberbürgermeister in Celle.
Jörg Nigge (CDU) ist Oberbürgermeister in Celle. © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Als Pionier für einen der Wohntrends der letzten Zeit hat die schmucke Residenzstadt dort den Bau der ersten Tiny-House-Siedlungen in Deutschland vorangetrieben, in der Dauerwohnen ganz offiziell nicht nur erlaubt, sondern sogar vorgeschrieben ist. „Wir wollen als Stadt wachsen, uns neu und frisch aufstellen. Dafür bieten wir unterschiedliche Wohnformen an“, hatte Oberbürgermeister Nigge Ende Mai im Abendblatt-Gespräch gesagt und sogar ein weiteres Siedlungsgebiet in Aussicht gestellt.

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Dass das Projekt jetzt in Gefahr ist, hat mit einer Entscheidung zu tun, die schon etwas zurückliegt. Die Stadt Celle hatte bei der Erstellung des Bebauungsplans ein beschleunigtes Verfahren angewandt, das nach Baugesetz § 13 b keine Umweltprüfung vorsieht. Genau diesen Paragrafen hat das Bundesverwaltungsgericht nun wegen des Verstoßes gegen EU-Recht als rechtswidrig erklärt und kassiert. Mit ihrem Spruch haben die Leipziger Richter den beklagten Bebauungsplan in Baden-Württemberg für unwirksam erklärt. Auch wenn die zugrundeliegende Klage nichts mit den geplanten Tiny Houses in Celle zu tun hat, die Folgen reichen bis in den Norden der Republik.

Wie viele Gemeinden letztlich von den Auswirkungen betroffen sind, ist unklar. Eine Anfrage bei der Hamburger Stadtentwicklungsbehörde ergab, dass sich Hamburg bereits kurz nach der Einführung des beschleunigten Verfahrens im Jahr 2017 gegen die Anwendung entschieden hatte. „Dadurch ist Hamburg in keinem Verfahren betroffen“, erklärte ein Behördensprecher.

Tiny-House-Siedlung Steinfurt – Entscheidung kommt frühstens im November 2023

Wie es in Celle weitergeht, ist dagegen offen. Aktuell brüten die Juristen der Residenzstadt über der schriftlichen Begründung für das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Auf eine aktuelle Abendblatt-Anfrage, ob Corinna Voß und die anderen Celler Grundstückseigner mit einer Baugenehmigung rechnen können, heißt es ausweichend aus dem Rathaus: „Wir sind – wie alle Kommunen bundesweit – dabei zu prüfen, wie wir schnellstmöglich Rechtssicherheit erlangen können.“ Ein Ergebnis hat die Stadt für die nächsten Wochen avisiert.

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Die Lage ist mehr als misslich. Verkauft worden war der Großteil der Mini-Grundstücke schon im vergangenen Jahr. Zuvor waren mehr als 100 Kaufangebote aus ganz Deutschland eingegangen, sechs davon aus Hamburg. Vergabe und Reihenfolge des Zugriffs waren per Los entschieden worden. Dabei hatte die Stadt einige Bedingungen an die Grundstücksvergabe geknüpft: Die Tiny Houses, der Begriff ist nicht geschützt, dürfen nicht größer als 50 Quadratmeter und nicht höher als 4,50 sein. Sie müssen baugenehmigungsfähig sein, das heißt etwa beim Wärmeschutz die gleichen Bedingungen erfüllen wie ein Haus mit 250 Quadratmetern. Autos sind in der Siedlung verboten. Festgeschrieben ist auch, dass die Eigentümer ihre Kleinstimmobilien mindestens fünf Jahre lang selbst bewohnen müssen.

Tiny-Haus-Kosten: Käuferin zahlt knapp 100.000 Euro für Traum vom eigenen Haus

Corinna Voß hat 220 Euro für jeden ihrer 272 Quadratmeter Land bezahlt – insgesamt knapp 60.000 Euro plus Nebenkosten. Auch ihre Traumimmobilie, ein Minihaus des Herstellers Timo Haus in Münster, hat sie praktisch schon bestellt. „Auf 48 Quadratmetern habe ich alles, was ich brauche“, sagt sie. Dazu gehören Einbauschränke, Regale, ein perfekt ausgestattetes Badezimmer und einen zu einem zweiten Schlafzimmer umgebauten Haushaltsraum für ihre Tochter. Kostenpunkt: knapp 100.000 Euro. „Das ist nicht wenig, aber dafür bekomme ich sonst kein Haus nach meinen Vorstellungen“, sagt die Bauherrin, die in einer Klinik in Hannover auf der Intensivstation arbeitet.

Noch hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es klappt mit dem Leben im Tiny House. Ein Architekt habe ihr Hoffnung auf eine Lösung gemacht, sagt Corinna Voß. Schließlich sei der Fehler bei der Änderung des Baugesetzes passiert – also an allerhöchster Stelle. Auch in einer WhatsApp-Gruppe, in der sich die Celler Tiny-House-Bauer austauschen, sei die Stimmung weiter zuversichtlich. Allerdings erfuhr sie darüber auch, dass noch eine weitere Klage gegen die Siedlung anhängig ist. Ein Nachbar hatte sie eingereicht. Die Auswirkungen sind unklar. Auf eine Anfrage dazu vertröstete eine Stadtsprecherin das Abendblatt auf einen späteren Zeitpunkt.

Immobilien: Stadt Celle bietet Fristverlängerung für Tiny-House-Bauer an

Zumindest wird alles also deutlich länger dauern als geplant. Das Bauamt hat vorsorglich schon angekündigt: „Sollten durch die aktuelle Situation eintretende Verzögerungen die Einhaltung der Frist zur Erfüllung der Bauverpflichtung beeinträchtigen, wird die Stadt Celle Sie zu gegebener Zeit natürlich mit entsprechenden Fristverlängerungen unterstützen.“ Immerhin. Im schlimmsten Fall müssten alle Grundstücksverkäufe rückabgewickelt werden und die Aufstellung des Bebauungsplans neu starten. In der Regel ein jahrelanges Verfahren.

Und ein Schreckensszenario für Corinna Voß. Bei ihr drängt die Zeit. „Ich muss ja irgendwo wohnen“, sagt sie. Erst mal zieht sie jetzt in das Ferienhaus eines Bekannten. Eine Übergangslösung. Inzwischen bedrückt sie noch etwas anderes. „Wenn sich jetzt alles verzögert, ist nicht auszuschließen, dass der Preis für mein Tiny House steigt.“ Ob sie sich das dann überhaupt noch leisten kann? Corinna Voß zuckt die Achseln.