Hamburg. Eltern beklagen Rauswurf. Veranstalter wehrt sich: Laute Äußerungen hätten Aufführung „gesprengt“. Jetzt tobt ein Shitstorm.
Arnold Schnittger hat mit seinem behinderten Sohn Nico schon viele Situationen gemeistert. „Dass wir aus einem Theater geworfen wurden, ist aber noch nie passiert“, sagt der 72-Jährige aus Wandsbek. Am Sonntag sei aber genau das bei der Vorstellung des Weihnachtsmusicals „Die Schneekönigin“ des dance & more Tanz- und Theaterensemble e. V. geschehen.
„Wir sind im Volkshaus Berne in der Pause aufgefordert worden, zu gehen“, sagt Schnittger. Der Veranstalter widerspricht vehement.
Hamburg: Behinderter Nico muss Weihnachtsmusical verlassen – er war zu laut
Es habe schon hakelig begonnen, sagt Arnold Schnittger. Er habe Karten für die ganze Familie gekauft, auch Nicos Mutter war mit von der Partie. „Als wir ankamen, sagte man uns, wir hätten anmelden müssen, dass wir einen Rollstuhl dabeihaben“, sagt Schnittger. Schließlich seien sie durch den Seiteneingang in den Saal gekommen. Nico habe auf einem normalen Stuhl Platz genommen, denn er könne nicht laufen, aber ein paar Schritte gehen.
Sein Sohn, der an einer Zerebralparese – also einer Fehlbildung des Gehirns und daraus resultierenden Spastiken – leide, sei sehr aufgeregt gewesen, das sei immer so bei Theaterbesuchen. Der 29-Jährige habe sich sehr auf die Aufführung gefreut. „Er lacht auch immer viel, wenn es Situationskomik auf der Bühne gibt.“ Es sei ja ein Stück für Kinder gewesen und sein Sohn sei wegen der geistigen Behinderung wie ein großer Junge.
Behinderter Nico habe Aufführung „mit großer Freude“ verfolgt
Er habe auch am Sonntag viel gelacht. Das Stück sei mit viel Liebe und temperamentvoll aufgeführt worden, „entsprechend folgte Nico der Aufführung mit großer Freude. Leider teilten nicht alle seine Freude“, sagt Schnittger.
„Denn in der Pause kam dann ein fünfköpfiges Gremium des Vereins und beschwerte sich. Auch andere Eltern hätten sich beklagt und die hätten schließlich alle 19 Euro Eintritt gezahlt, sagte man uns. Sie hatten schon das Eintrittsgeld in der Hand, um es uns zurückzugeben. Das haben wir in der Form noch nie erlebt.“ Nico habe das alles nicht verstanden und lautstark protestiert.
Kindermusical in Hamburg: Bei Christian Berg war die Familie häufig
Schnittger erzählt diese Geschichte sehr ruhig, er wirkt nicht aufgebracht, aber er sei maßlos enttäuscht, sagt er im Gespräch mit dem Abendblatt. „Ich hätte mir gewünscht, dass jemand aufsteht und sagt, so geht man nicht mit Behinderten um.“
Auch Eltern von gesunden Kindern könnten schließlich durch einen Unfall oder andere Umstände plötzlich mit einer Behinderung ihres Kindes konfrontiert werden. Er wünsche sich mehr Verständnis, damit Inklusion nicht nur ein Wort sei, sondern Behinderte in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert würden.
Sie seien schon mehrfach mit Nico im Kindertheater gewesen: „Wir waren oft bei Christian Berg, der ja leider gestorben ist, da saßen wir häufig in der ersten Reihe. Da kannte man uns schon.“ Die Darsteller hätten oft zum Ende der Vorstellung noch Kusshände in ihre Richtung geschickt.
Weihnachtsaufführung in Hamburg-Wandsbek: 98 Darsteller haben monatelang geprobt
Vereinschef Thomas Leverenz stellt die Geschichte anders dar. Die Familie von Nico habe Plätze gebucht, die aus Sicherheitsgründen für einen Rollstuhlfahrer nicht geeignet waren: „Nach 29 Jahren mit einem behinderten Kind organisiert man das als verantwortungsvoller Vater und bucht nicht blauäugig“, findet Leverenz. Man habe dieses Problem aber lösen können.
„Was wir nicht wussten, ist, dass der Sohn auch eine geistige Einschränkung hat und sich nicht so kontrollieren kann. Wir hätten es wissen müssen, dann hätten wir die kleinen Darsteller darauf vorbereiten können.“
Durch die lauten Ausbrüche von Nico seien die 98 Darsteller aus drei Generationen, die monatelang geprobt hätten, irritiert gewesen. Die jüngeren Laiendarsteller, darunter Vierjährige, hätten sich nur noch auf Nicos Äußerungen konzentriert und seien völlig aus dem Konzept gebracht worden, sagt der Vereinsvorsitzende.
Facebook-Post: Hamburger Vater beklagt Unterstützung von anderen Eltern
Deshalb seien in der Pause Vereinsmitglieder auf die Familie zugegangen und hätten ihnen gesagt, dass das sehr störend sei. Leverenz wirft Nicos Eltern vor, dass sie dem Verein als Veranstalter nicht die Möglichkeit gegeben hätten, sich darauf einzustellen und möglicherweise zu einem anderen Termin zu kommen und nicht zur Premiere mit 300 Zuschauern. In früheren Jahren habe man immer wieder schwerstbehinderte Kinder in den Vorstellungen gehabt.
Schnittger, der sich und seinen Sohn ausgegrenzt sieht, hat seine Version der Geschichte vom Sonntag auf Facebook veröffentlicht. Durch den Saalverweis sei die Ausgrenzung für alle noch offensichtlicher geworden, schreibt er.
„Die Idee ,das können wir so nicht machen‘ kam anscheinend niemandem, erbärmlich, oder es hat sich keiner getraut zu widersprechen. Zivilcourage, Einsetzen für behinderte Menschen – Fehlanzeige unter den beteiligten Eltern von nicht behinderten Kindern“, steht in dem Facebook-Post. „So schnell hat noch nie Teilhabe ein Ende gefunden. Was mag in den Köpfen der Kinder vorgegangen sein, als sie sahen, wie ein behinderter Junge durch den Notausgang aus dem Saal geführt wurde?“
Hamburger Vater postet Geschichte bei Facebook – Hunderte Reaktionen
Auf Facebook erhielt er Hunderte Reaktionen auf seinen Post. „Das ist nicht wahr, darf nicht wahr sein... Wenn ich das richtig gelesen habe, war das eine Kinderaufführung, nicht das Staatsballett... Schade, schwach, traurig“, schreibt ein Jan. Petra schreibt: „Ich schwanke zwischen Wut, Entsetzen und Trauer, während mir die Tränen laufen.
Und Annette äußert sich so: „Wir hatten auch ähnliche Erlebnisse, deshalb weiß ich um diesen enormen Schmerz, der auch nicht gelindert werden kann.“
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Die Kommentare zeigen mehrheitlich Verständnis für den Kummer von Nicos Familie. Eine Userin schreibt dagegen: „Haben andere Eltern und besonders die Kinder kein Recht mehr, eine Weihnachtsaufführung zu verstehen? Wie ist denn Ihre Meinung dazu? Haben alle anderen das auszuhalten?“
Hamburger Veranstalter spricht von „Scherbenhaufen“ und „Falschbehauptung“
Thomas Leverenz und der Verein bekommen seit Sonntag viele Mails „von Menschen in völliger Unkenntnis der Situation, und üble Beleidigungen“, wie er sagt. „Wir haben die Familie die ganze Halbzeit dagelassen, das mussten alle durchhalten. Aber so eine Veranstaltung kann nicht gesprengt werden. Wir alle haben monatelang darauf hingearbeitet.“
Man könne nicht in ein Theaterstück eintauchen, wenn dauernd Störungen kämen, so Leverenz. Jetzt stehe ich vor einem Scherbenhaufen, weil jemand behauptet, er sei rausgeflogen. Das ist eine Falschbehauptung.“
Es sei in der Pause lediglich darum gegangen, wie man die Situation gelöst bekomme. „Ich habe mich mit der Situation auch schwergetan. Aber sie wurde uns aus der Hand genommen, weil die Familie sofort den Saal verlassen hat.“