Als bekannt wurde, dass an seinem Wohnort in Poppenbüttel eine Unterkunft gebaut werden soll, begann Jan Melzer ein Tagebuch zu schreiben.

Tag 39 – Poppenbüttel hilft

Ich bin mit einer ungeheuren Energie aufgewacht! Wer mich kennt, weiß, dass ich ein ziemlicher Morgenmuffel bin, früh aufstehen ist für mich die Hölle. Umso verwunderter bin ich über die Spannkraft, mit der ich aus dem Bett gefedert bin. Und das hat einen Grund:

Gestern Abend war die erste Versammlung von „Poppenbüttel hilft“. Diese Initiative von Bürgern aus der Mitte unseres Stadtteils hatte zu einem ersten Treffen geladen und über zweihundert Menschen kamen und staunten: Was? Wir sind so viele? So viele, die bereit sind, sich ehrenamtlich in, um und für das Flüchtlingsheim zu engagieren? Etwas von ihrer Zeit zu verschenken? Meine Frau und ich sind echt gerührt und begeistert. Hier sind lauter gestandene Leute, mit beiden Beinen im Leben, keine Schwärmer, niemand, den Böswillige als „Gutmenschen“ bezeichnen würden. Das Einzige, was man monieren könnte, wäre der Altersschnitt, kaum einer ist unter 50, aber, hey, wir sind hier in Poppenbüttel, und diese geballte Ladung an Kompetenz und Lebenserfahrung sehe ich eher als Vorteil. Natürlich müssen wir ein bisschen lachen, als dann die Vertreterin der Initiative aus Barmbek ihre Gastrede hält: eine sehr kluge, eloquente, schöne und vor allem junge Frau aus einem jungen Stadtteil. Seufz, ja wir haben da auch einmal gelebt. Was soll’s, ich liebe dieses Poppenbüttel mit seinen erfahrenen Menschen und seit gestern umso mehr.

Ich habe den Eindruck: Hier haben sich über zweihundert Menschen eingefunden, die wissen, wie Zivilisation geht. Jeder lässt jeden ausreden, und es herrscht die ganze Zeit eine unglaublich disziplinierte Ruhe im Saal, ein großer Frieden. Die Arbeitsgruppen organisieren sich wie von selbst. Sehr sortierte Gehirne berichten knapp und kurz von ihrem ersten Brainstorming. Mir klappt der Unterkiefer runter, denn ich kenne das System von Arbeitsgruppen noch aus unseliger Erinnerung: Ich habe Pädagogik studiert (Dieses Gelaber!)! Aber hier: alles intelligent, fundiert und geordnet. Toll.

Und auch das ist Poppenbüttel: Ärzte sitzen in der Medizingruppe, Juristen gucken sich die Rechtsberatung an, Programmierer machen IT, kurz, das hohe Ausbildungsniveau unseres Stadtteils kommt hier natürlich voll zur Blüte. Es ist unfassbar, wie hochkarätig die Arbeitsgruppen besetzt sind.

Und keine Sorge: auch Nichtspezialisten wie ich finden einen Platz. Denn jeder wird gebraucht und hat mindestens eines: Lebenskompetenz.

Ein Detail zeigt die hohe Qualität dieser Veranstaltung: Die geplante Zeit wurde nur um acht (!) Minuten überzogen. Wer schon mal auf einem Elternabend war, versteht meine Begeisterung.

Federnden Fußes gehen meine Frau und ich nach Hause. Ich kann jedem nur empfehlen: Macht mit bei den Initiativen in eurem Stadtteil! Gerade, WENN ihr Angst habt! Ich kann nur immer wieder betonen: Auch ich finde es unschön, dass auf unserem Nachbargrundstück ein Flüchtlingsheim entsteht, ich fürchte mich auch ein bisschen vor der Zukunft. Aber dieses Treffen gestern Abend hat mir so viel Kraft gegeben und Mut für eben diese Zukunft gemacht, dass ich tatsächlich glücklich bin. Denn Angst macht unglücklich, zornig. Behalten wir das Heft des Handelns in der Hand. Kommen wir aus der ohnmächtigen Opferrolle heraus. Wenn du dastehst mit zweihundert tatkräftigen Menschen und dein Stadtteil plötzlich zu einem netten Dorf wird, wo jeder jeden kennt, dann kriegst du das Gefühl, das Merkel so schön zusammengefasst hat: Wir schaffen das!

Tag 40 – Der Onkel

Familientreffen im Ferienhaus am See. Kaffee, Kuchen, Spanferkel. Natürlich wird auch hier über meine Tagebücher gesprochen, das Thema ist nun mal allgegenwärtig. Alle sind begeistert, was sollen sie auch anderes sagen, sind ja Familie. Nur ein Onkel traut sich aus der Deckung: Auch er würde meine Tagebücher mit Begeisterung lesen, aber er hätte da mal eine Kritik: Warum um alles in der Welt würde ich immer von der Professorenfamilie, den Ärzten, Physikern, Ingenieure und sonstigen Elitepartnern aus Syrien reden?

Hat der normale Arbeiter kein Recht auf Asyl? Ist ein Akademiker mehr wert als ein Schuster?

Auweia, jetzt hat er mich erwischt, der Onkel … Ich, der Apothekersohn aus Poppenbüttel, habe es mir in meinem Standesdünkel gemütlich gemacht. Geht gar nicht.

Lieber Onkel, ich leiste hier als ehemaliger Billstedter Abbitte: Jeder hat ein Recht auf Asyl, unabhängig von Person und Herkunft. Auf die Verfolgung kommt es an. Ich hatte natürlich für meine Bildungsbürger in Poppenbüttel darauf gesetzt, dass eine höhere Bildung einen höheren Zivilisationsgrad automatisch erzeugt. Aber das ist natürlich Blödsinn. Es gibt so viele hochanständige Arbeiter und auch Ungelernte und dagegen hochgebildete A...löcher. Dennoch glaube ich schon an den zivilisierenden Charakter von Bildung, die oft – nicht zwingend, aber oft – mit Herzensbildung einhergeht, was man beim Treffen von „Poppenbüttel hilft“ gut sehen konnte. Und von daher ist es Angst dämpfend, wenn man sich klarmacht, dass es eher die aktiven, ausgebildeten Menschen sind, die aus einem Krisenland fliehen, als die trägen Nichtskönner, und dass daher die Chance, dass diese Menschen uns in Deutschland bereichern, relativ groß ist. Das wollte ich mit der Professorenfamilie aus Syrien sagen. Ich hätte auch Tischlerfamilie sagen können. Ich bin dem Onkel für diesen Hinweis sehr dankbar, denn es zeigt, in was für vorgezeichneten Bahnen wir denken.

Tag 41 – Heidenau Berichterstattung

Wir hören zu Hause nur NDR-Info, weil wir diese zu fröhlichen Moderatoren und zu lieblose Musikauswahl der Format­radios nur schwer aushalten können. Als die Krawalle in Heidenau gemeldet werden, stößt mir zum wiederholten Male eine Formulierung auf: „mutmaßliche Rechtsradikale haben vor dem Flüchtlingsheim randaliert, es gab 300 linke Gegendemonstranten“. Ich will einfach nur mal fragen, weil es, vor allem in Ostdeutschland, bei der Berichterstattung immer wieder vorkommt: Warum sind Rechte immer „mutmaßlich“ und linke immer direkt „links“?

Als der Hamburger Vietnamese von Rechten in Ostdeutschland verprügelt wurde, ging die Polizei sogar „nicht von einer rassistisch motivierten Straftat aus“. Was denn sonst?! Dabei möchte ich betonen, dass ich keinerlei Sympathien für Links-Autonome habe, die Molotowcocktails auf Polizisten werfen und damit das Leben der Beamten riskieren! So etwas muss auf das Härteste sanktioniert werden. Ich möchte nur Fairness in der Berichterstattung. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, und ich würde mich freuen, wenn das aufhört. Das wollte ich schon seit Jahren mal loswerden.

Tag 42 – Die Autobahn

Auto fahren in Hamburg ist derzeit nicht vergnügungssteuerpflichtig. Jahrelang hatte die Politik ihre Haushalte auf Kosten der Infrastruktur niedrig gehalten, und nun hat man das Gefühl, dass in Hamburg alle Straßen gleich­zeitig saniert werden müssen. Dazu kommen einige gute neue Ideen wie die Fahrradstreifen und die Überdeckelung der Autobahn 7. Wenn man wie wir mit LaLeLu für Touren in Schleswig-Holstein das Vergnügen hat, über die Autobahn 7 fahren zu müssen, bekommt man im Stau stehend manch ausgedehnte Gelegenheit zum Grübeln. Ich denke über die direkten Nachbarn des Deckels nach, die von der Stadt Entschädigung für ihr Haus bekommen haben, wenn sie wegziehen.

Der Deckelbau soll fünf Jahre dauern, das sind fünf Jahre extremer Dreck und Lärm, da kann man den Flucht­reflex verstehen. Andererseits: Die Leute kriegen doch danach einen Park direkt vor die Tür, kann man da nicht fünf Jahre einfach mal durchhalten? Mal abgesehen davon, was die Immobilie nach Fertigstellung des Deckels mit direkter Grünfläche wert sein wird. Aber gut: Ich wohne ja nicht da, man steckt da nicht drin (wie der Hamburger sagt).

Und damit komme ich zu unserem Flüchtlingsheim: Wir haben auch fünf Jahre lang eine Belastung, nämlich eine Containersiedlung direkt nebenan. Mit dem Unterschied, dass danach nicht eine Grünfläche folgt, sondern die Grünfläche endgültig durch Festbauten verschwunden sein wird. Mmh … Bei uns kriegt niemand eine Entschädigung dafür. Noch mal mmh …

Ich spreche hier wirklich nicht für mich, denn wir wohnen in dritter Reihe, aber was ist mit den Leuten, die in erster Reihe wohnen, direkt neben dem Heim? Was ist mit dem Mann aus Ohlstedt, der zehn Meter neben den Zelten wohnt? Im Grundgesetz ist Enteignung wegen des Missbrauchs im Dritten Reich sehr eingeschränkt worden und nur mit Entschädigung möglich. Daher das Geld für die Autobahn-Anrainer. Aber sollten wir nicht einmal darüber reden, ob die Leute bei uns in der ersten Reihe, deren Immobilien eventuell stark an Wert verlieren, nicht ein wenig für diese Teilenteignung entschädigt werden? Wenigstens ein bisschen, um guten Willen zu zeigen und deren Leistung anzuerkennen, wenn sie diese Veränderung erdulden.

Ich weiß, der Vergleich von Autobahnen mit Flüchtlingen ist zynisch! Ich bitte allerdings jeden, der nicht zehn, zwanzig Meter entfernt wohnt, sich für einen kurzen Moment eine Containersiedlung direkt vor seinem Wohnzimmerfenster vorzustellen.

Tag 43 – Informationsveranstaltung, die zweite

Oh je … selten habe ich so einen mulmigen Tag verbracht wie heute. Nachdem mir von der ersten, völlig überfüllten Info-Veranstaltung des Bezirks zu unserer Folgeeinrichtung nur Horror-brichte von pöbelnden Massen von rechts und links zugetragen worden waren, fürchte ich mich schon seit Tagen vor diesem Nachholtreffen, diesmal besser organisiert in der viel größeren Dreifelderhalle am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium. Ich wälze Ideen zur Deeskalation wie große Plakate mit den Wörtern „Besonnenheit“, „Fairness“ und „Zivilisation“, ich erwog sogar eine Zeit lang ernsthaft, mir im Internet ein Hasenkostüm zu organisieren, mit dem ich im Falle einer Saalschlägerei durch die Halle gehüpft wäre, um die Kämpfer abzulenken. Paradoxe Intervention nennt man das … Zum Glück für meine Würde verwerfe ich das.

Aber es kommt ganz anders: Alles verläuft zivilisiert, besonnen und fair, und ich freue mich sehr, dass Poppenbüttel eine gute Diskussionskultur für dieses schwierige Thema an den Tag legt. Das ist mein Stadtteil. Liebe Nachbarn, ich bin stolz auf uns!

Dabei wird hier nicht mit Wattebäuschchen geworfen, sondern durchaus kontrovers gestritten. Nur eben zivilisiert. So soll es sein.

Inhaltlich bleibt dieses Treffen leider unbefriedigend, was viel mit der sphinxhaften Undurchschaubarkeit des Bezirks zu tun hat. Der Bezirksamtsleiter weigert sich, Stellung zu den Festbauten, die den Containern nachfolgen sollen und zu der endgültigen Zahl an Bewohnern zu beziehen. Ich unterstelle mal keine Bösartigkeit, sondern schlichte Überforderung, denn niemand kann die Flüchtlingsströme der Zukunft voraussehen, aber ein Bekenntnis zu dieser Überforderung hätte der Ehrlichkeit gutgetan. Stattdessen versteckt er sich hinter Formalitäten. Mir fehlt die Transparenz.

Warum wird nicht offen gesagt, dass die Festbauten ein Teil einer politischen Strategie sind, die Stadtteile Hamburgs sozial stärker zu durchmischen und dass das Flüchtlingsheim nur eine Etappe auf dem Weg dahin ist? Es ist nie gut, die Bürger für nicht belastbar zu halten und sie deswegen nur lückenhaft zu informieren. Das schafft Misstrauen. Und dieses Misstrauen habe ich auch nach Ende der Veranstaltung noch stark in der Menge gespürt.

Allerdings sind die Bürger zum Teil auch nicht besser: Ein Abitursanwärter hat es schön auf den Punkt gebracht: „Wie kann es sein, dass Leute, die dicke Autos fahren und jeden Tag Fleisch essen, plötzlich ihre Naturliebe entdecken, wenn es um einen Acker geht, auf dem ein Flüchtlingsheim gebaut wird?“ Mich stört sein polemischer Tonfall, der ist nicht hilfreich, aber im Grunde hat er recht. „ Wird die Buslinie aufgestockt, damit die Flüchtlinge nicht nachts im Dunkeln durch den Stadtteil müssen?“, fragt ein anderer, der sich doch wohl nicht ernsthaft Sorgen um die Sicherheit der Flüchtlinge macht. Oder ist Poppenbüttel bekannt für raubende Rentnerbanden, die des Nachts über reiche Maximalpigmentierte herfallen? Mal ehrlich!

Auch hier fordere ich mehr Aufrichtigkeit! Leute, versucht doch nicht, uns für dumm zu verkaufen, wir kriegen das doch alle mit. Es macht nur schlechte Stimmung. Lasst es sein.

Ich versuche es hier noch einmal mit Klarheit: Ich empfinde ein Flüchtlingsheim auf meinem Nachbargrundstück als ausgesprochenen Mist, es verändert mein Wohnumfeld und mindert möglicherweise den Wert meines Eigentums. Dazu finde ich es sehr unangenehm, dass die Stadt par ordre du mufti einfach in mein Leben eingreifen kann. Diese Ohnmacht ist ätzend und macht mich wütend. Ich habe Angst vor kriminellen Einwanderern und vor möglichen Nazi-Attentaten in meiner Nachbarschaft. Und ich habe Sorge, dass das Klima in meinem Stadtteil nachhaltig beschädigt wird.

So, das war gar nicht so schwer. Versucht es auch einmal. Aufrichtigkeit, auch zu sich selbst, ist sehr befreiend.

Ich muss allerdings mit der Be­merkung schließen: Ich habe für mich trotz meiner Sorgen entschieden, dass ich die Flüchtlinge annehme und mich aktiv für und in dem Heim engagiere. Denn diese Menschen brauchen unsere Hilfe und meine Stadt sowie meine Solidarität.

Ich kann nicht alles Elend Billbrook zumuten. Ich versuche einfach, dankbar zu sein, dass die günstigen Winde des Lebens mich ins reiche Poppenbüttel geweht haben.

Lesen Sie hier die weiteren Teile:

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6