In nur sieben Jahren zum Abitur: Ein Besuch bei Schülern einer Springerklasse im Gymnasium Grootmoor. Das Fördern der Begabten soll den allgemeinen Leistungsschnitt in der Klasse heben.

Hannah Schulze mag Sprachen. Englisch und Latein hat die 17-Jährige in der Schule gelernt. Gerne hätte sie auch Spanisch gemacht. „Doch bei dem Pensum habe ich mir nicht zugetraut, noch eine dritte Fremdsprache zu lernen“, sagt das junge Mädchen. Hannah zählt zu den wenigen Schülern, die ihr Abitur weder nach neun noch nach acht Jahren ablegen, sondern bereits nach sieben – und die damit zu der aktuellen Debatte über die Länge der Schulzeit bis zur Reifeprüfung einen interessanten Aspekt liefern. Möglich macht dies ein Begabtenkonzept namens Springerklassen, welches das Gymnasium Grootmoor als einzige Schule in Hamburg anbietet. „Das ist sinnvoll“, sagt der Pädagogik-Professor Thomas Trautmann. „Fördern wir die Begabten, fördern wir alle – und umgekehrt.“ Die Regel sei das jedoch nicht. „Stattdessen lässt Deutschland sein geistiges Potenzial brachliegen“, kritisiert Trautmann.

Der Senat hat das Problem erkannt und initiierte einen Schulversuch zur Stärkung der Begabtenförderung. Dabei erprobten sieben Gymnasien von 2001 bis 2005 die Springerklassen. Die Springer selbst, also die Schüler, und auch die Schulen befürworteten das Konzept, heißt es aus der Beratungsstelle besondere Begabungen des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Nur waren die Auswahlkriterien für die Springerklassen sehr leistungsorientiert, weshalb viele Begabte gar nicht empfohlen wurden. Und vor dem Hintergrund des verkürzten Abiturs stellten die Gymnasien die Springerklassen wieder ein – außer Hamburgs größtes, das Gymnasium Grootmoor im Stadtteil Bramfeld.

Hannah Schulze erhielt nach der fünften Klasse eine Empfehlung der Lehrer und wurde mit den anderen Hochbegabten ihres Jahrgangs in einer Klasse zusammengefasst. Das sind alljährlich fünf Prozent der Gymnasiasten am Grootmoor. Aktuell sind von den insgesamt 1281 Schülern 64 in einer Springerklasse. Diese Schüler überspringen die achte Klasse und werden in der Oberstufe in das Kurssystem des höheren Jahrgangs integriert. „Hannah wurde damals ausgesucht, weil sie in der Grundschule gut war“, sagt ihre Mutter Inke Schulze. Ihre älteste Tochter besitze nicht diese eine herausstechende Begabung. „Aber Hannah lernt sehr schnell, auch auswendig, und ist sehr fleißig“, sagt die 45-Jährige.

Die Springerklassen richten sich an hochbegabte und besonders begabte Schüler, die aufgrund ihrer kognitiven Voraussetzungen beim Lernen andere Bedürfnisse haben als normal begabte. „Die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen ist bei besonders begabten Kindern und Jugendlichen deutlich höher, sodass Unterrichtsinhalte schneller durchgenommen werden können und weniger häufig wiederholt werden müssen“, sagt die Koordinatorin Förderkonzepte am Grootmoor, Dagmar Wegner. Bezüglich der Denkprozesse sei nachweisbar, dass bestimmte Gehirnareale bei Hochbegabten erst dann aktiviert werden, wenn anspruchsvolle Aufgaben anstehen. „Man kann den Schwerpunkt im Unterricht deutlich in Richtung von Transferleistungen verschieben und dabei auch den höheren Grad an Selbstständigkeit der besonders begabten Schüler nutzen, um ihnen individualisiert ein Lernumfeld zu bieten, in dem sie ihr Potenzial entfalten können“, sagt Wegner. Das Ergebnis: Knapp 70 Prozent der Springer schließen ihr Abitur mit einer Durchschnittsnote von unter 2,0 ab.

Gleichwohl wirkt sich das Konzept auf die Regelklassen aus. Dort bilden sich nach dem Weggang der Springer „neue Spitzen“ heraus, wie es das Gymnasium Grootmoor ausdrückt. Von den kleiner werdenden Klassen profitieren zudem alle.

Mit der derzeitigen Debatte um G8/G9 in Hamburg, betont Wegner, „haben Springerklassen nichts zu tun, auch wenn unsere Springer faktisch nach sieben Jahren Abitur machen“. Es sei zwar richtig, dass besonders begabte Schüler von einer Akzeleration des Lernstoffes profitieren, denn sie können ein Schuljahr einsparen. „Daraus lassen sich jedoch keinerlei Rückschlüsse ziehen über die Sinnhaftigkeit einer geänderten Stundenverteilung, um eine vermeintliche Belastungssituation von normal begabten Schülern zu entzerren“, sagt Wegner. Eine Begabtenförderung wie die Springerklasse könne weder als Argument für noch gegen G8 oder G9 missbraucht werden. „Für diese Debatte muss das Gesamtsystem der weiterführenden Schulen in Hamburg in den Blick genommen werden, also Gymnasien und Stadtteilschulen“, sagt Wegner.

Familie Schulze hat sich bei Hannah aus sozialen Gründen für das Springermodell entschieden: „Sie wollte das unbedingt machen, weil ihre besten Freundinnen in die Springerklasse gegangen sind und sie mit ihnen zusammenbleiben wollte“, erklärt Inke Schulze. Die Mutter von vier Kindern kann sich bis heute kaum damit anfreunden, dass ihre Älteste bereits mit 17 Jahren Abitur macht. „Ich sehe den Gewinn nicht“, sagt sie. „Viele wissen mit 18 noch nicht, was sie machen wollen, und die Springer sollen das schon mit 17 entscheiden?“ Auch habe diese Schulform Hannah oft davon abgehalten, mehr auszuprobieren – so wie Annika.

Annika ist Hannahs drei Jahre jüngere Schwester. Auch sie ist am Gymnasium Grootmoor, allerdings in einer Regelklasse. Und sie macht das, was Hannah auch wollte: Annika lernt Englisch, Latein – und Spanisch. „Ich bin froh, dass ich kein Springer bin“, sagt die 14-Jährige. Ihr fällt auf, dass es in den zusammengewürfelten Springerklassen nicht diesen Zusammenhalt gibt wie in den normalen Klassen. Auch seien die Springer „die Guten, die Schlauen“, die „immer mehr machen“ und „immer ein bisschen außen vor sind“.

Paul Jennerjahn kennt dieses Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Er hat 2011 als Springer sein Abitur am Grootmoor gemacht. „In der Mittelstufe fand ich es schwer, bei den Nicht-Springern Kontakte zu knüpfen. Ich dachte immer, ich habe so ein Prädikat ‚Springer‘, gelte als Streber“, blickt der heute 20-jährige Lehramtsstudent zurück. Er habe sich unterlegen und weniger beliebt gefühlt, was sich erst in der Oberstufe gebessert habe.

Hannah ging es ähnlich. Auch sie fühlte sich „irgendwie zwischen den Jahrgängen“, konnte sich in keinen wirklich integrieren. Auf ihre schulischen Leistungen hat sich das nicht ausgewirkt. Probleme hatte sie nur in Mathe, wo sich das schnellere Lerntempo negativ bemerkbar machte. „Wenn ich den Stoff nicht sofort verinnerlicht hatte, wurde ich dennoch mitgezogen. Da fehlte mir das nochmalige Erklären“, beschreibt die 17-Jährige, die ihr Abitur in diesen Tagen in den Fächern Politik-Gesellschaft-Wirtschaft (PGW), Latein und Mathe sowie in Geografie ablegt.

Auch Merle Bitter hat ihre Springerzeit als „nicht besonders stressig und anstrengend empfunden. Ich hatte einfach Lust, etwas zu lernen“, sagt die 16-Jährige. Wie bei Hannah waren es ihre Leistungen insgesamt, die den Ausschlag für eine Empfehlung gaben. Eine Entscheidung, die Familie Bitter nicht bereut hat: „Ich würde Merle immer wieder in die Springerklasse gehen lassen. Sie ist durch die Schulzeit spaziert, obwohl sie durch ihren Sport extrem wenig Zeit dafür hatte“, sagt ihre Mutter Claudia.

Merle spielt seit 2008 Basketball, erst in der Nachwuchsbundesliga, zuletzt in der 2. Regionalliga Nord. „Und Basketball ist auch meine Fahrkarte in die USA“, sagt die 16-Jährige, die nach dem Abitur noch im Sommer mit einem Sportstipendium an ein College geht. „Erst einmal für ein Jahr“, sagt sie. Basketball zu spielen und dabei Fächer wie Psychologie zu studieren, sei ein guter Weg, um herauszufinden, was sie später tatsächlich einmal machen wolle.

Laut der Beratungsstelle besondere Begabungen werden alle Lehrkräfte in Hamburg täglich mit Kindern wie Hannah, Merle und Paul konfrontiert. So gibt es unter den 187.000 Mädchen und Jungen an den allgemeinbildenden Schulen der Stadt etwa 9000 besonders begabte. „Diese Gruppe dürfen wir nicht übersehen“, sagt Pädagogik-Professor Trautmann. Er ist ein Anhänger der Springerklassen, die es auch in Berlin gibt, wo sie Schnelllernerklassen heißen. „Mit diesen Konzepten gelingt es, die Lust am Wissenserwerb bei Schülern zu erhalten“, erklärt Trautmann, der an der Universität Hamburg lehrt.

Doch während Länder wie die USA, die Schweiz und Großbritannien ihre hochbegabten Kinder gezielt fördern, gibt es diese Tradition hierzulande nicht. „Wir gehen mit unseren geistigen Ressourcen fahrlässig um“, warnt Trautmann. Und: „Bei uns ist Schule noch nicht die begabungsfördernde Einrichtung, die sie sein könnte.“ Die Folge: „Wir hinken im Weltmaßstab deutlich hinterher.“ Als Grund nennt Trautmann die überholte, aber sich hartnäckig haltende Meinung, dass Begabung etwas mit Eliten zu tun hat. Dabei fängt Begabtenförderung bereits dort an, wo „professioneller Unterricht gemacht wird und alle Schüler wertgeschätzt werden“, sagt der Wissenschaftler. Die Angebote müssten folglich vielfältig sein und möglichst viele erreichen.

Es gibt durchaus deutsche Schulen, an denen Hochbegabte explizit gefördert werden – zum Beispiel die staatlichen Landesgymnasien Schwäbisch Gmünd in Baden-Württemberg und Sankt Afra in Sachsen. Eine Privatschule mit Schwerpunkt Hochbegabtenförderung ist die Brecht-Schule in Hamburg, weitere gibt es in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. „Schon jetzt bietet Hamburg zahlreiche Förderungsangebote für begabte und hochbegabte Schüler an“, sagt Schulsenator Ties Rabe (SPD), der zu Beginn des Jahres ein Aktionsprogramm zur Begabtenförderung vorstellte. Zu oft jedoch seien die verschiedenen Möglichkeiten in den Schulen nicht ausreichend bekannt.

Um das zu ändern beschloss der Schulausschuss der Bürgerschaft jüngst, dass künftig an jeder Schule eine Funktionsstelle Begabtenförderung eingerichtet wird. Auch sollen entsprechende Konzepte an allen weiterführenden Schulen entwickelt und in der Lehrerausbildung ein verpflichtender Bestandteil zur Hochbegabung eingeführt werden.

„Das Konzept an sich, die richtig guten Schüler in einer Springerklasse zu versammeln und zu fördern, ist richtig – besonders für jene Kinder, die spezielle Begabungen etwa in Mathe haben“, sagt Inke Schulze. „Aber es sind vielleicht diese verpassten Chancen, die einem als Springer in die Quere kommen können, weil man ein Jahr weniger zur Schule geht als die anderen“, sagt die vierfache Mutter. Das hätten die unterschiedlichen Wege von Hannah und Annika gezeigt. Bei ihren jüngsten Kindern, den zehnjährigen Zwillingen Julika und Max, steht die Entscheidung – Springerklasse ja oder nein – noch aus. „Momentan tendieren mein Mann und ich zum Nein“, betont die 45-Jährige.

Hannah empfindet es nicht als Gewinn, das Abitur bereits mit 17 in der Tasche zu haben. „Da ich noch nicht weiß, was ich studieren möchte, nützt es mir auch nichts, dass ich ein Jahr früher fertig bin“, sagt sie. Würde sie schon ab Herbst an einer Universität studieren, befürchtet sie, dort nicht ernst genommen zu werden. „Ich möchte nicht die Junge sein, nicht die Überfliegerin. Diese Erfahrung habe ich schon als Springer gemacht“, begründet Hannah. Sobald sie 18 ist, möchte sie als Au-pair ins Ausland gehen und plant anschließend ein Freiwilliges Soziales Jahr. „Ich brauche diese Zeit noch, um herauszufinden, was ich möchte“, sagt Hannah.