Abendblatt-Reporter Christian Unger hat 13 Jahre nach dem Abi seine alte Schule wieder besucht, das Goethe-Gymnasium in Lurup. Ist der Lernstoff zu umfangreich? Bleibt überhaupt noch Freizeit? Lernstress gab es schon, als von G8 noch keine Rede war. Und doch unterscheidet sich der Alltag von Schülern deutlich von vor 13 Jahren.
Jonas stürzt. Sein rechter Arm rutscht aus Yomas Händen, Jonas fällt nach hinten, auf die Gleise. „Achtung, der Zug fährt ein!“, ruft eine Mädchenstimme. Passanten eilen herbei, ein Reporter kritzelt Notizen in seinen Block. Und Yoma, die eben noch verliebt in die Augen von Jonas blickte, kniet auf dem Boden, die Hände vorm Gesicht.
„Okay! Stopp mal kurz!“, ruft die Lehrerin. „Das war nicht schlecht. Aber so funktioniert das noch nicht. Jonas, du musst schon richtig natürlich fallen, versuch das mal langsamer, in Tempo 2.“ Jonas nickt. Alle gehen zurück auf die Startposition. Klappe, die dritte.
Es ist ein Mittwochmorgen, Darstellendes Spiel, DSP, die erste Stunde an diesem Apriltag. Die Schüler der neunten Klassen proben gerade ihr Theaterstück. Vorhin haben sie in der Gruppe kurz über den Namen diskutiert: „True Lies“, vielleicht. Vor den Sommerferien wollen sie ihr Stück aufführen.
Und ich denke an den rissigen Asphalt.
Mehr war damals nicht an der Stelle, an der Jonas gerade in Tempo 2 auf den Boden fällt. Keine Aula mit Mensa, kein Raum für Theaterproben, nur Beton. „Bald steht hier eine Aula“, hieß es damals immer. Man sammle noch fleißig Spenden. 2001 habe ich Abitur gemacht, hier am Goethe-Gymnasium in Lurup.
2001. Kaum ein Jahr hat das deutsche Bildungssystem mehr durcheinandergewirbelt. Der „PISA-Schock“ saß tief. Im internationalen Vergleich hatten die deutschen Schulen versagt. Die Jugend konnte schlecht lesen, mangelhaft rechnen, hieß es, Arbeiterkinder waren benachteiligt. „Sind deutsche Schüler doof?“, fragte der „Spiegel“ damals. Ich hatte gerade mein Abi geschrieben, Geschichte und Englisch im Hauptfach, der Notendurchschnitt gut. Wo sehe ich mich in zehn Jahren? In unser Abi-Buch schrieb ich: „Ich werde Schlagzeuger einer Bluesband. Ich ziehe durch verqualmte Musikbars von New Orleans, verdiene mir ein paar Kröten.“ Ist nicht ganz so gekommen, war ja auch nicht ernst gemeint.
2001. So lange ist das gar nicht her. Doch seit dem PISA-Schock rattern Reformen durch die Republik – und vor allem durch Hamburg: Die Hauptschule wurde abgeschafft, die Primarschule gefordert, die Stadtteilschule erfunden, das Gymnasium um ein Jahr gekürzt. Die Kinder konnten schlecht lesen und schreiben – also musste etwas passieren im stolzen Land der Exportweltmeister. Und so machten Deutschlands Bildungspolitiker Tempo, sie wollten die Leistung der Jüngsten nach oben schrauben, Anschluss finden an Europa, mehr Chancengleichheit schaffen. Das volle Programm.
Wer „Schüler“ und „Stress“ googelt, bekommt 8.560.000 Treffer
2001. Vielleicht war es das Jahr, das der Anfang auch für den Streit G8 versus G9 war, der nun hitzig wird. Eltern aus manchen Stadtvierteln nahe der Elbe fragen: „Erdrückt der Stress der Schule unsere Kinder?“ Ziehen die Bildungspolitiker das Tempo zu schnell an? Helfen Reformen? Oder machen sie alles nur schlimmer? Ich suche die Antworten an meiner alten Schule. Für eine Woche drücke ich wieder die Schulbank. Wie damals, 2001. Als meine Generation Y die Schule verließ. Die Millennials, wie uns Soziologen nannten. Heute bin ich 33 Jahre alt – und treffe die Generation Z, die „Digital Natives“.
Am Abend vor meinem ersten Unterricht seit 13 Jahren saß ich noch am Computer. Ich googelte die Wörter „Schule“ und „Stress“. 8.560.000 Treffer. Unter den Suchergebnissen vor allem Tipps, wie man Stress vermeidet: Verständnis zeigen, den Stress auch als etwas Positives erleben, so was. „Jeder dritte Schüler krank durch Stress“, stand dort. Von der „Generation Stress“ war die Rede. „Alarmierend: Manche Kinder erreichen Stresswerte, die sonst nur Manager aufweisen.“ Uff. Was erwartet mich an meiner alten Schule, die wir früher alle liebevoll „Goethe“ nannten? Nur ausgebrannte Schüler? Wie viel Druck hatte ich damals? Und ist der Matheunterricht heute viel härter?
Eine Elterninitiative in Hamburg fordert „G9-Jetzt-HH“. Nach den Sommerferien muss sie binnen drei Wochen 62.732 Unterschriften sammeln. Gelingt ihr das, käme es nach 2010 zum nächsten Volksentscheid über die Schulpolitik in Hamburg. Dann wird in der Stadt wieder um die Hoheit über die Klassenzimmer gerungen. Dann reden wir wieder von „Schulkrieg“ und „Schulfrieden“. Als würden wir mit Panzern auf den Pausenhof vorrücken. Dabei geht es um Matheunterricht oder Englisch-Hausaufgaben.
Jetzt stehe ich in einem Knäuel Neuntklässler im DSP-Unterricht. Ein Wirrwarr aus verschränkten Armen, jeder packt irgendeine Hand, die er zu fassen bekommt. „Und nun versucht euch zu entwirren“, ruft die Lehrerin. Eine Lockerungsübung, die Doppelstunde zum Muntermachen am Mittwochmorgen, bevor es in die Klassenzimmer zurückgeht. Zurück ins Schulsystem, das manche Kritiker nur noch als Säule einer „Sitzkindheit“ sehen.
Als ich an meinem ersten Schultag zurück am Goethe-Gymnasium mit dem Fahrrad auf den Pausenhof bog, fiel mir das gelbe Ortsschild auf. „Goethe-Gymnasium“ steht dort auf der einen Seite. „ABInsLEBEN“ auf der anderen, Richtung Schultor. Das Ortsschild war ein Geschenk des Abi-Jahrgangs 2010. Ich ging durch den Haupteingang. In der alten Pausenhalle stehen jetzt Kicker-Tische. In der Kantine gibt es Franzbrötchen mit Nutella, wie damals. Und Käsebrötchen für 40 Cent.
Meine Klasse für diese Woche ist die 9d. Die Schüler haben mir ein Fach im Regal eingerichtet. „Christian“ steht dort auf einer Karteikarte. Im Fach liegen die Bücher für mich. Deutsch, Physik, Französisch. 24 Schüler sind in der 9d, manche sind 14, andere schon 15 Jahre alt. Die Familien von zehn Schülern haben Wurzeln im Ausland, in Afrika, Asien oder Osteuropa.
An der Wand im Klassenzimmer hängt der Plan für die Wochendienste: Alice, Till und Richie müssen diese Woche fegen, Tanja und Yoma die Tafel wischen. Daneben sind die Termine für die Klausuren an die Wand gepinnt. In den beiden Wochen nach den Mai-Ferien stehen fünf Prüfungen auf dem Plan. In manchen Wochen ist da nichts oder nur ein Test eingetragen.
Euro-Kritiker können eine Partei gründen. Umweltschützer auch – oder Neonazis. Eltern gründen eine Initiative. Schulkinder können das nicht. Schüler organisieren ihre Putzdienste im Klassenzimmer. Erwachsene machen die Politik für die Kinder. Sie bestimmen, was hier in der 9d am Goethe-Gymnasium passiert.
Aber was sagt mein Sitznachbar Jonas eigentlich zu allem? Oder Lea? Oder Heiko? Oder Tabea?
Lea erzählt mir, dass sie es manchmal nach der Schule nicht zum Ballett schafft, weil so viel für die Schule zu tun ist. „Ich erlebe viel Druck“, sagt sie. Gerade wenn Klassenarbeiten anstehen. „Manchmal komme ich nach Hause und bin nicht mehr aufnahmefähig, für gar nichts mehr. Und nach dem Lernen schlafe ich schnell ein.“ Eine Schülerin aus der 12. Klasse hat aufgehört mit dem Klavierspiel, weil das Lernen in der Oberstufe zu viel Zeit kostet. Eine andere hat kaum noch Zeit für ihr Pferd.
Till sagt, dass es ihm schwerfällt, nach 16 Uhr noch zu lernen. Heute, zum Beispiel, fahre er nach dem Unterricht nach Hause, kurz nach 15 Uhr, später werde er zu Abend essen und dann zurück zur Schule fahren. Er spielt in der Big Band. „Und wenn man dann noch einen Test am nächsten Tag schreibt...“
Celina aus der 11. Klasse erzählt mir, dass sie die Schule „im Moment sehr stressig“ findet. Zweimal in der Woche habe sie bis halb sechs Unterricht, dann noch Sport und einen Nebenjob, um etwas Geld zu verdienen.
In der Woche zurück an meiner alten Schule treffe ich Schüler, denen Hektik und Lernbelastung Stress macht. Sie erzählen mir von ihrem Gefühl, abgehängt zu werden. Vielleicht zu scheitern in diesem System. Vom Druck, den die Eltern machen. Den sie sich selbst machen. Viele Schüler haben keine Scheu, eigene Schwächen auszusprechen. Manche von ihnen wollen lieber neun Jahre bis zum Abi Zeit haben. Andere sind sich nicht sicher, ob ein Zurück der richtige Weg aus dem Stress ist.
Und ihre Stimmen sind nur die eine Seite. Es gibt auch die andere.
Heiko aus der 9d sagt, man könne das System nicht für den persönlichen Stress verantwortlich machen. „In der Debatte heißt es immer, dass die Schüler permanent unter Stress stehen und keine Hobbys haben. Vielleicht ist das an manchen Elite-Gymnasien so. Aber nicht bei uns.“ Jeder Schüler könne Studienzeiten als Kurs belegen. Dort habe man Zeit, für Prüfungen zu lernen oder Hausaufgaben zu schreiben. „Die Schule gibt uns Entlastung.“
Seit 2012 darf per Gesetz kein Schüler mehr sitzen bleiben. Die Schule hat einen kostenlosen Ersatz für Nachhilfeunterricht aufgebaut. Trotzdem lese ich heute, dass das Geschäft mit Nachhilfe noch nie so profitabel war. Rund 1,2 Milliarden Euro geben deutsche Eltern pro Jahr für private Extra-Schichten ihrer Kinder aus. Früher lief ich vor einer Physikklausur nachmittags zu meinem Kumpel und büffelte Formeln. Für Nachhilfe gab’s zehn Mark.
Jonas erzählt, dass er genügend Freizeit habe. Er geht gerne ins Fitnessstudio, in den Ferien hat er lange geschlafen und sich mit Freunden getroffen. „Es liegt an jedem selbst.“ Klar, es gebe Druck. „Aber wenn ich eine Arbeit verhaue, heißt das nicht, dass ich zu viel Stress hatte, sondern dass ich mich nicht richtig vorbereitet habe.“
Joshua aus der 11.Klasse möchte Luftfahrtingenieur werden. Er sagt, dass ihn die Schule gut vorbereite auf die Anforderungen der Universität. Auf das selbstständige Lernen, aber auch auf den Leistungsdruck. Er möchte arbeiten – und nicht noch ein Jahr länger die Schulbank drücken.
Sophia erzählt, dass viele Wochen im Schuljahr „ganz gechillt“ sind. „Und dann gibt es zwei Monate, da schreiben wir sämtliche Klausuren.“
Es sind Schnipsel aus Gesprächen mit den Schülern in meiner Woche zurück am „Goethe“. Ich merke schnell: Auf meine Fragen gibt es so viele Antworten, wie es Schüler gibt. Die Musik an Schulen spielt in Zwischentönen. Es gibt nicht nur Dur und Moll – die Leistungsträger und die Gestressten. Schule ist ein Chor. Jeder Schüler singt seine eigene Stimme, in seiner eigenen Tonlage. Und die kann schon von Fach zu Fach ganz unterschiedlich sein.
„Turbo-Abi“ klingt wie eine Fahrt auf der Bildungsautobahn. Gegen die Wand
Und was sagen die Dirigenten? Vor allem eines: „Gebt uns Zeit. Und Ruhe.“ Ich treffe in der Woche viele Lehrer, spreche mit ihnen auf den Fluren, vor den Klassenzimmern, in den Pausen. Kaum einer sagt: „Ich will zurück zu G9.“ Der Tenor ist ein anderer: Man habe viel investiert in G8, Lernpläne ausgearbeitet, Schulen neu strukturiert, Stadtteilschulen eingeführt. „Das alles in die Tonne zu treten ist Blödsinn“, sagt Physiklehrer Thomas Lenz. Er leitet die Oberstufe. Doch er sagt auch, es gebe Schwachstellen im System, vieles sei zu schnell umgebaut worden.
Journalisten lieben das Wort „Turbo-Abi“. Davon redet am „Goethe“ niemand. Es klingt ja auch gemein, denke ich. Nach einem Porsche, der gerade mit 200 Stundenkilometern über die Bildungsautobahn rast. Gegen die Wand.
Das Goethe-Gymnasium liegt in Lurup. Der Stadtteil im Westen ist ein Spiegel Hamburgs, hier bin ich aufgewachsen. Zwischen den Spitzdachhäusern der Kleinbürger, hier leben Ärzte und Anwälte, Angestellte und Arbeitslose. Es gibt ein paar Reiche, die nicht weit entfernt von den Vierteln wohnen, die Medien gerne „sozial schwach“ nennen. Lurup, man kann das so sagen, ist ein Stadtteil wie viele in Hamburg. 820 Schüler besuchen die Schule, 60 fest angestellte Lehrerinnen und Lehrer arbeiten hier. Das „Goethe“ ist ein Gymnasium, wie es etliche gibt in Lokstedt, Horn oder Harburg.
Am Mittwoch nach dem Darstellenden Spiel erlebe ich meinen persönlichen PISA-Schock. Matheunterricht. Sinus und Kosinus. Die Lehrerin zeichnet Dreiecke an die Tafel, sie redet von Ankatheten und Hypotenusen – und sie meint damit keine Krankheiten. Irgendwann in dieser Doppelstunde taucht auch Herr Pythagoras wieder auf, jene dunkle Gestalt meiner eigenen Schulzeit, der ich nie wieder begegnen wollte. Und jetzt nimmt mich die Lehrerin auch noch dran. „Vielleicht kann ja unser neuer Schüler uns helfen?“ Ich durchwühle meinen Kopf wie eine Lego-Kiste, aber da sind keine Hypotenusen mehr. Ich bekomme schwitzende Hände. Noch 30 Minuten bis zur Mittagspause.
Zum Glück hat Nyl eine Antwort. Er schreibt Formeln mit Kreide an die Tafel, teilt Brüche, zieht Wurzeln. Die Lehrerin lobt. Mein Sitznachbar tippt noch Zahlen in seinen Taschenrechner, andere blicken lustlos auf das karierte Papier in ihrem Heft.
Dann klingelt der Pausengong. „Yeah, Mathe überstanden“, sagt einer. Eigentlich alles wie früher, denke ich.
Oder? Mein Schultag früher endete um halb zwei. Ich radelte nach Hause wie fast alle meine Freunde. Mütter kochten Mittagessen, andere Schüler schoben sich Pizza in den Ofen oder schmierten sich Brote. Spätestens um 15 Uhr trafen wir uns auf dem Bolzplatz oder bei Freunden vor dem Computer.
Heute ist das „Goethe“ eine Ganztagsschule, das macht das Gymnasium zu einer von drei Ausnahmen in Hamburg. Ab halb zwölf serviert eine Catering-Firma Essen. Schüler bestellen im Internet und bezahlen mit Chipkarten, die sie an ein Lesegerät halten. Ich gehe an diesem Tag mit Till und Norik in die Mensa. Es riecht nach Jugendherberge. Auf dem Speiseplan stehen Hähnchen mit Reis oder Nudeln mit Käsesauce, dazu Salat. „Früher gab es mal Pudding und Vanille-Eis“, erzählen die beiden. Das sei aber abgeschafft worden. An diesem Tag haben sie noch ein paar Stunden Unterricht. Also essen sie jetzt lieber.
Meine Eltern hatten sich immer eine Ganztagsschule für mich gewünscht. Weil meine Mutter als Krankenschwester Schichtdienst hatte. Weil mein Vater erst am späten Nachmittag aus der Finanzbehörde kam. Heute warten noch weniger Eltern als damals um zwei Uhr mit dem Mittag zu Hause. Ehen werden öfter geschieden, Mütter arbeiten wie Väter. Der Staat hat darauf reagiert: Er kümmert sich stärker um die Pflege von Angehörigen oder die Betreuung der Kleinkinder. Und er sorgt für das Mittagessen an der Schule. Jetzt esse ich mit meinen neuen Klassenkameraden Nudeln mit Käsesauce in der Mensa vom „Goethe“.
Hunger hatte ich schon seit einer Stunde. Um halb sieben heute früh hat mein Wecker geklingelt, seit acht Uhr sitze ich in Klassenzimmern. Wenn später die Geschichtsstunde endet, ist es kurz vor drei. 36 Unterrichtsstunden à 45 Minuten hat meine Woche in der 9d. Das sind neun Stunden weniger als meine Arbeit als Journalist, laut Tarif zumindest. Aber dass Schüler für Klausuren lernen oder Projekte vorbereiten müssen, ist da noch nicht eingerechnet.
Zu meiner Schulzeit hatte ein Zwölftklässler laut Lehrplan 28 Stunden Unterricht pro Woche, heute sind es 34. Die Stunden, die Kinder heute in der Schule verbringen, sind mehr geworden. An der Ganztagsschule „Goethe“ wählen die Schüler meiner 9. Klasse noch drei Wochenstunden zusätzlich für den Nachmittag oder Abend aus: Big Band oder Hip-Hop, Schach, Bühnentechnik oder Chor. Auch damals gab es eine Schach-AG. Aber wer nach halb zwei keinen Bock mehr auf Schule hatte, ging einfach.
Nehmen wir den Kindern die Freizeit abseits von Schulhof und Klassenzimmer, wie es die G9-Initiative anprangert? Schulleiter Egon Tegge sagt, dass die Gesellschaft Verantwortung trage, den Tag auch für Kinder zu gestalten, die sonst „nur Spiele am Computer daddeln oder schräge Videos gucken“ würden. „Und wir haben auch Schüler bei uns, die heilfroh sind, dass sie nachmittags lange in der Schule sein können. Denn was sie zu Hause erwartet, ist furchtbar.“ Eine Lehrerin erzählt mir, dass die Impulse einer Ganztagsschule die Freizeit von Kindern fördern können. Manchmal sind es dieselben Schüler, die über Zeitdruck am Nachmittag klagen, aber im nächsten Satz vom Spaß auf der Chor-Reise oder beim Konzert der Big Band schwärmen.
Das „Goethe“ erinnert mich heute mehr an die amerikanische High School in Michigan, die ich 1998 als Austauschschüler besuchte. Die Grenze zwischen Freizeit und Unterricht verschwimmt. Schule wird zum Lebenskonzept der Jugend. Und doch geben die Deutschen ihr Vereinsleben nicht gerne auf.
Ich treffe Hamasa in der Pausenhalle. Sie schreibt gerade ihr Abitur und ist Schulsprecherin, eine sehr gute Schülerin, wie mir ihre Lehrer erzählen. Und eine gute Klavierspielerin. Neun Jahre lang habe sie Unterricht genommen an einer Musikschule. Nun musste sie erst mal aufhören. „Ich wollte nicht, dass meine Tage so vollgeplant sind.“ Hamasa singt im Chor, auch im Kammerchor der Schule. Und da ist ja noch der Abi-Stress. „Ich habe mir großen Notendruck gemacht. Irgendwann sind meine Hobbys und die Familie zu kurz gekommen.“
Neben der Cafeteria in der Pausenhalle hängt ein Briefkasten. Schüler können dort Zettel für die Schulsprecher einwerfen und schreiben, was sie gut und was schlecht finden. „Die meisten schreiben, dass wir die Ganztagsschule abschaffen sollen“, sagt Hamasa. Vor allem jüngere Kinder. Sie finde das „irgendwie süß“, weil sie wisse, dass der Stress nicht weniger werde in der 8. Klasse oder in der 11.
Schule war auch für mich Stress – zumindest in Mathe und Physik. Mein Erfolgskonzept beruhte vor allem auf den „Punkten für den richtigen Rechenweg“, die es gab, auch wenn das Ergebnis einer Rechnung am Ende falsch war. Ich war mündlich besser als schriftlich. Bis heute hat sich nichts geändert: Es gibt Schüler, die können ein Buch analysieren, die lesen gerne und lernen schnell Sprachen. Und es gibt die Schüler, die (manchmal zusätzlich) Winkel berechnen und Funktionen ableiten können. Keine Schulreform wird das ändern. Ein rechter Winkel bleibt ein rechter Winkel.
Nur heute ist jede Schwäche kategorisiert: ADHS, Dyskalkulie oder Dyslexie. In meiner Schulzeit hörte ich diese Wörter nicht auf dem Schulhof. Heute erzählen mir einzelne Schüler, dass sie in einem Institut getestet wurden, Matheaufgaben lösen mussten oder Texte schreiben. Sogar ihre Eltern wurden von Ärzten befragt. „Mein bester Freund nimmt Medikinet“, sagt eine Schülerin aus der Oberstufe. Ein Mittel gegen Konzentrationsstörungen. Wessen Körper aus dem System ausbricht, der wird mit Medikamenten wieder eingefangen. Ein Lehrer erzählt: „Ritalin nimmt schon wieder ab. Der Ruf ist zu schlecht.“ Eine Lehrerin sagt: „Immer mehr Schüler als früher bekommen therapeutische Lernhilfen.“ Im Internet lese ich von Lern-Coaching.
Hamasa, die Schulsprecherin, ist in Deutschland geboren. Ihre Eltern kommen aus Afghanistan. Die Familie floh vor 20 Jahren. Der Vater konnte in seiner Heimat nicht studieren und erfolgreich im Beruf sein. Er musste sich als Geflohener in einem fremden Staat seine Existenz erarbeiten. „Zu mir hat er immer gesagt: Nutze die Möglichkeiten, die ich nie hatte“, erzählt Hamasa. „Und ich denke immer: Ich erreiche nicht das, was ich erreichen könnte.“ Sie möchte jetzt vielleicht Chemie studieren. Hamasa trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, auf den ein großes grünes Hanfblatt gedruckt ist. „12 Jahre Stoff“ steht dort. Daneben: „Abitur 2014“. Es ist der Abi-Pulli ihres Jahrgangs. Schulstoff als Droge der Jugend. Geht’s noch?!, denke ich. Dann erzählt Hamasa auch von den Partys, die sie am Wochenende feiern. Puh.
Auch Richie aus der Neunten sagt, dass sein Vater ihm oft gesagt habe, er solle die Schule gut machen. Er sei die nächste Generation, er könne Erfolg haben in Deutschland, Geld verdienen. Richies Familie floh aus Togo nach Hamburg. Ich höre Geschichten von Migrantenfamilien und ihren Kindern, die besonders unter Druck stehen, anzukommen in einem fremden Land mit einer fremden Kultur und ihren vielen Widerständen, aber auch großen Chancen. Stärker als zu meiner Schulzeit tragen ihre Lebensläufe das System mit.
Dabei stehen auch andere Erwachsene heute unter Druck: Kind und Karriere – muss doch beides gehen. Sicherheiten für die Rente sparen, dabei aber die Weltreise und die Selbstverwirklichung nicht vergessen. Sprachen lernen und studieren im Alter, warum nicht? Aber auch politisch will man sich noch engagieren. Also gründen Eltern Initiativen. Stressen sie sich damit nur noch mehr? Lehrer haben Burn-outs, Journalisten, Manager und Fußballtrainer auch. Sind die Erwachsenen die eigentlich Gestressten von heute? Und denken sie deshalb, dass ihre Kinder auch gestresst sein müssen?
Schulleiter Egon Tegge sitzt in seinem Büro, er hat am Computer ein Dokument geöffnet. „Stressformel“ heißt die Überschrift. Darunter sind Faktoren aufgezählt: persönliche Bewertung, persönliche Disposition, Ressourcen wie Berufserfahrung, und am Ende dann die „Stressreaktion des Körpers“. Jeder Schüler nehme Stress individuell wahr, sagt er. Je nach Disposition und Ressourcen. Egal, ob G8 oder G9. Tegge hält die Stressdebatte für „überzogen“. Und überhaupt dürfe man nicht nur über das Gymnasium diskutieren. Vor allem eine starke Stadtteilschule nehme den Druck aus dem System. Tegge sagt, dass er neben den 130 Anmeldungen an der Schule jedes Jahr rund 20 Kinder „erfolgreich wegberate“. Er verweist Eltern und Schüler an die Stadtteilschulen. „Ob sie einfach zum nächsten Gymnasium gehen, weiß ich nicht.“
Ein Freund von mir unterrichtet an einer Stadtteilschule. Als ich ihm von meiner Reportage an meiner alten Schule erzähle, sagt er mir, dass er eines nicht verstehen könne: „Eltern schicken ihr Kind auf ein Gymnasium und unterschreiben damit den Leistungsgedanken. Und nun klagen sie, dass der Leistungsdruck zu hoch ist.“
Früher hatten Imperialismus und Erster Weltkrieg 45 Seiten, jetzt sind es 29
Das Gymnasium ist für die Deutschen noch immer das große Versprechen von sozialem Aufstieg oder Status. Schulleiter heißen seitdem offiziell Oberstudiendirektoren. „Gymnasium“ klingt nach Humboldt, nach Goethe. Stadtteilschule klingt nach norddeutscher Gemütlichkeit. Lassen wir uns von Begriffen blenden?
Jim aus der 11. Klasse hat beides erlebt – Gymnasium und Stadtteilschule. Er ist in der Oberstufe ans „Goethe“ gewechselt und sagt: „Gerade in Mathe musste ich viel nacharbeiten.“ Das Tempo an der Stadtteilschule sei langsamer. Das Problem am Gymnasium sei aber nicht der Prüfungsdruck, sondern die wenige Zeit zum Wiederholen des Gelernten. Sophia erzählt von zwei Freundinnen, die den anderen Weg gegangen sind – vom Gymnasium an die Stadtteilschule. „Die sagen mir, dass es einfacher dort ist. Und sie sagen: Es ist eine gute Entscheidung gewesen.“ Sie erleben Erfolg im Klassenzimmer, wo vorher vor allem Frust war.
Wenn mir Schüler aus meiner 9. Klasse erzählen, dass sie darüber nachdenken, an eine Stadtteilschule zu wechseln, dann schwingt in ihrer Stimme Unsicherheit mit. Bin ich gescheitert? Was lerne ich dort noch? Und reicht das für ein gutes Leben? Früher sahen wir die „bösen Jungs“ an der Hauptschule. Heute lebt die Stadtteilschule mit einem schlechten Image, auch bei vielen Schülern. „Es heißt immer nur: Da gehen die Schlägertypen hin“, sagt Dorothea. Das sei natürlich ein Klischee, da sind sich die Schüler einig. „Assis gibt’s hier auch.“ Und doch prägt das Klischee ihr Bild der Stadtteilschule. „Wir müssen bei einigen Schülern viel Überzeugungsarbeit leisten, dass ein Wechsel sinnvoll für sie ist“, sagte Lehrerin Susanne Steidinger.
Ich sitze neben Jonas, hinten links in der Ecke. Frau Steidinger läuft durch die Klasse. In Kleingruppen schreiben wir Merkmale des Imperialismus auf ein Plakat, eine „Mind Map“, wie die Lehrerin sagt. Frau Steidinger zeigt mir das alte Geschichtsbuch, als das Gymnasium noch neun Jahre dauerte, mit 45 Seiten zum Imperialismus und dem Ersten Weltkrieg. 29 Seiten sind es im neuen G8-Geschichtsbuch. „Wir rasen durch die Kapitel der Geschichte“, sagt sie. Der Völkermord in Ruanda als eine Folge der Kolonialzeit ist gestrichen. „Dabei ist das ganz aktuell.“ Ein paar Mädchen verschönern die i-Punkte über „Imperialismus“ auf dem Plakat mit roten Herzchen.
Wie viel Unterricht passt in ein Schuljahr? Wie viel Stoff in einen Kinderkopf? In welcher Zeit? Auch darum geht es bei der G8/G9-Debatte. Die Biologielehrerin erzählt mir, dass sie in der Mittelstufe nicht mehr die „menschliche Verdauung“ durcharbeiten könne. „Gerade wegen des Themas Bulimie wäre das in dem Alter wichtig.“ Die Lehrerin Christine Göbel fragt: „In Deutsch üben wir Grammatik und Rechtschreibung, wir lesen einen Roman, aber auch ein Drama – was soll man da noch weglassen?“ Und trotzdem erzählen mir Schüler, dass sie G8 zwar für den richtigen Weg halten – aber nur, wenn endlich die Lehrpläne entsprechend gestrafft würden.
Ist das Problem, dass Lehrer ihren Schülern so viel wie möglich beibringen wollen? Dass Eltern alles für ihre Kinder wollen – von Mathe bis Musik? Und dass sogar die Schüler selbst bloß nichts vermissen wollen? Zerbrechen die Ansprüche aller an dem Machbaren in einer Schulwoche?
Auch in den 90er-Jahren gab es Debatten: Bildungspolitiker sorgten sich um das sinkende Niveau eines „Massen-Abis“. Schon damals hieß es, die Nachbarkinder aus Schleswig-Holstein machen das bessere Abi. Soziologen erklärten das neue Selbstbewusstsein der Mädchen. Die Hauptschule war in der Kritik, Bayern diskutierte die sechsstufige Realschule. Der „Spiegel“ schrieb damals schon vom Leistungsdruck für Kinder. Es ging um Schüler in China.
Doch der Pulsschlag der Debatten meiner Jugend war ruhiger. Bonn war noch lange der Sitz des Bundestags, und Handys hatten in der Oberstufe erst ein paar Angeber. Wir bekritzelten die Tische mit Parolen oder spielten Fußball auf den Fluren, bis die Aufsicht schimpfte. Schüler meiner 9d chatten heute miteinander in einer WhatsApp-Gruppe. Die meisten Tische im Klassenzimmer sind blitzblank. Trägt denn keiner mehr verfilzte Dreadlocks?
Die Schüler von heute sind auch kleine Manager im Klassenzimmer
„Das war zum Glück nur eine Mode deiner Zeit“, sagt mir mein alter Tutor, Herr Lenz. Aber auch er sieht, dass Schüler heute genau schauen, in welches Fach sie Energie investieren und wo sie sich eine schlechtere Note leisten können – ohne ihr Abitur zu gefährden. „Der Schülertyp von heute ist windschnittig, angepasster als früher“, sagt Klassenlehrerin Steidinger. Denn das System lasse ihnen weniger Freiheiten.
Viele Schüler erzählen mir, dass man einen genauen Plan brauche, wann welche Hausaufgaben zu erledigen sind und wann Zeit zum Lernen für Klausuren ist. Schüler sind heute auch kleine Manager im Klassenzimmer. Pragmatismus – vielleicht ist das die Überschrift für die aktuelle Schülergeneration. Sie können Stress ab, wollen davon aber nicht zu viel. Sie freuen sich auf die Karriere, aber Geld ist vielen nicht mehr so wichtig. Sie wollen gute Noten, aber eine Vier in Mathe ist kein Drama.
War das früher anders? „Leistung ist Arbeit durch Zeit, Christian.“ Ich erinnere mich oft an den Spruch meines alten Physiklehrers. Und er meinte damit nicht nur die Leistung einer Dampflokomotive. Auch ich lernte einen Abend lang Französisch-Vokabeln und am übernächsten las ich Kafkas „Verwandlung“. Ich meckerte über Hausaufgaben, und manchmal ging ich müde und mit Kopfschmerzen in die Schule.
In der einen Woche habe ich ein Schulsystem kennengelernt, das vieles von vor 13 Jahren noch in sich trägt. Gleiche Räume, oft mit Beamern statt Projektoren. Einige Lehrer, oft mit demselben Unterricht, aber ein paar grauen Haaren mehr. Und dennoch merke ich, dass die Schule nach der Wucht der Reformen an manchen Stellen noch auf wackeligen Beinen steht: Der Übergang von der Mittel- in die Oberstufe bedeutet für viele Schüler heute besonderen Stress. Genauso wie die wenigen Monate, in denen mehrere Klausuren pro Woche anstehen. Die Durchlässigkeit von Gymnasium zur Stadtteilschule und umgekehrt muss besser werden. Und vielleicht, denke ich, müssen alle einfach mal einen Gang zurückschalten, auf Tempo 2.
So wie Jonas im Theaterstück der 9. Klassen in DSP. Am Ende der Doppelstunde kramen viele Schüler ihre Sachen zusammen und ziehen die Jacken über, als die Lehrerin die Hausaufgaben ansagt: „Bitte lernt eure Texte bis zur nächsten Stunde auswendig. Das müsst ihr draufhaben“, sagt sie. Ellenlange Drehbuchtexte lernen – auch noch auswendig. Ich glaube, das war der Grund, warum ich damals nach der 7. Klasse Darstellendes Spiel als Kurs abgewählt habe. War mir einfach zu stressig.