Der Rahlstedter Maler Jens Cords hat ein Auge verloren. Er kämpft mit der Demenz seiner Frau und dem Verlust seiner Heimat. Die Kunst könnte ihn retten. Wieder einmal.

Hanburg. „Ich habe die letzte Stufe meines Lebens erreicht“, sagt Jens Cords. Er ist ins Heim gezogen. Es ging nicht mehr. Er hat ein Auge verloren. „Meine Frau ist schwer dement. Sie hat immer geschlagen.“ Lange hat er sie gepflegt in ihrem gemeinsamen Rahlstedter Haus, ihre für die Krankheit typischen Ausfälle ausgehalten. „Sie schlug mit dem Handrücken, mit dem Kochlöffel. Das ging so schnell.“

Er war sehr spät beim Arzt mit der inneren Blutung über dem Auge. Er hätte ins Koma fallen können. Er kam davon, aber sein Auge konnten die Ärzte nicht mehr retten. „Ich kann nicht mehr professionell malen“, sagt er. Mit nur einem Auge kann er nicht plastisch sehen. Er hilft in der Malgruppe des Heims. „Weil ich ja der Künstler bin.“

Sein Haus in der Rahlstedter Veltheimstraße, in dem er 53 Jahre gelebt und gearbeitet hat, wird verkauft. Gemeinsam mit seiner Tochter Annette ist er lange herumgefahren und hat eine Bleibe für sich und seine Marie-Louise gesucht. Mit guter Demenzversorgung. „Eigentlich wollten wir zusammen in einem Zimmer liegen und so unsere letzten Tage verbringen“, sagt Cords. „Aber es ging nur vier Tage gut. Sie war einfach zu unruhig.“ Jetzt wohnt sie ein Stockwerk unter Jens Cords in der Demenz-Abteilung. „Sie bekommt Tabletten. Sie ist ganz zahm geworden.“

Jens Cords, geboren am 21. Juli 1932. Schildermaler, Drucker, Kunstmaler. Galionsfigur der deutschen Avantgarde, der er den Rücken kehrte. Gefördert, gefeiert und fallen gelassen. Von der abstrakten Malerei kämpfte er sich zum Gegenständlichen zurück. Gegen alle Polemik aus der Szene und gegen die übliche Marschrichtung der Kunst, für die Poesie des Vergänglichen. Weggefährte und zweiter Drucker Horst Janssens. Familienvater, Dozent, bunter Hund, Satiriker. Kämpfer gegen die toten Neubauten im Rahlstedt der 1970er- und 80er-Jahre. Mit Ausstellungen in Turin, Kopenhagen, New Orleans, Lübeck und immer wieder Rahlstedt.

Sein letztes Reich hat 18 Quadratmeter mit Balkon. Ein Neubau in Bramfeld, dritter Stock, am Ende des Ganges links. Eine Kommode aus seinem Rahlstedter Haus, sein gestreiftes Sofa, ein hoher Spiegel neben der Balkontür, vielleicht ab nachmittags die Sonne. Der kleine Maltisch am Fenster ist noch nicht eingerichtet. Die gelbe Reisetasche mit den Farben und Pinseln steht am Schrank. Ein Provisorium noch nach fast einem halben Jahr, das er hier schon verbracht hat. „Ich habe eine Depression. Scheiße ist das.“ Vormittags liegt er neben einer großen, rechteckigen Lampe auf dem Bett. „Lichttherapie. Das soll helfen, sagt der Arzt.“ Die Tabletten halfen ihm nicht.

An den Wänden seine Bilder. Aquarelle aus seinen Entwicklungsphasen. Die Stilleben. Die Poesie des Rostes. Der Übergang ins Figürliche. Die frühe abstrakte Phase mit den wilden Ölgemälden fehlt. Er hat abgeschlossen mit ihr. Aber keinen echten Frieden gemacht. Er hätte damals richtig berühmt werden können mit seinen Bildern im Stile des US-Action-Painters Jackson Pollock. Rausgeschmissen haben sie ihn stattdessen, den 25jährigen Jungstar, verbannt.

In einer öffentlichen Podiumsdiskussion der „Patriotischen Gesellschaft“ hatte er als deutsche Galionsfigur der abstrakten Malerei eigentlich gegen das Gegenständliche in der Kunst wettern sollen. Aber er sagte, was ihn umtrieb und nannte das Abstrakte eine „Chance für den Übergang zu neuer Konkretion“. „Konkretion“ war sein Wort für „das Gegenständliche“, von dem er durchaus wusste, dass es ein Unwort war. Es sollte die Wucht des Gesagten abfedern. Das misslang. Der Saal kochte. Cords wurde das Wort entzogen. Die Kunstszene brach mit ihm. Die Galeristen riefen an und verlangten, dass er seine „Kommissionsware“ abhole. „Es schadet uns, wenn wir sie noch anbieten“, sagten sie Cords am Telefon. „Damals bekam ich meine erste Depression.“

Das Leben war stärker. Jens Cords wollte wissen, wie die Linie vom Abstrakten ins Organische findet. „Ich habe mir damals Anatomiebücher gekauft und richtig studiert.“ Knochenbau und Innereien. Das harte und das weiche.

Er fand zum Aquarell und malte Figuren. Zusammengesetzte Wesen, halb geometrisch, halb organisch. Menschen wie Schemen mit Umrissen, die sich auflösen im Übergang zur materialen, toten Umgebung. „Man sagte, ich hätte mich angebiedert. Hab ich aber nicht. Ich hatte bloß zu viel Talent, um abstrakt zu bleiben.“ Die Biestigkeit gegen die Moderne kommt rüber wie ein gefühlsfreier Erklärsatz.

Es ist schwer zu sehen, wie tief der Bruch reicht. In Cords Pokerface mischt sich ein larmoyanter Ausdruck, der den bösen Worten nachträglich fast etwas liebenswürdiges gibt. Bloß Form, bloß Komposition, das war zu wenig für einen wie ihn, der ja fast alles konnte: Handwerk, Technik und Kunst. Zu langweilig. Zu beengend. „Man begann, mich festzulegen. Man setzte auf mich wie auf Aktien.“ Cords wollte nicht bloß Teil eines Geschäfts sein und eine vorgezeichnete Linie ablaufen.

Der Vater schon hatte ihn in eine Lehre gezwungen, weil er Kunst für brotlos hielt. Cords lernte Schildermaler und durfte in der Werkstatt meist beim Altmeister Schriften setzen. Beim Schleppen zenterschwerer Kreidesäcke in die vierte Etage riss ihm im letzten Lehrjahr eine Bandscheibe. Sechs Monate blieb er krank zu Hause. Vater und Altmeister einigten sich auf einen sanften Ausstieg. Jens Cords durfte nach der Gesellenprüfung aufhören und sollte bis dahin in Ruhe die Wohnung der Altmeister-Gattin renovieren. „Da bekam ich sogar Mittagessen.“ Dann ging es an die Hamburger Kunstakademie.

Sein erster Lehrer Kurt Kranz, ein Schüler Kandinskys, Klees und Feiningers, fütterte ihn mit allen Stilen der Moderne und ließ ihn wild experimentieren. Cords ging darin auf. Wieder bremste der Vater und ließ den Sohn Typografie studieren. Jens Cords litt. Der Kunstprofessor intervenierte beim Vater und erwirkte mildernde Umstände. Cords kam in die Klasse für freie Grafik und wurde Meisterschüler bei Willi Titze. Die Studiengebühren erließ man ihm. Cords war frei.

Er gewann Preise, stellte aus, aber an der Hochschule bekam er Streit mit Titzes Nachfolger und warf die Brocken hin. Es wurde eng. Der Dachboden im Elternhaus an der Veltheimstraße 31 wurde sein Atelier. Sein Handwerk als Schildermaler und öffentliche Aufträge für Mosaiken etwa an der Bramfelder Schule Fahrenkrön retteten ihn. „Ich bekam das gesamte Honorar in bar und habe es in der Straßenbahn bis Rahlstedt mit beiden Händen festgehalten“, sagt Cords. 27.000 Mark. Noch 1960 stellte Cords mit Wilhelm Nay, Richard Oelze und Fritz Winter in Baden-Baden aus. Der Sammler Gustav Grobe kaufte seine eruptiven Bilder. Cords konnte von der Kunst leben.

Schon damals, sagt er, sei er ein verkappter Gegenständlicher gewesen. Seine Bilder hätten immer ein oben und ein unten gehabt. Immer wieder versteckte er Gesichter in seinen abstrakten Kompositionen.

Das Gegenständliche, sagt Cords, hat wie das Abstakte auch Form und Komposition. Aber es kann zusätzlich die Vergänglichkeit zeigen. Und das kann das Abstrakte nicht. Ihm fehlt deshalb die Poesie, die für Cords aufbricht in der Nutzlosigkeit, im Verwesten, Verrosteten, Verbrauchten, im nicht konsumierbaren. Der Widerstand gegen die Verwendbarkeit ist sein Thema, das Aus-der-Reihe-Tanzen, der Tod. Cords malt Gegenstände, weil sich die Poesie des Nutzlosen in gestörten Alltagszusammenhängen zeigt, nicht an Linien und Flächen. Erst das Ausgemusterte ist frei von den Sachzwängen des Zweckmäßigen und damit offen für das Poetische.

„Ich habe eine Fangemeinde in Rahlstedt“, sagt Cords. Sie kaufte seine Aquarelle schon immer. Auch, als er noch geächtet war in der Hamburger Kunstszene. Nach dem Absturz und der Verbannung aus den Galerien der Abstrakten fing ihn sein Handwerk auf. Er druckte, zuerst Plakate. Horst Janssen, der ihn aus der Kunstakademie kannte, sah, dass er gut war. „Hättest Du nicht vielleicht ein kleines bisschen Lust, für mich zu drucken?“, fragte er Cords.

Es wurden zehn Jahre und mehr als 30.000 Blätter, die Cords erst auf seiner kleinen, dann auf seiner neuen, nach eigenen Ideen angefertigten, großen Presse durchzog. „Ich habe gut verdient, sehr gut.“ Cords senkt diskret die Stimme. Über goldene Nasen spricht man nur ganz leise. „Ich zehre heute noch davon.“

Janssen war auch sonst großzügig. „Pro 100 Blatt standen dem Drucker zwei Bögen zu. Ich bekam oft vier oder fünf, handsigniert und alles.“ Die Depression hatten sie gemeinsam. „Aber pass auf, dass der Fiskus nichts davon erfährt“, sagte Janssen, „sie ist doch unser Betriebskapital.“ Oder: „Was meinst Du, warum ich mir die Birne so voll gluckere? Es ist doch nicht auszuhalten auf dieser Welt.“ Cords lächelt etwas schräg. Schweigend gibt er Janssen Recht.

Auch die Abneigung gegen die Abstrakten teilten sie. „Es wird ja gar nicht mehr gemalt“, sagte Cords, „es gibt nur noch Installateure.“ Janssen benörgelte die Dokumenta und erklärte, dass er sich da nichts ansehen müsse. „Ich habe mir das faxen lassen.“

Ein Druckstock aus Zink beendete die Ära Janssen in Cords Leben. Er war eine Geschenksendung und zugleich eine Aufforderung zum Drucken. Cords bedankte sich und schrieb, dass er damit bei Janssens Qualitätsansprüchen aber nur 50, maximal 80 Blätter liefern könne. Das missfiel dem Meister. Vielleicht hätte Cords noch erklären sollen, dass er normalerweise mit den härteren Kupferdruckstöcken arbeitete, die weit höhere Auflagen erlaubten. Da dies aber unterblieben war, interpretierte Janssen frei und ohne störendes Detailwissen und stellte fest: „Der Cords will wohl wieder malen.“ Das war 1982. Danach kam nichts mehr von Janssen. Von Cords kamen Stillleben.

Die Poesie des Rostes fesselt ihn. Vergehendes Metall im Straßengraben, Dosen, Autowracks, ein vergammelndes Frühstück. Alte Bücher, Werkzeuge, Elbwasser, Blumen. Etwa 14 Tage malt er an einem Aquarell. Schicht um Schicht wird aufgetragen, die hellen Farben zuerst. Was weiß wird, bleibt frei. Cords malt auf antiken, handgeschöpften Haderleinen-Papier, in das die Farbe einsinken kann. Zusammen mit seinem Galeristen Aaron Neumann kaufte er Ende der 1990er Jahre die Restbestände von Hartmut Frielinghaus, dem ersten Drucker Horst Janssens, auf.

Jedes Jahr im Februar zieht Cords in seine Malklausur nach Gartow im Kreis Dannenberg. Sechs bis acht Wochen nur malen, das Licht studieren, den Zyklus des Werdens und Vergehens aufnehmen. Fundsachen arrangieren, vorzeichnen. Cords malt jetzt farbiger, heller. „Meine größte Ausstellung hatte ich 2013 in Rahlstedt.“ Es fühlt sich an wie gestern und ist doch eine Ewigkeit her. „Jetzt sitze ich jenseits des Stücks und warte auf mein Ende. Bewacht von Cerberus, dem Höllenhund.“ Der Witz ist noch da. Die Ambivalenz auch. Will er nun hinein ins Reich der Toten oder zurück ins Leben?

„Ich bin müde“, sagt Cords. Der Elan fehlt. Er versteht sich selbst kaum. „Manchmal gehe ich zwei Tage nicht zu meiner Frau. Dabei ist es nur ein Stockwerk. Sie liegt mit einem Herrn Schröder (Name von der Redaktion geändert) zusammen, so hat sie etwas Ansprache. Sie ist nicht mehr wieder zu erkennen. So lieb, so anschmiegsam. Wie ein Kind.“ Die gemeinsamen Themen gehen aus. Es gibt keine Zukunft, keine Gegenwart mehr. Alles ist gewesen. „Aber manchmal hat sie einen lichten Moment“, sagt Cords. „So kann es nicht bleiben!“, hat sie kürzlich zu ihm gesagt. Das hat er verstanden.

„Ich muss mich einfach aufraffen. Aber ich bin noch nicht so weit“, sagt Cords. Der Maltisch steht am Fenster. Die Farben liegen in der gelben Tasche. Die Tage werden lichter.