Im Kreativgarten in Wilhelmsburg beteiligen sich Kinder, Nachbarn und Ehrenamtliche an der Gestaltung.

Pippi Langstrumpf, keine Frage, würde sich hier wie zu Hause fühlen. In der kunterbunt bemalten Hütte mit den farbenprächtigen Spielzeughäuschen und den gleichfalls von Kinderhand gestalteten Schiffen lebt die Fantasie. Auf dem großen Holztisch warten Lehmhaufen darauf, zu Inseln geformt zu werden. Ideenreich. Blattwerk, Steinchen, Muscheln und Miniaturtiere verleihen kreativen Geistern Flügel. Konzen­triert gehen Jolina, Soraya, Keni und die anderen zu Werke, um aus der Pampe Ansehnliches zu schaffen.

Ein paar Meter weiter, neben der Küche im Bauwagen, dem Platz fürs Lagerfeuer und dem Plumpsklo ist tierisch was los. Laufenten und Hühner, einst vor Ort geschlüpft, gackern aufgeregt – und wohl auch verfressen. Die Kaninchen Flecki, Jan und Lilly holen sich genussorientiert Streicheleinheiten satt. Auf dem Dach des Tiergeheges gedeihen sechs Bienenvölker. Ein Zaunkönig und eine Nachtigall leben im Wildwuchs am Rande des Gartens, auch Erdkröten, Eidechsen, Libellen. Inmitten des Gewusels hält Hündin Luisa ein Nachmittagsschläfchen. Es passt ins Bild, dass in dieser Oase wahrhaftiger Lebenslust Hängematten und eine Schaukel locken.

Willkommen im Kreativgarten in Wilhelmsburg! Es ist ein Mittjunitag wie aus dem Bilderbuch. Im eingezäunten Naturgarten, einem paradiesähnlichen Idyll an der Veringstraße, ist ein Dutzend Kinder ins Spiel vertieft. Ins Spiel, richtig gelesen. Ganz einfach. Smartphones sind Fehlanzeige. „Das gemeinsame Werkeln, Gärtnern und Spielen schafft einen friedlichen Lebensraum“, philosophiert die Initiatorin Kathrin Milan bei einem Stück Blechkuchen mit Zitronenguss. Selbst gemacht, natürlich. Kathrin Milan ist eine Mutmacherin erster Klasse.

Kreativgarten Wilhelmsburg entstand als Kunstprojekt 2007

2006 kam die diplomierte Künstlerin aus ihrer Heimatstadt München nach Hamburg – auf passende Weise. Die Landschaftsmalerin saß am Steuer eines ausrangierten Werkstattwagens der Firma MAN, Baujahr 1969. Farbe: Gelborange. An der Anhängerkupplung befand sich ein roter Möbelwagen. Erneut hätte Pippi Langstrumpf ihre Freude gehabt. Milan landete in Wilhelmsburg und gründete dort 2007 das Projekt des zusammenwachsenden Stadtmodells Wilhelmsburg. Auf einer Grünfläche entstanden ein begehbares Stadtmodell, eine offene Werkstatt und ein Nachbarschaftsgarten. Alle Bewohner des Stadtteils durften mitwirken – und wuchsen so zusammen.

Heutzutage erinnern die Werkhütte und der Wohnwagenkomplex mit Gewächshaus und Beeten an Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt. Alles Mögliche ergab sich spontan: Kindern bietet sich ein verblüffender Gestaltungsspielraum. Ein Spielraum eben. Der MAN-Werkstattwagen fungiert heute als Büro und – einmal im Jahr – als reisende Kunstausstellung. Der Möbelwagenanhänger kann bei Regen als Aufenthaltsraum genutzt werden.

Die Kinder dürfen auch selbst aktiv werden und mit Materialien wie Lehm, Steinen und Blättern ihre Kreativität entfalten.
Die Kinder dürfen auch selbst aktiv werden und mit Materialien wie Lehm, Steinen und Blättern ihre Kreativität entfalten. © Michael Rauhe

So richtig Muße zum Gespräch hat Kathrin Milan an diesem Nachmittag nicht. Aber es ergibt sich ein Eindruck ihrer Vitalität und ihres kreativen Geistes. In Windeseile organisiert sie Wasser für Lehminseln, holt Frischfutter für Hühner, begrüßt neu ankommende Kinder. Die meisten sind zwischen sieben und zwölf Jahre alt. Sie werden von Eltern, Kitabetreuerinnen oder Lehrerinnen der benachbarten Grundschulen gebracht.

Etat von etwa 30.000 Euro im Jahr wird von Stiftungen und Privatfirmen getragen

So wie von Katrin Reiher, Pädagogin der Katholischen Bonifatiusschule aus dem Stadtteil. An diesem Tag ist sie mit Schülern der zweiten Klasse vor Ort. Seit rund zehn Jahren nutzt sie das inspirierende Angebot des Kreativgartens. In der Regel ist die 700 Quadratmeter umfassende Oase in Wilhelmsburg ganzjährig geöffnet, mit reduziertem Angebot in den Wintermonaten. Das Grundstück wird von der Stadt kostenfrei überlassen. Kathrin Milan bezeichnet die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Dienststellen als „herrlich unkompliziert“.

„Kinder lernen die Natur kennen und sehen, wie Obst und Gemüse wachsen“, sagt Katrin Reiher. „Sie können etwas anfassen, dürfen dreckig werden.“ Der Etat von etwa 30.000 Euro im Jahr wird von Stiftungen und Privatfirmen getragen. Die Bürgerstiftung Hamburg ist mit rund einem Drittel dabei. „Der Kreativgarten ist ein wichtiger Treffpunkt für die Nachbarschaft“, sagt Katja Conradi, stellvertretende Vorsitzende der Institution. „Kinder können hier kostenlos und direkt vor der Haustür aktiv werden. Für Kinder, die sich keinen Sportverein oder Kunstkurs leisten können, ist das eine wunderbare Möglichkeit, sich selbst auszuprobieren und dabei zu lernen.

Was das in der Praxis bedeutet, weiß die kindliche Kundschaft am besten. „Es macht richtig Spaß“, sagt die achtjährige Jolina beim Spielen mit Lehm, Kieselsteinen und kleinen Zweigen. „Ich kann schöne Sachen machen.“ Sieht man. Die Aufenthalte in Kathrins Kreativgarten brachten das Mädchen aus der zweiten Klasse auf den Geschmack. Daheim im Garten hilft sie ihrer Großmutter beim Gärtnern. Beide haben Radieschen, Tomaten und Salat ausgesät.

Ein friedlicher Begegnungsort für Menschen aus dem Stadtteil Wilhelmsburg

Respekt vor der Umwelt wächst so ganz natürlich. Während Soraya einem Plastikpanda und zwei Katzen auf ihrem Eiland aus Lehm und Blättern fantasievolles Leben einhaucht, erzählt sie von ihren Freizeitfavoriten. Kaninchen oder Hühner zu füttern bereitet ihr Vergnügen. Immer wieder schenkt sie auch der vierbeinigen Luisa Zuneigung. Keni pflanzt Zwiebeln, Sonnenblumen, Ostergras, Erdbeeren. Sommerliche Sternstunde ist das Chillen in der Hängematte links neben dem bunt bemalten Bauwagen. Vielleicht ganz gut, dass nicht jeder zuhört, was es mit Schulfreund Jack zu besprechen gibt. Beide Jungs sind acht Jahre alt – und plietsch.

„Gemeinsam schaffen Groß und Klein einen friedlichen Begegnungsort für Menschen aus dem Stadtteil Wilhelmsburg“, sagt Kathrin Milan. Herkunft, Status und Einkommen spielten dabei keine Rolle. Ein organisiertes „Bespaßungsprogramm“ sei nicht erforderlich, weil die Natur so viel zu bieten habe. Hand in Hand mit sieben Mitstreitern, teilweise Honorarkräften, fördere sie besonders die Entwicklung eines „respektvollen und künstlerischen Umgangs mit Natur und Tieren“. So können Kinder mit wenig Deutschkenntnissen, erhöhtem Förderbedarf oder einer Behinderung leicht integriert werden. Spielerisch.

„Wir haben einen Schutzengel“, sagt Mutmacherin Kathrin Milan: „Die Stadt stellt das Grundstück und lässt uns freie Hand.“ Täglich schreibt sie ein mit Fotos angereichertes Tagesprotokoll. Daraus entstehen jährliche Berichte. Das Projekt wächst und gedeiht.