Hildegard Hamm-Brücher hat jahrzehntelang die Bildungspolitik geprägt. Heute stellt sie sich den Fragen vom Hamburger Abendblatt.
Hamburg. Die langjährige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher hat jahrzehntelang die Bildungspolitik geprägt. Sie war Mitbegründerin der Zeitschrift "Lebendige Erziehung" und arbeitete von 1969 bis 1972 als Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium. Mit der Bundespräsidentschaftskandidatin von 1994 sprachen Matthias Iken und Karsten Kammholz.
Hamburger Abendblatt: Frau Hamm-Brücher, was halten Sie von der in Hamburg geplanten Schulreform?
Hildegard Hamm-Brücher: Grundsätzlich gilt: In der Bildung muss es Chancengerechtigkeit geben. Deswegen finde ich jeden Schritt weg vom ständisch gegliederten Bildungswesen hin zu einem offenen System richtig. Der Hamburger Senat sollte mutig für die Reform kämpfen. Aber er sollte auch einkalkulieren, dass er scheitern kann.
Abendblatt: Halten Sie längeres gemeinsames Lernen für geboten?
Hamm-Brücher: Ja, denn die Kinder müssen ihre Fähigkeiten in Ruhe entwickeln und unter Beweis stellen können. Wie gesagt, wir haben es hier noch mit den Eierschalen des ständisch gegliederten Schulsystems zu tun. Allein das Interesse der Eltern entscheidet derzeit, ob ein Kind in den Genuss von gymnasialer Bildung kommen darf. In bildungsfernen Elternhäusern gibt es diesen Ehrgeiz nicht immer. Aber daran darf ein talentiertes Kind nicht scheitern.
Abendblatt: Sie haben das Interesse der Eltern angesprochen. Die Privatschulen haben steigende Anmeldequoten. Ist das eine Bedrohung des staatlichen Bildungssystems - oder eine Bereicherung?
Hamm-Brücher: Wir brauchen Pluralität. Wir brauchen den Wettbewerb der Schulformen. Und ich kann die Eltern, die ihre Kinder in die Hände privater Schulträger geben, verstehen. Wir haben unser Schulsystem teilweise überreformiert.
Abendblatt: Zum Beispiel?
Hamm-Brücher: Nehmen wir das große Thema G 8. Zu glauben, man könne den Lehrstoff von neun Jahren einfach so in acht Jahre hineinstopfen, ist naiv. Wer reformieren will, sollte es wirklich ernst meinen mit einer Neuordnung der Lehrpläne.
Abendblatt: Studien belegen, dass wir in den 70er-Jahren weiter waren, was Bildungschancen angeht. Wie kann das sein?
Hamm-Brücher: Das stimmt. Ich möchte nur einmal an die 100. Kultusministerkonferenz 1964 erinnern. Da sprachen wir uns in der Berliner Erklärung dafür aus, den Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen mit einer Förderstufe bis zur sechsten Klasse zu erweitern. Das war ein selbstverständlicher Schritt damals.
Abendblatt: Warum fallen wir jetzt zurück hinter die früheren Erfolge im Schulsystem?
Hamm-Brücher: Weil jede politische Konstellation etwas anderes will als die davor regierende Konstellation. Es geht immer darum, es anders zu machen als vorher.
Abendblatt: Drücken Sie denn Schwarz-Grün die Daumen, dass die umstrittene Reform in Hamburg umgesetzt wird?
Hamm-Brücher: Ich habe sehr genau registriert, dass Herr von Beust die Reform will. Er hat ein Gespür für die Bedürfnisse in der Gesellschaft. Es geht bei der Reform um nichts anderes als die Demokratisierungsmöglichkeiten der Gesellschaft.
Abendblatt: Sie haben sich einmal als überzeugte Sozialliberale bezeichnet. Und jetzt loben Sie Schwarz-Grün.
Hamm-Brücher: Das ist aber nicht erstaunlich. Die Bandbreite der Demokratie ist größer und lebendiger geworden mit den Grünen. Und die CDU hat sich doch wahnsinnig geändert. Die konfessionell oder klerikal geprägte CDU gibt es nicht mehr. Sie hat sich in der Tat sozialdemokratisiert, wie manche sagen. Was CDU und Grüne in Hamburg machen, ist keine Avantgarde, sondern der Versuch, an längst vorhandene Anfänge anzuknüpfen.
Abendblatt: Braucht Hamburg einen Volksentscheid über die Schulbildung?
Hamm-Brücher: Mich betrübt es, dass die Fronten bei der Schulbildung derart verhärtet sind. Da war das gesellschaftliche Umfeld in den 60er-Jahren toleranter. Die Parteien sollten lieber bei der nächsten Wahl die Bürger entscheiden lassen, welche Bildungspolitik gewünscht wird.