Die Menschen sind noch immer geschockt von der Welle der Gewalt, die bei dem Überfall auf fünf Polizisten über das Quartier geschwappt ist.

Hamburg. Es ist ein Bild, das die Bezeichnung "beschaulich" verdient. Im Licht der Abendsonne sitzen vier Männer auf einer Parkbank und spielen Karten. Im Schatten der Platanen flanieren alte Frauen in langen Sommerröcken, eingehakt, im Gespräch vertieft. Auf der Wiese spielen zwei Mädchen Federball. In den Balkonkästen der umliegenden Wohnhäuser blühen üppig rote Geranien. Es ist warm. Und still. Eine Atmosphäre, die sich ein bisschen wie die Ruhe nach dem Sturm anfühlt.

Die Menschen hier sind noch immer geschockt von der Welle der Gewalt, die am Sonnabend bei dem Überfall junger Männer auf fünf Polizisten über das Quartier geschwappt ist. Eine Eskalation der Brutalität, für die niemand bisher so recht eine Erklärung hat. Ein punktuelles Ereignis, auf das nichts hingedeutet hat. Weil der letzte Vorfall, der diesen Stadtteil in die Schlagzeilen katapultiert hat, 13 Jahre zurückliegt.

Und weil nach dem erschütternden Selbstmord von Mirco Sch. 1997 zahlreiche Neuwiedenthaler angefangen haben, sich zu vernetzen und die Gestaltung ihrer Umgebung selbst in die Hand zu nehmen. Um das hässliche Bild zu korrigieren: Neuwiedenthal - anonymes Hochhausviertel und Problemstadtteil, Quartier der Hoffnungslosigkeit und Gefahrengebiet. Letzteres ist Neuwiedenthal wieder offiziell. Ausgerufen von der Innenbehörde, als handele es sich um ein Kriegsgebiet, in dem man nach Einbruch der Dunkelheit am besten nicht mehr vor die Tür geht.

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Es sind die Zahlen auf der einen Seite, die Neuwiedenthal ein eher betongraues Image geben. Zahlen, die belegen, dass das Viertel zwischen Neugraben und Hausbruch, am südlichen Stadtrand, ein sozialer Brennpunkt ist. 13 421 Einwohner sind hier zu Hause, 13 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Es gibt 3113 Sozialwohnungen. In den Hochhäusern und viergeschossigen Wohnhöfen leben 2185 Ausländer, das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 16,3 Prozent. Es sind Menschen aus 80 Nationen, die sich hier tummeln und das Miteinander versuchen. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Polizei 1350 Straftaten, davon 35 schwere Körperverletzungen.

Und es sind die Menschen auf der anderen Seite, die der Großsiedlung ein eher buntes Gesicht verpassen. Menschen, die hier zu Hause sind, die nicht nur am Rand der Stadt, sondern oft auch am unteren Rand der Gesellschaft leben. Bernhard Fork zum Beispiel, 57 Jahre alt, Gärtner, berufsunfähig. Er sagt Sätze, über die es sich nachzudenken lohnt: "Wenn man hier lebt, muss man sich nach unten anpassen." Fork ist vor zehn Jahren nach Neuwiedenthal gezogen. Er hat eine Wohnung, viel Zeit, manchmal Depressionen. Und keine Perspektive. Seine Vormittage verbringt er in der Bäckerei Finck am Rehrstieg, direkt gegenüber der Einkaufspassage. Er trinkt schwarzen Kaffee, schaut aus dem Fenster auf die gegenüber liegenden Hochhäuser. Ab und zu wechselt er ein paar Worte mit der Verkäuferin.

Heidi Berger, 53, kennt das Viertel. "Manchmal fühle ich mich schon bedroht", sagt sie. Abends im Winter zum Beispiel, wenn sie die Backstube durch den Hinterausgang verlassen muss - und die Straße menschenleer und dunkel ist. Oder tagsüber im Laden, wenn plötzlich ein paar Jugendliche im Verkaufsraum stehen und warten. Warten, dass Heidi Berger endlich nach hinten in die Backstube verschwindet - und die Kasse für einen Moment unbeobachtet lässt. "Es hat sich hier in den vergangenen Jahrzehnten viel verändert", sagt sie. "Viele Alteingesessene sind weggezogen. Auch die Türken sind weniger geworden. Stattdessen kommen immer mehr Russen und Ukrainer."

Irina Jegel ist eine von ihnen. 2000 ist sie aus der Ukraine nach Hamburg gekommen. Sie ist 62 Jahre alt, trägt einen strengen Knoten im Nacken und spricht fließend Deutsch. Jeden Tag von 14 bis 22 Uhr sitzt sie in der Loge der Seniorenwohnanlage "Neuwiedenthaler Weitblick". Das Haus hat 17 Stockwerke, acht Wohnungen in jeder Etage. Vom oberen Stockwerk hat man einen traumhaften Blick über das Urstromtal bis zur Elbe. 136 Menschen leben hier. Ein Viertel davon kommt aus Russland.


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Das Gebäude am Striepenweg 40 ist eines der Vorzeigeobjekte Neuwiedenthals. Die Wohnungen sind saniert, das Treppenhaus ist sauber. Die Fahrstühle funktionieren. Auch weil hier nur reinkommt, wer die Loge passiert. "Früher haben die Jugendlichen hier die Wände bemalt, Betrunkene haben ins Treppenhaus uriniert, die Bewohner waren verängstigt", sagt Mitarbeiterin Ingelore Kirchner. "Seit wir hier aufpassen, fühlen sich die Mieter wohl." Es gebe sogar eine Warteliste. "Ellenlang", wie Frau Kirchner betont. "Mit Anfragen aus dem ganzen Stadtgebiet bis hoch nach Barmbek."

Die Hochhäuser am Striepenweg galten einst als Problemhäuser. Dann aber hat die Saga GWG, der größte Vermieter im Stadtteil, viel Geld in die Wohnanlagen investiert. "Rund die Hälfte unserer 2280 Wohnungen sind seit 2002 saniert worden", sagt Sprecher Mario Spitzmüller. Dafür hat das städtische Unternehmen 44 Millionen Euro aufgewendet. Geld, das das Viertel sichtbar auf Vordermann gebracht hat.

Und auch die Stadt hat Millionen in ein sogenanntes Revitalisierungsprogramm gesteckt. Von 1995 bis heute sind im Rahmen der Stadtteilentwicklung Investitionsmittel in Höhe von 4,7 Millionen Euro bereitgestellt worden. Es wurden Spielplätze gebaut, eine Inliner- und Skateboardbahn errichtet. Es gibt ein Haus der Jugend, einen Mädchentreff, das Stadtteilhaus und ein Jugendcafé. Es gibt zwei Straßensozialarbeiter, Projekte für interkulturelle Bildung und Einrichtungen, in denen Jugendliche bei der Ausbildungssuche, Bewerbungen, Drogenproblemen oder Schuldenregulierung beraten werden. 15 Vollzeitkräfte beschäftigt allein die Stadt.

Hanna Waeselmann ist Sozialplanerin und arbeitet bei ProQuartier, einer Tochter-Gesellschaft von Saga GWG. Die 25-Jährige ist studierte Diplom-Geografin und spricht davon, dass nach dem Tod von Mirco Sch. "ein Ruck durch den Stadtteil" gegangen ist. "Neuwiedenthal ist kein Getto. Hier gibt es keine Gangs und keine Angst", sagt die zierliche Frau, die sehr gekonnt Netzwerke herstellt. Und nun berichten kann, dass es "für Jugendliche sehr viele Möglichkeiten" gebe, was beispielsweise in Neugraben nicht mehr der Fall sei. Auch wenn es "natürlich immer ein paar gibt, die man nicht erreicht".

Bereits 2003 wurde ein Stadtteilmarketingkonzept erarbeitet, um die soziale und kulturelle Infrastruktur des Stadtteils zu verbessern. Nun gebe es "ein jährliches Dorffest, eine Stadtteilzeitung, eine eigene Homepage". Ein weiterer wichtiger Konzeptbaustein war die Revitalisierung des Gemeinschaftshauses und dessen Erweiterung zum "Stubbenhaus".

Mieter wurden befragt, und heute trägt das Stubbenhaus als zentraler Treff im Quartier mit Freizeit-, Kultur- und Bildungsangeboten viel zur Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen und zur Verbesserung der Nachbarschaft bei. 2008 wurde das Projekt "Quartier Stubbenhof" im Rahmen des Wettbewerbs "Familie gewinnt!" als eines der familienfreundlichsten Wohnquartiere ausgezeichnet.

Es dürfte nicht viele Menschen geben, die sich in Neuwiedenthal besser auskennen als Susanne Lindenlaub-Borck. Deshalb kommt man bei der Spurensuche und der Frage, was die Menschen im Viertel umtreibt, an der engagierten Pastorin nicht vorbei. Seit 26 Jahren ist sie in der Thomasgemeinde. Und vor dreizehn Jahren hat sie mit anderen Menschen den Förderverein Neuwiedenthal ins Leben gerufen.

Aus traurigem Anlass. "Im Januar 1997 hatte Mirco sich das Leben genommen. Er war über längere Zeit erpresst und bedroht worden und hatte niemandem etwas erzählt", sagt sie. "Seinen Tod haben wir wahrgenommen wie einen Aufschrei gegen die Kultur des Wegguckens in unserem Stadtteil. Wir waren sehr erschrocken, was wir alles nicht gemerkt und gewusst haben."

Sie haben dann hingeguckt. Und sie haben für und mit den Jugendlichen einen neuen Treffpunkt entwickelt. Eine Alternative zur Straße und auch zum Haus der Jugend, bei dem "immer wieder Gehälter gespart wurden, wenn Stellen nicht sofort wieder besetzt worden sind". Das Grundstück gab's von der Stadt, und für 400 000 Euro von der Stadtentwicklungsbehörde entstand das Jugendcafé, das in diesen Tagen elfjähriges Bestehen feiert. Für die Betriebskosten muss der Förderverein aufkommen. Das Café, in dem auch geboxt und gekocht wird, ist auch sonntags geöffnet und mittlerweile Anlaufstelle für rund 80 Besucher. Überwiegend Jungen, oft mit Migrationshintergrund.

"Das Wichtigste sind verlässliche Ansprechpartner für die Jugendlichen", sagt Susanne Lindenlaub-Borck. Und dass Gewaltprävention nur dann funktioniere, wenn daran auch eine Beratung bei der Berufsorientierung anschließt. Das bedeutete eine zusätzliche halbe Stelle.

Aber woher das Geld nehmen? Zuerst sprang der Kirchenkreis Harburg ein, dann finanzierte die Stadt ein Jahr lang die Stelle. Und danach war Schluss. 23 000 Euro wurden eingespart. Jetzt sind die Rotarier mit 6000 Euro zu Hilfe geeilt. "Konkret sind das acht Beratungsstunden in der Woche", sagt Lindenlaub-Borck.

Es ist wichtig, diese Zahlen zu kennen, wenn man über Chancen und Perspektiven für junge Menschen spricht. Deren Bewerbungen, so die Pastorin, oftmals gleich im Papierkorb landeten, wenn nämlich als Absender eine Adresse aus Neuwiedenthal erscheint. Ein Stadtteil, "in dem auf engem Raum viele Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen leben". Ein Stadtteil aber auch, in dem sich "unglaublich viele Menschen ehrenamtlich engagieren". Dafür gibt es seit einigen Jahren sogar einen Preis, wenn eine Jury den "Neuwieden-Taler" verleiht. Zum Beispiel an Georg Peters und Henry Richter, die Initiatoren für den Bürgerprotest "Unser Freibad muss erhalten bleiben". Oder Ursel Hörnig, die mit ihren 79 Jahren jede Woche Schulaufgabenhilfe im Stadtteilhaus macht und zusätzlich Märchen in der Kita Hotzenplotz vorliest.

Es gibt den DRK-Kinderteller, die Stiftung Mittagskinder und den Verein Hilfspunkt, der vor allem Kinder aus Migrantenfamilien für Kunst und Kultur begeistern soll.

"Neuwiedenthal ist kein leichtes Pflaster. Es ist ein Quartier mit durchaus großen sozialen Problemen. Neuwiedenthal ist aber kein Getto. Hier wohnen viele Menschen, die es nicht immer leicht im Leben haben. Aber genauso viele Bürgerinnen und Bürger leben hier sehr gern", sagt Bezirksamtsleiter Torsten Meinberg.

So wie Julia Kirchner und Julia Thiem. Die beiden sind 17 Jahre alt - und damit zwei von 2962 Menschen unter 18 Jahren, die in der Siedlung zu Hause sind. Das ist mehr als ein Viertel der Einwohner. Die beiden jungen Frauen treffen sich meistens im Park am Drachenspielplatz mit anderen Freunden. Manchmal gehen sie ins Jugendcafé. "Klar gibt es hier auch Gangs", sagt Julia Thiem. "Denen geht man aus dem Weg. Dann passiert auch nichts." Gewalt haben die beiden noch nie erlebt. Keine Prügelei, keine dummen Anmachen. "Hier kennt doch jeder jeden", sagt Julia Kirchner. "Das ist wie auf dem Dorf."

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Carlo Weiß kann das nur bestätigen. Der Sinti lebt mit seiner Familie seit 25 Jahren in Neuwiedenthal. Gemeinsam mit Ehefrau Nicole, den Kindern Vanessa und Lito bewohnt er eine 100-Quadratmeter-Wohnung gleich gegenüber vom Stadtteilhaus Stubbenhof. Vier Zimmer, 900 Euro Warmmiete. "Hier ist alles friedlich", sagt er. "Wir haben noch nie Ärger gehabt." Das Problem sei doch, dass die Jugendlichen im Stadtteil oft keine Perspektiven hätten. "Die wissen dann nicht, wohin mit sich. Was junge Menschen brauchen, sind Ziele."

Wer die nicht hat, hängt eben rum. Das weiß auch Ricardo Böhm. Der 15-Jährige besucht die Schule Neugraben. In diesem Sommer beendet er die achte Klasse. Er will Maler werden, wenn er seinen Realschulabschluss in der Tasche hat. Und in Neuwiedenthal wohnen bleiben. Von seinen Kollegen weiß er, wie schwer es ist, einen Job zu bekommen. "Da trifft man sich schon mal an den Straßenecken und ist frustriert", sagt er. "Aber Ärger gibt es eigentlich nie."

Diese Frustration zu nehmen, Perspektiven zu erarbeiten und Ziele zu setzen, hat sich Carlo Weiß zur Aufgabe gemacht. Jeden Mittwoch um 17 Uhr trifft er sich mit Kindern im Stadtteilhaus. Sie spielen, sie essen gemeinsam. Sie reden. Über das, was sie im Leben erreichen wollen, über ihre Probleme und Ängste. Carlo Weiß macht ihnen Mut und erklärt, wie sie Konflikte lösen und Streit aus dem Weg gehen können.

Die alten Männer spielen immer noch Karten. Hundert Meter weiter sitzt Mateusz W. mit seinen Freunden. Seine Festnahme war der Auslöser für die Eskalation der Gewalt. Sie hat buchstäblich schlagartig einen farbenfrohen Stadtteil wieder ergrauen lassen. Und sie kostet vielleicht einen Polizisten das Augenlicht.