Entsetzen nach der Misshandlung einer jungen Frau. Der mutmaßliche Täter Berhan I. war gerade erst aus der U-Haft entlassen worden.
Hamburg. Jetzt melden sich auch die Richter zu Wort. Gleich mehrfach ist die Rede von "Betroffenheit", wenn sich Landgerichts-Präsidentin Sibylle Umlauf und Marc Tully, Vorsitzender des Hamburgischen Richtervereins, zu der Justizpanne äußern, in deren Folge die beiden jugendlichen Angeklagten des "20-Cent-Prozesses" aus der Untersuchungshaft entlassen wurden. Und wenn es um die schwere Straftat geht, die einer der beiden, Berhan I., in der vergangenen Woche erneut verübt hat. Der 17-Jährige hat, wie berichtet, seine Freundin ins Krankenhaus geprügelt, angeblich weil sie nicht für ihn als Prostituierte arbeiten wollte.
Im Fokus der öffentlichen Kritik steht die Große Strafkammer 27. Die erste Hauptverhandlung war am 22. April geplatzt, weil eine Richterin nicht fristgerecht zur Prozess-Fortsetzung erschienen war. Sie saß wegen der Vulkanaschewolke und des Flugverbots in Spanien fest. Und dann hatte der Vorsitzende Richter den Beginn der Wiederholungsverhandlung so spät terminiert, dass die Angeklagten nach einem Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Mitte Mai aus der U-Haft entlassen werden mussten.
"Es macht uns sehr betroffen, dass ein weiteres Opfer zu Schaden gekommen ist", sagte Marc Tully. "Dass der Fehler in naturwissenschaftlicher Hinsicht kausal war, liegt auf der Hand" - ohne Aschewolke kein Abbruch der ersten Verhandlung, ohne fehlerhafte Terminierung keine Entlassung, ohne Entlassung keine neuerliche Gewalttat von Berhan I.
"Das Landgericht ist betroffen über die aktuellen, weiteren Geschehnisse im sogenannten 20-Cent-Fall", sagte Landgerichts-Präsidentin Umlauf gestern. Gleichzeitig relativierte sie aber die Verantwortung der Justiz. Der OLG-Beschluss basiere auf einer "anderen rechtlichen Einschätzung" als derjenigen des Richters.
Berhan I. ist einer der zwei Angeklagten im "20-Cent-Prozess". Gerade sechs Wochen wieder auf freiem Fuß, rastete der Jugendliche erneut aus: Am vergangenen Donnerstag prügelte er wie von Sinnen auf seine Freundin auf dem Pausenhof ihrer Berufsschule ein und brach ihr das Wadenbein. Seit Sonnabend befindet sich der 17-Jährige daher wieder in U-Haft.
Er steht aktuell mit seinem ebenfalls vorbestraften Freund Onur K., 17, vor Gericht. Der Vorwurf der Anklage: Sie sollen einen 44 Jahre alten Dachdecker am Bahnhof Harburg totgeprügelt haben, nachdem sie ihn erfolglos um 20 Cent angebettelt hatten.
Der Fall ist der traurige Höhepunkt einer ganzen Reihe von Gewalttaten im Leben des Berhan I. Nur zehn Tage nach der Bluttat in Harburg hatte er am 22. Juni 2009 erneut eine schwere Schlägerei angezettelt. Er packte eine 17 Jahre alte Schülerin auf dem Hof der Schule Fährstraße (Wilhelmsburg) an den Handgelenken. Als sie sich mit einem Fußtritt befreien konnte, schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht und trat sie. Zu diesem Zeitpunkt wusste Berhan I., dass er gesucht wurde. Von dem Angriff auf die 17-Jährige hatte ihn das ebenso wenig abgehalten wie auch der laufende Prozess von der vorerst letzten Tat in der vergangenen Woche. Die Staatsanwaltschaft hat Berhan I. wegen der Tat vom 22. Juni vergangenen Jahres bereits fünf Wochen später angeklagt. Das bestätigte Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers auf Anfrage. Das Gerichtsverfahren ist aber noch nicht eröffnet worden. Offenbar sollte der 20-Cent-Fall vorrangig verhandelt werden.
Ermittlungen und Anklagen wegen Schlägereien ziehen sich wie ein roter Faden durch die kriminelle Karriere des Jugendlichen. Im März 2009 hatte es eine Anklage gegen ihn wegen gefährlicher Körperverletzung gegeben. Berhan I. hatte einem Jugendlichen eine Flasche auf den Kopf geschlagen. Die Hauptverhandlung konnte damals allerdings durch einen Täter-Opfer-Ausgleich vermieden werden: Weil Berhan I. sich bei dem Opfer entschuldigt hatte, sah das Gericht von einem Verfahren ab. Dabei erlegte ihm ein Gericht nur wenige Monate zuvor ebenfalls wegen eines Körperverletzungsdelikts Arbeitsleistungen sowie einen sozialen Trainingskursus auf.
Zum ersten Mal fiel Berhan I. der Polizei im Alter von 14 Jahren auf. Im Januar 2007 beging er einen Raub in Stade. Zwei Monate später war er in eine Schlägerei in Buxtehude verwickelt, ein Monat darauf wurde dort wegen gefährlicher Körperverletzung gegen ihn ermittelt. Auch im März 2008 fiel er wegen einer gefährlichen Körperverletzung in Harburg auf.
Berhans Mutter gibt dem Jugendamt die Schuld an dem Werdegang ihres Sohnes. Das Sorgerecht liegt seit dem 9. Februar 2009 beim Jugendamt Mitte, weil Berhans Familie mit der Erziehung offenbar überfordert war. Anfang dieses Jahres hatte das Familieninterventionsteam die "Fallzuständigkeit" übernommen. "Das Jugendamt hat das Sorgerecht", sagt sie. "Mich trifft keine Schuld. Ich habe damit nichts zu tun."