Am ersten Verhandlungstag im Fall des unterernährt gestorbenen Mädchens aus Wilhelmsburg wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen.
Hamburg. Als sie in den Raum kommen, haben sie ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Von ihren Verteidigern werden die beiden Angeklagten durch die Traube von Kameraleuten und Berichterstattern in Saal 337 gelotst. "337" ist einer der größten Säle im Landgericht. Doch selbst hier finden nicht alle Prozessbeobachter einen Platz.
Im März 2009 ist die kleine Lara-Mia aus Wilhelmsburg im Alter von 9 Monaten unterernährt gestorben, ihre Mutter und ihr Stiefvater haben nichts dagegen unternommen. Völlig gleichgültig sei ihnen das Schicksal des Mädchens geworden, wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor. Seit gestern müssen sich dessen Mutter Jessica R., 19, und deren damaliger Partner Daniel C., 22, vor dem Landgericht verantworten.
+++ Behörde und Bezirk legen Streit im Fall Lara bei +++
Es passiert nicht viel am ersten Verhandlungstag: keine Geständnisse, keine Zeugen, keine Gutachten. Stattdessen verkündet die Große Strafkammer 17 einen zweifelhaften Beschluss: Sie schließt die Öffentlichkeit trotz der Proteste von Staatsanwältin Britta Bösenberger von der Verhandlung aus. Nur die Urteilsverkündung wird öffentlich sein. Für die Aufklärung der Tatvorwürfe, so die Kammer, sei eine intensive Befassung mit den sozialen, familiären und partnerschaftlichen Verhältnissen der Angeklagten erforderlich. Die Berichterstattung indes könne ihre Entwicklung "erheblich beeinträchtigen".
Die Staatsanwältin konfrontiert die Angeklagten mit einer ganzen Reihe von Vorwürfen. "Versuchter Totschlag durch Unterlassen" ist der gravierendste. Als Versuch ist die Tat nur deshalb qualifiziert, weil die Staatsanwaltschaft nach umfangreichen rechtsmedizinischen Untersuchungen nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen kann, dass Lara-Mia nicht doch an einem plötzlichen Kindstod starb. Laut Anklage haben die beiden das Mädchen über Monate gequält, indem sie es nicht ausreichend mit Nahrung versorgten. Der Säugling magerte auf 4802 Gramm ab - halb so viel wie für ein Kind in dem Alter üblich. Jessica R. und ihr Freund hätten sehen müssen, dass Lara-Mia ab Februar lebensbedrohlich unterernährt gewesen sei. Die beiden hätten ihren Tod somit billigend in Kauf genommen.
Dabei kümmerte sich auch der Staat um die junge Familie. Marianne K., eine erfahrene Sozialarbeiterin, stand Jessica R., die mit 17 schwanger geworden war, schon vor der Geburt von Lara-Mia zur Seite. Besonders angetan war sie von der Fürsorge, die ihr Schützling seinen Haustieren - ein Hund, eine Hase, eine Ratte - angedeihen ließ. Acht Tage vor dem Tod von Lara-Mia begutachtete sie das Mädchen. Es gebe absolut keinen erkennbaren Grund, daran zu zweifeln, dass es dem Kind gut gehe, erzählte sie später den Ermittlern. Im Februar setzte ihr Großvater die Kleine in einem Supermarkt auf eine Gemüsewaage - da wog sie nur 1370 Gramm mehr als bei der Geburt.
Am 11. März 2009 ist Lara-Mia tot. Rettungskräfte finden sie auf dem Boden neben dem Kinderbettchen mit der verschmutzten Matratze. Jede Hilfe kommt zu spät, die Leichenstarre hat schon eingesetzt. Durch die Mangelernährung war das Längenwachstum eingestellt, die Organentwicklung gestört. "Der Fettanteil in ihrem Körper war aufgezehrt", sagt die Staatsanwältin.
Jessica R. schweigt am ersten Verhandlungstag. Knapp antwortet sie auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob sie Angaben zu den Tatvorwürfen machen wolle. "Heute nicht!" Ihr Ex-Freund, der auf den Boden starrt, sagt: "Ich verzichte!" Er hat eine hohe, etwas fistelige Stimme. Das passt zur schmalen, fast kindlichen Statur von Daniel C., der sich in diesem Prozess genauso verantworten muss wie seine Ex-Freundin. "Er hat mit der Mutter zusammengelebt und Fürsorgepflichten übernommen", sagt Wilhelm Möllers, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Nach 15 Minuten wird die Verhandlung vertagt. Vorm Gericht umarmen sich Daniel C. und Jessica R. Kurz nach dem Tod des Babys hatten sie sich getrennt. Sie sei die Bestimmerin in der Beziehung gewesen, fast radikal in ihrem Freiheitssinn, sagt der Verteidiger von Daniel C., Ulf-Diehl Dreßler. Aus Angst, das Jugendamt werde ihr das Baby wegnehmen, soll sie Arztbesuche verweigert haben.
Die Idee, das ausgemergelte Mädchen auf eigene Faust zum Kinderarzt zu bringen, habe sein Mandant damals verworfen, weil er fürchtete, dass sich Jessica R. dann von ihm trennen würde. Seit einem Jahr plagen ihn Selbstvorwürfe, sagt Dreßler. "Er ist bis in die Grundfesten erschüttert." Ob der junge Mann aussagen werde, hänge von seiner psychischen Verfassung ab. "Er ist nicht der Stabilste." Welche Strafe den Angeklagten droht, ist unklar und abhängig davon, ob Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht angewendet wird. Die Anwendung des milderen Jugendrechts gilt als wahrscheinlich: In Hamburg entscheiden sich die Gerichte in 86 Prozent der Fälle, in denen Heranwachsende betroffen sind, für das Jugendstrafrecht.
Verteidiger Dreßler sieht die Hauptverantwortung bei der Berufsbetreuerin vom Rauhen Haus, Marianne K. Verhandelt wird gegen sie vor dem Amtsgericht Harburg wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen. Es ist absehbar, dass sich die Verteidigung für mögliche Betreuungspflichtverletzungen von Marianne K. interessieren wird. Dreßler gibt einen kleinen Vorgeschmack: Die Betreuerin habe seinem Mandanten kurz vor dem Tod der stark abgemagerten Lara-Mia gesagt, dass sie in den Urlaub fahren werde, danach könne "man mal zum Arzt gehen".
Auch Marianne K. müsse neben Daniel C. und Jessica R. auf der Anklagebank in diesem Prozess sitzen. Tatsächlich bringt die Trennung der Verfahren die Strategie der Verteidigung in Gefahr: Marianne K. wird in dem Verfahren gegen Daniel C. und Jessica R. als Zeugin geladen, hat aber das Recht, die Aussage zu verweigern - um sich nicht selbst zu belasten.