Hamburg. Bestimmungen zur Richterwahl sollen in der Verfassung verankert werden; Hamburg startete 2019 Initiative gegen Aushöhlung des Grundgesetzes.
Polen und Ungarn sind die warnenden Beispiele in Europa: Auch mit völlig legalen Mitteln kann der Rechtsstaat Schritt um Schritt ausgehöhlt werden. Nach mehrjähriger Diskussion hat der Bundestag auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP am heutigen Donnerstag beschlossen, Status und zentrale Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz zu schreiben, um sie damit dem Zugriff einfacher Mehrheiten im Parlament zu entziehen. Doch auch in Hamburg gibt es jetzt Bestrebungen, den Rechtsstaat auf Landesebene resilienter, also widerstandsfähiger, zu machen.
Nun ist die Lage in Hamburg kaum mit der in den genannten Staaten oder in den ostdeutschen Ländern zu vergleichen, in denen die populistischen Kräfte am rechten und linken Rand des politischen Spektrums stark gewachsen sind. Das sehen die vier Fraktionen von SPD, Grünen, CDU und Linken in der Bürgerschaft ähnlich. „Auch wenn die politischen Verhältnisse in Hamburg nach wie vor stabil sind und autoritäre Kräfte bisher weit davon entfernt sind, bestimmenden Einfluss zu gewinnen, gilt es frühzeitig Vorkehrungen gegen eine Schwächung der rechtsstaatlichen Institutionen zu treffen“, heißt es in einem Antrag der vier Fraktionen.
So wollen SPD, Grüne, CDU und Linke den Rechtsstaat schützen
Die Zeit drängt: Nur noch dreimal tritt die Bürgerschaft planmäßig vor dem Ende der Legislaturperiode und den Neuwahlen am 2. März zusammen. In dem gemeinsamen Antrag haben sich SPD, Grüne, CDU und Linke jetzt darauf verständigt, wichtige Vorgaben des in der Öffentlichkeit nicht sehr sichtbaren Richterwahlausschusses in der Hamburgischen Verfassung zu verankern. „Der Richterwahlausschuss nimmt im Gefüge der Verfassungsinstitutionen in Hamburg eine zentrale Rolle ein: Er wählt alle Richter:innen (sic!) und Staatsanwälte und entscheidet über die Besetzung wichtiger Beförderungsstellen bis zu den Gerichtspräsidentschaften. Er sorgt somit zusätzlich zur herausragenden fachlichen Qualifikation der richterlichen Beschäftigten in Hamburg für eine demokratische Legitimation“, heißt es in dem fraktionsübergreifenden Antrag.
Der Richterwahlausschuss ist eine besondere Konstruktion, weil Vertreter aller drei Staatsgewalten in ihn entsandt werden, die im Prinzip für eine breite demokratische Absicherung sorgen. Dem Ausschuss gehören drei Mitglieder des Senats an sowie sechs „bürgerliche“ Mitglieder, die von der Bürgerschaft gewählt werden, drei Richterinnen und Richter sowie zwei Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen an, die ebenfalls von der Bürgerschaft gewählt werden. Die Richter werden auf Vorschlag der Richterschaft vom Senat berufen.
Mit der Verfassungsänderung soll verhindert werden, dass eine Minderheit die Arbeit blockieren kann
Die Zusammensetzung des Gremiums ist zwar in der Verfassung verankert. Die Bestimmung, dass die Bürgerschaft die sechs bürgerlichen Mitglieder und die beiden Anwälte wählt, steht jedoch nur im Richtergesetz, kann also aktuell noch mit einfacher Mehrheit in der Bürgerschaft geändert werden. Deswegen wollen die vier Fraktionen die Wahlregelung künftig in die Verfassung schreiben, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit in der Bürgerschaft geändert werden kann.
Außerdem soll die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses verfassungsmäßig abgesichert werden. So soll in der Verfassung festgeschrieben werden, dass sich der Richterwahlausschuss konstituieren kann, wenn mindestens vier der sechs bürgerlichen Mitglieder gewählt sind. Dahinter steht folgende Überlegung: Wenn zum Beispiel der AfD aufgrund ihrer Fraktionsstärke in der Bürgerschaft das Vorschlagsrecht für ein Mitglied zusteht, kann es passieren, dass die anderen Fraktionen den Vorschlag ablehnen. Dann bliebe der Posten unbesetzt, und der Richterwahlausschuss könnte seine Arbeit trotzdem aufnehmen und erforderliche Wahlen von Richterinnen und Richtern vornehmen.
Es bleiben nur noch drei reguläre Sitzungen der Bürgerschaft bis zur Neuwahl am 2. März
Dem gleichen Zweck, einer möglichen Blockade der Wahl der Mitglieder des Ausschusses entgegenzuwirken, dient auch die geplante Festlegung in der Verfassung, dass der amtierende Richterwahlausschuss auch nach Ablauf der dreijährigen Wahlperiode seine Arbeit geschäftsführend weiterführen kann, bis ein neuer Ausschuss gewählt ist. Dies soll laut Antragsentwurf „längstens jedoch bis zum Ende der auf die Bildung des amtierenden Richterwahlausschusses folgenden Wahlperiode der Bürgerschaft“ möglich sein.
„Wir sichern bewährte Regelungen im Hamburgischen Richtergesetz verfassungsrechtlich ab und stabilisieren damit den Richterwahlausschuss, um den uns andere Bundesländer insbesondere im Hinblick auf seine plurale Zusammensetzung aus Richtern, Anwälten, Abgeordneten und Senatsmitgliedern beneiden. Dadurch wird sichergestellt, dass einfache Parlamentsmehrheiten die Entscheidungsstrukturen eines sich durch hohe Fachkompetenz auszeichnenden Gremiums nicht beeinträchtigen können“, sagt Urs Tabbert, justizpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Grünen-Politiker Till Steffen gab 2019 als Justizsenator den Anstoß für die jetzt beschlossene Reform
„Wir möchten mit unserer Initiative sicherstellen, dass der Ausschuss auch in dem zwar unwahrscheinlichen, unter derzeitiger Rechtslage aber nicht auszuschließenden Fall des Versuchs politischer Einflussnahme, geschützt ist. Unsere Justiz in Hamburg und Deutschland ist unabhängig und muss dies auch in Zukunft sicher bleiben“, sagt der CDU-Justizpolitiker Richard Seelmaecker. Nach einer Beratung der Gesetzentwürfe im Justizausschuss blieben noch zwei Sitzungen der Bürgerschaft am 12. und 26. Februar für die erforderlichen zwei Lesungen der Verfassungsänderung.
Dass der Bundestag am gestrigen Donnerstag mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP ebenfalls zentrale Bestimmungen zur Wahl und zur Arbeit des Bundesverfassungsgerichts ins Grundgesetz geschrieben hat, hat allerdings einen ungleich längeren Vorlauf. Ganz am Anfang stand eine Initiative aus Hamburg. Der damalige Justizsenator und heutige Bundestagsabgeordnete Till Steffen (Grüne) hatte am 7. November 2019 unter dem Titel „Das Grundgesetz krisenfest machen“ einen Beschlussvorschlag für die Justizministerkonferenz eingebracht. „Die Justizminister und -ministerinnen der Länder bitten die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz (damals Christine Lambrecht, SPD, die Red.), institutionelle und normative Schwachstellen zu identifizieren, die zur Aushöhlung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes genutzt werden könnten und über diese sowie über Lösungsansätze und Reformvorschläge zu berichten“, hieß es in dem Antrag.
Die Landesjustizminister beschlossen 2023 Schritte gegen „die mögliche Aushöhlung der Verfassungsordnung“
Steffens Vorstoß scheiterte damals, aber eine Initiative seiner Nachfolgerin Anna Gallina (Grüne) zusammen mit ihren Amtskolleginnen in Sachsen und Thüringen hatte im November 2023 auf Länderebene Erfolg. In dem damals beschlossenen Antrag hieß es nun, die Justizminister der Länder seien sich einig, dass es „Anlass zu vorbeugenden Maßnahmen gibt, um eine mögliche Aushöhlung der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu verhindern“. Parallel kam auch die Verständigung zwischen der ehemaligen Ampel-Koalition und der Unions-Fraktion im Bundestag in Gang.
Steffen erinnert gegenüber dem Abendblatt daran, dass eine Mehrheit der Justizminister 2019 keinen Handlungsbedarf bei seinem Plädoyer sah, das Grundgesetz krisenfest zu machen. „Es gäbe keine akute Gefahr, hieß es. Krisenfest bedeutet aber, auf künftige Gefahren vorbereitet zu sein. Heute durchzieht die Frage der Krisenfestigkeit alle Bereiche der Gesellschaft. Ich freue mich, dass es mittlerweile Konsens ist, dass das Bundesverfassungsgericht besser geschützt werden muss. Das war harte Überzeugungsarbeit“, sagt Steffen.
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„Mit dieser Reform stellen wir in den Ländern und im Bund parteiübergreifend unter Beweis, dass wir den Willen und die Kraft haben, unsere Demokratie zu schützen und die Wehrhaftigkeit gegen Verfassungsfeinde deutlich zu stärken. Mit dieser Reform haben wir ein Schutzschild entwickelt, um das Bundesverfassungsgericht gegen Angriffe von und Instrumentalisierung durch autokratische und extremistische Kräfte zu schützen“, sagt Justizsenatorin Gallina.