Hamburg. Für die Bewohner ist hier Endstation. Einrichtung versorgt schwerst Abhängige mit Alkohol – ohne den würde es niemand durch den Tag schaffen.
- Im Hamburger Pflegeheim Haus Öjendorf erhalten Bewohner Alkohol und Nikotin
- Die Pflegebedürftigen sind süchtig – ohne Wein und Bier würde es niemand durch den Tag schaffen
- Für die Menschen in der Einrichtung zählt: Viel Promille für wenig Geld
Meistens sind die Ersten schon 30 Minuten vorher da. Wenn sie eine schlimme Nacht hatten und es kaum noch aushalten können, auch noch früher. 60 Minuten, 70 oder 80. Die Zeit spielt in ihrem Leben keine Rolle mehr, aber die Wartezeit ist schlimm für sie. Warten, ausharren, aushalten.
Aushalten, dass es kaum noch auszuhalten ist. Das Herzrasen, Schwitzen, Zittern. Die Sehnsucht. Die Sucht.
Raum 1212a ist ein karger Lagerraum im ersten Obergeschoss, vielleicht 13 oder 14 Quadratmeter groß. Linoleumboden, weiße Wände, schwere Lastenregale. Doch die Menschen, die sich schon um halb sieben oder sieben vor der verschlossenen Tür versammeln, brauchen ihn mehr als alles andere zum Leben. Zum Überleben.
Alkohol trinken bis zum Tod: In Hamburger Pflegeheim sind Wein und Bier Teil des Alltags
„Alkohol- und Tabakausgabe“ steht auf einem weißen DIN-A4-Zettel an der Tür. Darunter die Ausgabezeiten: 8.00 bis 8.15 Uhr. 13.00 bis 13.15 Uhr. 18.00 bis 18.15 Uhr.
Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend schlurfen, schleichen oder schwanken Bewohner des Hauses Öjendorf zu Raum 1212a und warten, auf Rollatoren gestützt, bis ihnen ihre vereinbarte Dosis Wein, Bier und Zigaretten zugeteilt wird.
Im Lagerraum hängt ein Plan für die „Alkohol-Einteilung“ an der Wand. Einige bekommen dreimal täglich eine Flasche Bier, 0,5 Liter. Andere morgens, mittags oder abends einen Liter Wein. Domkellerstolz Weißwein, ein „Verschnitt von Weinen aus mehreren Ländern der Europäischen Gemeinschaft“, wie es auf der Verpackung heißt. Er hat 9,5 Prozent, im Angebot kostet ein Liter etwa 1,70 Euro.
Viel Promille für wenig Geld. Das ist wichtig für die Bewohner. Denn Alkohol und Nikotin müssen sie selbst zahlen.
Ein Pflegeheim für Alkoholiker: Alle 136 Bewohner sind abhängig
Ohne den Wein, das Bier oder Hochprozentiges würde es niemand hier über den Tag schaffen. Denn alle 136 Bewohner hier sind alkoholsüchtig, schwerstabhängig. Wer es alleine nicht mehr zum knapp 800 Meter entfernten Lidl schafft, um dort selbst Alkohol und Tabak einzukaufen, der wird dreimal täglich vom Pflegepersonal damit versorgt. „Kontrolliert versorgt“, wie es offiziell heißt.
Was in anderen Pflegeeinrichtungen undenkbar ist, gehört hier zum Konzept. Denn das Haus Öjendorf des Betreibers Pflegen & Wohnen Hamburg ist die einzige stationäre Einrichtung für chronisch alkoholkranke Männer und Frauen in Hamburg.
Alkoholkrank. So nennen sie im Haus Öjendorf die 19 Frauen und 117 Männer in der Einrichtung. Nicht süchtig oder abhängig. Sondern krank. „Das sind alles ganz arme Teufel“, sagt Pflegedienstleiter Andreas Meyer. Er macht den Job mehr als 40 Jahre und hat in der Zeit Hunderte von Alkoholikern betreut – und sterben sehen.
Bis zum letzten Tropfen: Die meisten Bewohner trinken sich hier zu Tode
Denn hier, in der Idylle zwischen Gartenlauben und Kleingärten, ist für die meisten Bewohner Endstation. Wer hier einen Platz bekommt, bleibt bis zum Schluss. Bis zum Ende seines Lebens, bis er sich zu Tode getrunken hat. Sechs oder sieben Jahre dauert das etwa.
In Deutschland starben laut Deutschem Krebsforschungszentrum im Jahr 2020 rund 14.200 Menschen an Krankheiten, die ausschließlich auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind. Bezieht man auch Krankheiten ein, bei denen Alkohol ein Faktor ist, liegt die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle Schätzungen zufolge bei 40.000.
Andreas Meyer sagt, dass man schon Profi sein müsse, um das auszuhalten. Er hat gelernt, Mitgefühl zu zeigen, aber an dem Mitleid nicht zu zerbrechen. „Auch wenn es brutal klingt, man muss sich klarmachen, dass die Menschen hier den Weg selbst gewählt haben“, sagt er. Man könne die Menschen nicht mehr ändern – aber die eigene Einstellung ihnen gegenüber.
Meyer ist 64, kurz vor der Rente. Die meisten Bewohner sind etwa in seinem Alter, sie reden mit ihm wie mit einem Kumpel. Einige nennen ihn „Herbergsvater“. Er selbst trinkt keinen Alkohol.
Alkoholsucht: Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen besonders betroffen
Etwa 7,9 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren konsumieren in Deutschland laut Gesundheitsministerium Alkohol in „gesundheitlich riskanter Form“. Mehr als 1,5 Millionen Menschen mussten nach Angaben des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung im Jahr 2022 wegen ihrer Alkoholsucht ambulant oder stationär behandelt werden.
Was besonders auffällt: Immer häufiger wird Alkoholsucht bei Menschen diagnostiziert, die in den 1950er- und 1960er-Jahren geboren wurden. In der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen wurde bei 303.000 Männern und etwa 116.000 Frauen eine Alkoholsucht festgestellt. Offiziell. Denn die Dunkelziffer lässt sich noch nicht mal schätzen.
Endstation: Der jüngste Bewohner im Haus Öjendorf ist gerade mal Anfang 40
Das Durchschnittsalter beim Einzug in ein Pflegeheim liegt in Deutschland etwa bei 83 Jahren. Im Haus Öjendorf liegt es bei Ende 50, kaum jemand hier ist im Rentenalter. Der jüngste ist gerade mal Anfang 40. „Unsere Bewohnerinnen und Bewohner sind meist nicht alt, sondern alkoholkrank und pflegebedürftig. Ein eigenständiges Leben ist für sie nicht mehr möglich“, schreibt das Unternehmen auf der Homepage.
Florian Blöcker ist 44. An seiner Tür, Zimmer 1202, klebt ein Sticker mit einem Schornsteinfeger. Jemand hat das Gesicht abgepult. Es ist, als ob ihn das Glück verlassen hat. „Bin total durch, am Ende“, sagt er. Das Sprechen fällt ihm schwer, er hat einen Tumor im Mund, groß wie seine Faust. Seit sechs Monaten bekommt er Chemo. „Keine Ahnung, ob das was bringt“, sagt er, zuckt mit den Schultern und zündet sich eine Zigarette an. Im Haus herrscht absolutes Rauchverbot, überall hängen Verbotsschilder. Doch kaum jemand hält sich daran.
Auf einem Tisch stehen zwei Dosen Tabak, eine Flasche mit Fanta und eine mit Korn, ein Glas Bier. Es ist halb leer. Ein Becher Joghurt, Sorte Früchtetraum Kirsche, ist ungeöffnet. Das Essen schmeckt nicht mehr. Dabei war er früher mal Koch. „Hab den Job geliebt“, meint er und erzählt, wie er erst den Job und dann die Hoffnung verloren hat.
Klar, wäre jetzt leicht zu sagen, dass es damit angefangen hat. Aber wenn er ehrlich ist, hat er vorher schon Drogen genommen. Damals, als er immer in der Disco Tunnel rumhing. „Hab alles geschluckt, was ich bekommen habe. Ecstasy, Gras, Koks, Heroin und Alkohol“, sagt er und knallt die Handflächen zusammen. So, als wolle er seinen Worten mit dem Geräusch mehr Gewicht verleihen. Bäm! Das Geräusch hallt in dem leeren Raum nach.
Aus der Obdachlosigkeit ins Pflegeheim: Einzug mit zwei Plastiktüten
Bett, Schrank, Kommode, Tisch, Kühlschrank. Die Wände sind kahl. Persönliche Gegenstände gibt es kaum, nur eine Fahne von St. Pauli und eine Lichterkette mit Schneeflocken, die er mit Tesafilm an den Schrank geklebt hat. Die Menschen, die ins Haus Öjendorf kommen, haben bei ihrem Einzug meistens nur einen kleinen Koffer oder sogar nur ein paar Plastiktüten mit Habseligkeiten dabei.
Ein paar von ihnen kommen direkt von zu Hause hierher, andere haben vorher in Wohngruppen oder anderen Pflegeeinrichtungen gelebt. Bis man sie dort herausgeworfen hat. Viele von ihnen haben gesetzliche Betreuer, die sie im Haus Öjendorf untergebracht haben. Sie alle hatten Glück, andere warten vergeblich auf so einen Platz.
Florian Blöcker war vorher obdachlos, so wie auch noch weitere Bewohner hier. „Ist scheiße auf der Straße“, sagt Florian und knallt wieder die Hände zusammen. Bäng. „Diese Läuse überall.“ Bäng! „Wäre fast gestorben.“ Bäng. Bäng! „Dann hat mich einer von der Diakonie angesprochen und mitgenommen.“ Bäng. „Heute sind wir gute Freunde.“ Bäng. „Er hat mir einen CD-Spieler geschenkt.“ Bäng. Seine Handflächen brennen vom Klatschen.
Auf der Hand hat er ein Tattoo mit den Worten „Hardcore for Life“. Es ist der Titel eines Albums und eines Buches. Und irgendwie auch seines Lebens.
Wenn das Geld knapp wird, gehen einige Bewohner betteln. Oder klauen
Im Fernsehen läuft eine Zeichentrickserie, „Grizzy und die Lemminge“. Am liebsten sitzt Florian Blöcker auf seinem Bett und guckt fern, alleine. „Sucht macht einsam“, sagt Andreas Meyer, der auf seiner Runde durchs Haus kurz hereinschaut. Kaum jemand hat Kontakt zu seiner Familie. Zu Eltern, Geschwistern oder Kindern. „Aus Scham brechen die meisten den Kontakt irgendwann ab – entweder die Betroffenen oder die Angehörigen“, meint Meyer.
Florian Blöcker sagt, dass er noch nicht mal weiß, ob seine Eltern noch leben.
Einmal am Tag, wenn er was zu trinken braucht, humpelt er, der früher als Verteidiger beim SC Victoria Fußball gespielt hat, auf seine Gehhilfen gestützt, zum nächsten Supermarkt und kauft eine Flasche. Schnaps, Wodka, Bier. Je nachdem, wofür das Geld noch reicht. Vor allem zum Ende des Monats hin reicht es oft für nichts mehr. Dann klaut er auch schon mal was. So wie fast alle hier. Einige der Bewohner, das weiß Andreas Meyer, haben in den umliegenden Supermärkten Hausverbot.
Endstation Sucht: Jeder hier war schon im Entzug. Ohne Erfolg
„Das Geld reicht nie. Egal, wie viel sie haben, sie vertrinken alles“, sagt Meyer. Völlig wertfrei. „Kaum jemand von unseren Bewohnern wird jemals vom Alkohol loskommen oder wieder gesund“, so das Fazit des Pflegedienstleiters. Wer hier landet, hat vorher diverse Entzüge gemacht – und ist wieder rückfällig geworden. „Deswegen geht es hier nicht mehr darum, jemanden zu bekehren oder zu heilen“, sagt Meyer entschieden. Sondern darum, ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Menschenwürdig. Das bedeutet für Meyer und die Mitarbeiter im Haus Öjendorf, dass die Menschen sich nicht mehr verstecken müssen, dass sie ihre Sucht nicht mehr verleugnen müssen. Dass sie akzeptiert, unterstützt und aufgefangen werden. Und einen geschützten Raum bekommen. „Für viele ist das hier das erste Zuhause seit Jahren“, sagt Meyer und erzählt von Bewohnern, die in Hauseingängen und unter Brücken gehaust haben, die Läuse und Erfrierungen hatten. Und die am Ende waren.
„Wir erlauben uns kein moralisches Urteil über diese Menschen, die alle eine sehr eigene Geschichte aufweisen“, schreibt das Unternehmen bei Google auf eine der vielen Anfeindungen, die es dort gibt. Anfeindungen wie diese: „Dann helft euren Bewohnern weiter dabei, sich zu Tode zu trinken. Unfassbar ...“ Und: „Die gehören in den Entzug, stattdessen frönen die auf Kosten des Steuerzahlers fröhlich ihrer Alkoholsucht!“
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht davon aus, dass die durch Alkoholkonsum verursachten volkswirtschaftlichen Kosten rund 57 Milliarden Euro pro Jahr betragen.
Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 171,6 Millionen Liter Alkohol versteuert. Insgesamt erzielte der Bund laut Statistischem Bundesamt durch die Alkoholsteuer Einnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden Euro.
Am Rand der Gesellschaft: Die Sucht hat irreparable Schäden hinterlassen
Die Bewohner leben in Öjendorf am Rand von Hamburg – und am Rand der Gesellschaft. Die Sucht hat bei ihnen irreparable Schäden hinterlassen. Viele von ihnen sind inkontinent oder gelähmt, schwer desorientiert und psychisch auffällig.
Sie haben Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder das Korsakow-Syndrom – eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die unter anderem durch Amnesie, Desorientierung und Halluzinationen gekennzeichnet ist. Am häufigsten wird das Korsakow-Syndrom durch Alkohol verursacht.
Menschen wie sie werden auch als „CMA“ bezeichnet. Als chronisch mehrfach beeinträchtigte Alkoholabhängige.
„Wir sind eine Pflegeeinrichtung – und keine Obdachlosenunterkunft“
„Auch wenn unser Konzept vielleicht ungewöhnlich ist – wir sind keine Obdachlosenunterkunft, sondern eine Pflegeeinrichtung“, betont Andreas Meyer. Jeder Bewohner hat mindestens Pflegegrad 2, sonst hat er keinen Anspruch auf einen Platz. Trotzdem oder gerade deswegen: „Bei uns geht es nicht nur um die Pflege und Versorgung, um saubere Fingernägel oder gekämmte Haare, sondern um das reine Überleben der Kranken“, so der Pflegedienstleiter. Und das bedeutet nicht nur, sie mit Essen zu versorgen, sondern auch mit Alkohol, wenn die Süchtigen die Beschaffung nicht mehr alleine geregelt bekommen – oder wollen.
Denn auch das gibt es. Dass die Betroffenen ihre Sucht nicht alleine regulieren können und um Hilfe bitten. Um Hilfe bei der Einteilung ihres Geldes und der Rationierung des Alkohols. Nur fünf von 136 Bewohnern regeln ihre Finanzen komplett alleine, der Rest lässt sich das Geld wöchentlich statt monatlich auszahlen.
„Sie haben die bittere Erfahrung machen müssen, dass sie ihr Geld gleich zu Monatsbeginn vertrunken haben – und dann tagelang ohne Alkohol auskommen müssen und es kaum aushalten konnten“, sagt Meyer. Einen Menschen so zu sehen, sei furchtbar.
Wen selbst die wöchentliche Einteilung des Geldes überfordert, der kann sein Geld auch komplett abgeben. Das Pflegeheim kauft davon dann beim Großhändler Alkohol und Zigaretten für den Betroffenen und versorgt ihn oder sie täglich mit einer vorher abgesprochenen Menge.
Etwa 30 bis 40 Bewohner lassen sich die Suchtmittel zuteilen. In Raum 1212a.
Die Bewohner leben von 152 Euro Taschengeld und einer Kleiderpauschale
Je nach Pflegegrad kostet ein Platz im Haus Öjendorf 5000 bis 6000 Euro, der Eigenanteil für Bewohner mit Pflegegrad 2 liegt bei etwa 3800 Euro. So die Theorie. Denn in der Praxis kann niemand den Eigenanteil tragen. Wenn die eigenen finanziellen Mittel sowie die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, um die Kosten eines Heimplatzes zu decken, erhalten die Betroffenen staatliche Unterstützung. So wie alle Bewohner im Haus Öjendorf.
Da der Staat die Kosten für Unterkunft und Verpflegung übernimmt, erhalten die Bewohner darüber hinaus vom Sozialamt lediglich ein monatliches Taschengeld in Höhe von rund 152 Euro sowie eine Bekleidungspauschale von 28 Euro pro Monat zur freien Verfügung. Die meisten von ihnen geben alles für Alkohol und Nikotin aus. „Wenn jemand am Tag eine Flasche Schnaps und ein paar Zigaretten braucht, wird das Geld schnell knapp“, weiß Andreas Meyer.
Er erlebt es immer, dass die Bewohner Pfandflaschen sammeln oder eine Obdachlosenzeitung verkaufen, um über die Runden zu kommen. Oder, wenn gar nichts mehr geht, dass einige von ihnen betteln oder sich das Geld „anderweitig beschaffen“, sagt Meyer. Er möchte nicht das Wort „klauen“ verwenden, meint aber genau das. Manchmal probieren sie auch, sich gegenseitig anzupumpen. Ohne Erfolg. „Bei Sucht hört Freundschaft auf“, meint Meyer.
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Wodka, Schnaps, Whisky und Korn: Mit zehn Jahren hat er zu trinken angefangen
Ein paar Meter von der Alkohol- und Tabakausgabe in Raum 1212a entfernt, sitzt Thomas Z. in seinem Zimmer vor einem Tablett mit Essen. Es ist 11.30 Uhr. „Noch zu früh zum Essen“, sagt er und schiebt das Tablett ein Stück zur Seite. Er hat Angst, dass er später nichts mehr bekommt, deswegen geht er immer als Erster zur Essensausgabe.
„Liegt daran, weil ich als kleiner Junge oft Hunger gehabt habe“, glaubt er. Deswegen bunkert er bis heute Essen. In einem Regal hortet er Dosen mit Bohneneintopf, Linsensuppe und Königsberger Klopse, Ketchupflaschen und Gewürze, Gläser mit Würstchen, Babynahrung und eingemachten Früchten. Sein Kleiderschrank ist vollgestopft mit Kochtöpfen und Pfannen, einem Wasserkocher, Toaster und einem Mixer.
„Meine Mutter war Alkoholikerin und hat sich nicht um mich gekümmert. Daher kommt das vermutlich“, sagt er. Dass er selbst Alkoholiker ist, sagt er nicht, sieht er nicht. Im Gegenteil: „Ich trinke nur, wenn ich Schmerzen habe“, behauptet Herr Z. und nimmt einen Schluck aus einer kleinen Flache Chantre, Alkoholgehalt 36 Prozent. Wegen des Beins, sagt er. „Das hilft mir beim Laufen.“ An seinem Rollator ist eine Fahrradklingel angebracht, wenn er es mal eilig hat. In dem Korb liegen drei Miniflaschen Schnaps.
Süchtig nach Alkohol: Wie die Mutter, so der Sohn
Er meint, dass er nach dem Tod seines Vaters mit dem Trinken angefangen habe. Damals war er zehn Jahre alt. „Hab alles genommen, was ich bei meiner Mutter finden konnte. Wodka, Schnaps. Whisky und Korn“, sagt er und klingt fast ein bisschen stolz, als er hinzufügt: „Ich war ein richtig harter Bursche, nicht mal schlecht ist mir davon geworden.“ Als Teenager musste er seine Mutter pflegen, heute pflegen andere ihn.
50 Jahre hat er gesoffen, jetzt aber nicht mehr, das schwört er. „Nach meiner großen OP“, sagt er und zieht sein T-Shirt hoch, sodass eine große Narbe auf dem Bauch zu sehen ist, „hab ich zwei Flaschen Korn ins Klo gegossen und aufgehört.“ Fast zumindest. Wie gesagt, nur wenn er Schmerzen hat, trinkt er einen Schluck oder zwei. Und Schmerzen hat er oft. Die Nerven in den Beinen sind kaputt, die Bauchspeicheldrüse auch. Er hat Diabetes.
„Der Bürgermeister“ kann nicht lesen und schreiben: Er guckt sich Comics an
Er ist 63 Jahre alt und im Wohnbeirat. „Das heißt, ich kümmere mich hier um alle“, sagt Z. „Die anderen sind froh, dass sie mich haben“, meint er und winkt einem der Bewohner zu, der gerade vor seiner offenen Zimmertür steht. Der Mann, der auf dem Flur steht, ist nackt, er trägt nur Socken und eine Windel. „Kannste mir Gas für mein Feuerzeug leihen?“, fragt er und kommt mit wackeligen Schritten ins Zimmer.
Herr Z. scheint zufrieden. „Seht ihr“, sagt er, „die Leute brauchen mich.“ Er setzt die Gaskartusche an und zapft eine Ladung ab. „Wenn ich was habe, dann teile ich auch. Eine Hand wäscht die andere“, sagt er und gibt dem Besucher das Feuerzeug mit den Worten „Hier, Digga“ zurück.
„Bin hier so was wie der Bürgermeister“, meint er und nimmt zur Bestätigung noch einen Schluck. „Die Leute können mir vertrauen, ich höre mir ihre Sorgen an.“ Sie alle haben die gleichen Probleme, haben das Gleiche durchgemacht. „Bei mir muss sich niemand verstecken“, meint Z. Seine Tür steht immer offen.
Er ist stolz, dass er so gut klarkommt. Dass er selbst sein Geld verwalten kann und sogar alleine einkaufen geht. „Obwohl ich noch nicht mal richtig lesen und schreiben kann“, räumt er ein und erzählt, dass er die Sonderschule nach der 7. Klasse geschmissen hat, weil er Schauermann werden wollte, so wie sein Vater. In einem Regal steht eine Reihe mit lustigen Taschenbüchern, Comics von Micky Maus und Donald Duck. Bildergeschichten versteht er, Wörter nicht.
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Von der Mafia entführt: Die Bewohner erzählen gerne Geschichten
Er ist einer, der gerne erzählt. Ausschweifend, überschwänglich. Vermutlich übertrieben. Von seiner Frau, mit der er fünf Kinder hat, ach nee, sechs seien es. Von den Kindern, die er alleine großgezogen habe, als er gerade mal 20 Jahre alt gewesen sei. 20? Wirklich erst 20? Er lacht. „Ja, wir haben früh angefangen“, sagt er, nimmt einen Schluck und erzählt von Enkeln und Urenkeln, von seiner jetzigen, 30 Jahre jüngeren Freundin und seiner Entführung. Ja, wirklich, beteuert er. Eine Entführung. „Das war die Mafia“, sagt er und senkt die Stimme. „War wegen meiner Scheinehe mit einer Frau“, sagt er und zeigt auf ein Gemälde, das an der Wand hängt.
„Das hier ist meine Frau“, sagt er und grinst glücklich. Das Bild zeigt eine Frau mit weit aufgeknöpfter Bluse und nacktem Busen. „Das hab ich gemalt“, meint er und deutet auf einen Schriftzug am unteren Rand. „Blume“ steht da. „Seht ihr, das ist mein Name“, sagt Thomas Z. und nimmt zufrieden einen letzten Schluck aus seiner Flasche. Dann ist sie leer.
Alkoholiker: Die Geschichten wechseln täglich, die Sucht bleibt
Langsam wird er müde, 12.30 Uhr schon. Es sei Zeit zum Schlafen, findet er. Aber vorher noch eine rauchen. Obwohl rauchen ausdrücklich verboten ist. In der gesamten Einrichtung. Er zuckt mit den Achseln. Ein paar Tabakkrümel fallen auf das Bett. Er lässt sie liegen. Sein Essen ist kalt geworden, er will es später noch mal aufwärmen. Oder sich eine Dose aufmachen.
Auf dem Flur schlurft eine Frau mit Rollator vorbei, bleibt stehen, ruft ihm zu. „Schlaf gut, Thomas.“ Er nickt nur. Als sein Freund mit der Windel und dem Feuerzeug an der Tür stehen bleibt, guckt er noch nicht mal mehr auf. Die Augen von Herrn Z. sind glasig. Langsam steht er auf und macht die Tür zu. Er braucht jetzt Raum für sich.
Andreas Meyer hat still zugehört, als Z. seine Geschichte erzählt hat. Er weiß selbst nicht, was davon stimmt und was nicht. Er weiß nur, dass es normal ist, dass Alkoholiker Geschichten erzählen. Fabulieren, nennt man das. „Sie glauben wirklich, dass alles genau so passiert ist, wie sie es erzählen“, sagt Meyer. „Die Geschichten sind für sie total real.“ Bis sie eine neue erzählen. Die Geschichten wechseln täglich. Die Sucht bleibt. Bis zum Ende.
Die meisten von ihnen sterben irgendwann in einem Krankenhaus, viele werden danach anonym bestattet. „Meistens kommen die Angehörigen noch nicht mal zur Beisetzung“, sagt Meyer. Selbst für ihn ist das nach all den Jahren noch unvorstellbar. Wenn ein Bewohner verstirbt, verpacken die Pflegekräfte die persönlichen Sachen und lagern sie für die Angehörigen ein. Aber Meyer hat es fast noch nie erlebt, dass etwas abgeholt wurde.
Als Meyer zurück zu seinem Büro geht, stehen vor Zimmer 1212a bereits die ersten Bewohner und warten auf die Öffnung der Alkohol- und Tabakausgabe. Es sind noch 30 Minuten.
Pflegen & Wohnen Hamburg sucht für das Haus Öjendorf und weitere Standorte engagierte Mitarbeiter. Das Unternehmen ist Hamburgs größter privater Pflegeanbieter: Etwa 2000 Mitarbeitende kümmern sich um mehr als 2400 Senior:innen sowie pflegebedürftige jüngere Erwachsene.