Hamburg. Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi über das Erstarken der Populisten in Europa und die richtigen Gegenstrategien.

Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.

Matthias Iken: In Italien regiert mit Giorgia Meloni eine Rechtspopulistin, in den USA folgt Donald Trump, und in Frankreich droht bald vielleicht Marine Le Pen. Erleben wir einen historischen Rechtsruck?

Klaus von Dohnanyi: Eindeutig. Seit längerer Zeit erfahren die westlich-demokratischen Gesellschaften einen Aufstieg des Populismus. In Europa erfasste das relativ früh ausgerechnet skandinavische Staaten, die doch immer für ihre demokratische Gesinnung bekannt waren. Aber stimmt das? Was wäre eigentlich eine „demokratische“ Gesinnung? Hat sie eher individualistische oder doch kollektive Merkmale? Schweden zum Beispiel war schon lange eher ein Kollektiv, eine freie Gesellschaft mit der Besonderheit eines deutlich übergeordneten Gemeinschaftsinteresses. Das konnte man schon den berühmten Studien Gunnar Myrdals entnehmen. Ein solcher Gemeinschaftsgeist war übrigens auch über viele Jahrhunderte in Deutschland vorherrschend, und Adolf Hitler missbrauchte diesen deutschen Charakterzug dann so verheerend: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz!“ Ich bin daher überzeugt: Demokratie kann nur in einer individualistischen Gesellschaft gedeihen, und die Bürger einer Demokratie müssen bereit sein, Eigenverantwortung zu übernehmen: Sie ist die notwendige Voraussetzung für eine demokratische Gesinnung.

Klaus von Dohnanyi über den scheinheiligen Kampf gegen das Establishment

Iken: Wie erklären Sie den Reiz der Rechten? Und ist der Zauber der Linken verflogen?

Dohnanyi: Es ist nicht so einfach, den politischen Populismus „links“ oder „rechts“ zuzuordnen: War Hitler politisch „links“ oder „rechts“? Seine Partei, die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“ (NSDAP), wollte zwar eine „nationalistische“ (also rechte), aber eben zugleich auch eine „sozialistische“ (also eher linke) Arbeiterpartei sein. Ist Trump heute „rechts“ oder „links“? Er tritt auf als Kämpfer für die „Entrechteten“, wie auch Frau Le Pen. Der eigene Status – Donald Trump ist ein sehr wohlhabender Mann – steht dabei nicht im Wege. Das war schon im alten Rom bei den revolutionären Gracchen nicht anders. Die Populisten dieser Art sehen, verstehen und nutzen politisch die Ungerechtigkeiten dieser Welt, kämpfen dann angeblich gegen das „Establishment“, also gegen die Herrschenden, zu denen sie doch meist selbst gehören.

Dohnanyi fürchtet, dass die AfD noch stärker werden könnte

Iken: Fürchten Sie also ein weiteres Erstarken der AfD?

Dohnanyi: Ich halte das leider für möglich und sogar für wahrscheinlich, aber nicht für unvermeidlich. Aus meiner Sicht haben die Demokraten noch immer die Zukunft Deutschlands in ihrer Hand. Worauf wird es ankommen? Mir selbst fehlen seit Langem bei den regierenden Parteien zwei wichtige Eigenschaften: der Mut, die bitteren Wahrheiten auszusprechen und dann mit Kraft und Zuversicht entsprechend zu handeln. Nur ein Beispiel: Die größten Gefahren für uns Menschen drohen aus dem Klimawandel und seinen Folgen, nicht von Putin. Mit Putin könnte man über seine Sicht und seine Interessen verhandeln – mit dem Wetter aber nicht! So müssten also auch unsere Prioritäten ausgerichtet sein: Warum führen wir eine Debatte über die Erweiterung der Nato und nicht über den langfristigen Schutz Deutschlands vor den inzwischen unvermeidlichen Folgen des Klimawandels? Zum Beispiel: Werden unsere Enkel in den großen Städten noch genug Wasser haben?

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Iken: Wenn die AfD noch stärker wird – halten dann die Brandmauern oder stürzen sie wie in Holland, Schweden oder Österreich ein?

Dohnanyi: Das hoffe ich nicht. Aber ich fürchte, dass die doch sehr einfache Sicht der Union auf die Komplexität unserer Welt uns politisch nur weiter in eine gefährliche Sackgasse lenken könnte. Unsere größte Gefahr ist der Klimawandel. Der Union fehlt nach meiner Meinung der Mut, die Wahrheiten dieser politischen Dynamik, die heute unsere Welt bewegt, nüchtern anzuschauen und sich dieser Erkenntnis dann mit dem Maßstab deutscher Inter­essen zu stellen. Mich erinnert die heutige Union, die Generation nach Merkel, allzu sehr an die Union, der ich im Bundestag gegenübersaß, als sie Brandts Verhandlungs- und Entspannungspolitik verketzerte. Wie kurzsichtig war damals die Union – und wie kurzsichtig ist sie heute! Später nutzte nämlich Bundeskanzler Helmut Kohl dann diese „Vorarbeit“ von Willy Brandt übrigens sehr erfolgreich für die Wiedervereinigung.