Hamburg. Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi über die massive Kritik des früheren EZB-Chefs Draghi an der Wirtschaftspolitik der EU.
Jede Woche stellt sich der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den Fragen des stellvertretenden Abendblatt-Chefredakteurs Matthias Iken.
Matthias Iken: Der frühere EZB-Chef Mario Draghi hat einen Bericht zur Zukunft der europäischen Wirtschaft erstellt. Er sagt, Europa müsse enorme Summen in Zukunftstechnologien investieren. Hat er recht?
Klaus von Dohnanyi: Mario Draghi macht mit einem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie, den die Europäische Kommission ihm persönlich vor über einem Jahr in Auftrag gab, Schlagzeilen: Denn angesichts der immer stärkeren Konkurrenz der USA und Chinas fordert er unter anderem einen europäischen Investitionsfonds in Höhe von 800 Milliarden Euro zur Erneuerung der europäischen Industrien. Ist es aber wirklich eine Neuigkeit, dass der klimapolitische und ökologische Umbau der europäischen Industrien mit erheblichen Transformationskosten verbunden sein wird? Draghis Bericht ist jedoch in anderer Hinsicht eine Sensation: Er übt massive Kritik an der Wirtschaftspolitik der EU, insbesondere der Kommission! Die Bewahrung globaler Wettbewerbsfähigkeit der Industrien Europas wird nämlich nicht nur erhebliche Investitionen erfordern, sondern auch einen entsprechenden politischen Umgang mit diesem gewaltigen Transformationsprozess. Es ist immer noch die Wirtschaftspolitik, die über einen wirtschaftlichen Erfolg entscheidet, und nicht irgendein Subventionstopf; nur Wirtschaftspolitik setzt die Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Erfolge. Und so war Draghis Auftrag breiter angelegt: Er sollte über die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrien im weitesten Sinne berichten und dabei auch über die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die europäischen Industrieunternehmen diesen Wettbewerb bestreiten können oder müssen. Und hier bedeutet sein Bericht wirklich eine Revolution.
Klaus von Dohnanyi: „Katastrophale Industriepolitik für Deutschland“
Iken: Also sind die 800 Milliarden Euro nicht der Kern?
Dohnanyi: Draghi bleibt klugerweise nicht bei den finanziellen Erfordernissen stehen. Aus meiner Sicht sind seine Vorschläge für mehr unternehmerische Freiheiten, für größere Spielräume unternehmerischen und staatlichen Handelns viel bedeutsamer. Draghi nimmt sich endlich einmal, wenn auch ohne Namen zu nennen, die unselige Wettbewerbspolitik der ehemaligen dänischen Wettbewerbskommissarin Vestager und der Kommissionspräsidentin von der Leyen vor: eine Bilanz der Überregulierung und Erdrosselung europäischer industrieller Initiativen. Es wird berichtet, die EU habe seit 2019 etwa 13.000 Gesetzesakte erlassen, die USA etwa 5000! Auch der organisatorische Aufbau von Kommission und Rat führt nahezu zwangsläufig zu einem System, das seine Erfolge in erster Linie an der Zahl der erlassenen Regulierungen misst. Ich habe sieben Jahre in diesem System gearbeitet und weiß wirklich, wovon ich hier schreibe. Europa wird nicht regiert, sondern reguliert, und hier setzt Draghis vernichtende Kritik an der für Europa und insbesondere für Deutschland katastrophalen Industriepolitik von Rat und Kommission an. Man muss ihm ja nicht überall zustimmen, aber „nach“-denken sollte man ihm dringend: Ist die Datenschutzgrundverordnung ein Todesstoß für kleine innovative Unternehmen? Sind die Beihilferegeln für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit von Unternehmen zu eng? Sollte man das Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 kippen? Draghi geht wirklich ins Detail, und man ist gespannt, wer in der Bundesregierung sich den Bericht wirklich ernsthaft vornehmen wird. Der Bundeskanzler? Es wäre eine Steilvorlage für den Finanzminister, für Lindner.
„Deutschland fehlt Großbritannien als Bündnispartner“
Iken: Fehlen der EU nach dem Brexit das britische Denken und das Vertrauen in die Marktwirtschaft?
Dohnanyi: Uns Deutschen fehlt hier in der Tat Großbritannien als Bündnispartner. Welches EU-Land wird Draghis schwerwiegende industriepolitische Kritik an der EU-Kommission unterstützen und mehr unternehmerische Freiheit fordern?
Iken: Wie sollte sich die Bundesregierung positionieren?
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Dohnanyi: Draghi hat recht: Europa erstickt an sich selbst. Stehen hier auch Interessen der kleineren EU-Mitglieder den größeren entgegen? (Warum reagieren kleinere schon jetzt negativ auf Draghis Bericht, dieser führe doch nur zu mehr Ungleichheit in der Gemeinschaft?). Eine große Debatte ist notwendig. Deutschland sollte sie im eigenen Interesse mutig und offen anführen.