Hamburg. Abschulungen auch in Top-Vierteln nicht selten. Aufstiegswillige Familien in belasteten Stadtteilen haben großen Ehrgeiz für ihre Kinder.
- Ein Schulwechsel nach der sechsten Klassen ist für die Schülerinnen und Schüler sehr belastend
- 601 von 799 abgeschulten Schülern besuchten ein Gymnasium in einem sozial gut oder besser gestellten Stadtteil
- In sozial belasteten Stadtteilen schicken gerade „aufstiegswillige“ Familien ihr Kind auf ein Gymnasium, obwohl es nicht die Lern- und Leistungsbereitschaft mitbringt
Nach der sechsten Klasse wird es für viele Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in Hamburg ernst: 799 Kinder mussten im Sommer das Gymnasium wegen schwacher Leistungen wieder verlassen, sie wurden auf eine Stadtteilschule abgeschult. Nun können sie auch an Stadtteilschulen später das Abitur machen. Aber der Wechsel aus der angestammten Schulgemeinschaft in eine neue Umgebung, weg von den Schulfreunden, ist für die zumeist zwölf Jahre alten Kinder schon eine ziemliche Herausforderung.
Wie eine Auswertung der Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Politikerin Sabine Boeddinghaus zeigt, gibt es auch an Gymnasien in sozial bessergestellten Stadtteilen viele Zwangswechsler nach Klasse 6.
Stadtteile in Hamburg: Wo es die meisten Zwangswechsler vom Gymnasium gibt
Die Schulbehörde hat die Schulen im Hinblick auf ihr soziales Einzugsgebiet in sechs Kategorien eingeteilt. Der Hamburger Sozialindex beschreibt die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft an Schulen auf einer Skala von 1 bis 6. Dabei steht Kess 1 für Schulen mit Schülern aus herausfordernden sozialen Verhältnissen, während Kess 6 Schulen mit privilegierteren Hintergründen der Schülerschaft beschreibt.
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Die Senatsantwort zeigt: 601 von 799 abgeschulten Schülern besuchten ein Gymnasium der 3 oberen Kess-Stufen. 163 wechselten von einem Gymnasium der unteren Kess-Stufen. Die Differenz zur Gesamtsumme ergibt sich daraus, dass Privatschulen keinen Kess-Faktoren zugeordnet sind. Im Einzelnen:
- Kess 1: Keine Abschulung
- Kess 2: 83 Abschulungen
- Kess 3: 80 Abschulungen
- Kess 4: 291 Abschulungen
- Kess 5: 217 Abschulungen
- Kess 6: 93 Abschulungen
Dazu muss man wissen, dass es in Hamburg kein Gymnasium mit dem niedrigsten Sozialindex Kess 1 gibt. Setzt man die Zahl der Zwangswechsler allerdings in Relation zur Schülerzahl, dann ergibt sich ein anderes Bild, da es in Kess 4 und Kess 5 die meisten Gymnasien und damit auch die meisten Schüler gibt.
- Kess 1: Keine Abschulungen
- Kess 2: Hier gibt es vier Schulen und 20,8 abgeschulte Schüler pro Schule
- Kess 3: Hier gibt es sechs Schulen und 13,3 abgeschulte Schüler pro Schule
- Kess 4: Hier gibt es 20 Schulen und 14,6 abgeschulte Schüler pro Schule
- Kess 5: Hier gibt es 20 Schulen und 10,9 abgeschulte Schüler pro Schule
- Kess 6: Hier gibt es 17 Schulen und 5,5 abgeschulte Schüler pro Schule
Warum in sozial schwachen Stadtteilen so viele Kinder abgeschult werden
In sozial schwächeren Stadtteilen tendierten Eltern dazu, ihr Kind auch ohne Gymnasialempfehlung auf eine Schule mit vermeintlich günstigerer Zusammensetzung zu schicken. Gerade „aufstiegswillige“ Familien schickten ihr Kind auf ein Gymnasium, obwohl es nicht die Lern- und Leistungsbereitschaft mitbringe, heißt es aus der Sozialbehörde. Die Eltern entschieden sich so, obwohl sowohl die abgebenden Grundschulen als auch die aufnehmenden Gymnasien explizit anders beraten hätten. Viele dieser Schüler brachten aber am Ende nicht die Voraussetzungen und die familiäre Unterstützung mit und mussten am Ende von Klasse 6 das Gymnasium verlassen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Flüchtlingskinder aus den Internationalen Vorbereitungsklassen seien nach einem Wechsel in die Beobachtungsstufe des Gymnasiums in dieser Regelklasse dann nicht selten überfordert, weil ihr sprachliches Niveau noch nicht ausreicht - insbesondere angesichts des hohen Leistungsdrucks am Gymnasien
Schule Hamburg: Eltern haben die Wahl – aber dann müssen Kinder „liefern“
Wie die Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage von Sabine Boeddinghaus, Bildungsexpertin der Linksfraktion, zeigt, hatte gut ein Drittel der Zwangswechsler am Ende der Grundschule eine Gymnasialempfehlung, schaffte es leistungsmäßig dort aber nicht. Zwei Drittel der später abgeschulten Kinder hatten sich zusammen mit ihren Eltern für ein Gymnasium entschieden, obwohl sie dafür keine Empfehlung hatten. Die meisten Abschulungen gab es am Gymnasium Lohbrügge (37) und dem Gymnasium Marienthal (33).
Im Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule entscheiden die Eltern über die gewünschte Schulform für ihr Kind, also für ein Gymnasium oder eine Stadtteilschule. Grundlage ist das sogenannte Elternwahlrecht. In den vergangenen Jahren hatten sich Hamburgs Eltern jeweils ungefähr zu 50 Prozent für eine der beiden Schulformen entschieden.
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Nach Abschluss der sechsten Klasse können Eltern und Schüler allerdings nicht mehr frei wählen. Für den Verbleib auf dem Gymnasium ab Klasse 7 müssen bestimmte Leistungen nachgewiesen werden. In den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch benötigt es ein „ausreichend“, und auch der Durchschnitt in allen übrigen Fächern muss mindestens mit „ausreichend“ und in nicht mehr als zwei Fächern mit einer schlechteren Note bewertet sein.
Die Schulbehörde verbucht die im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit sinkende Zahl der „Abschüler“ als Erfolg – gerade angesichts der sehr ausgelasteten Kapazitäten der Hamburger Schulen.