Hamburg. Der drohende Zwangswechsel prägt aktuell vor den Halbjahreszeugnissen den Alltag vieler Familien. Eine Mutter erzählt von immenser Angst.

  • Einem Schüler aus Hamburg droht der Zwangswechsel auf eine Stadtteilschule
  • Seiner Mutter Alexandra Becker bereitet die mögliche Abschulung vom Gymnasium große Sorgen
  • Sie erzählt, wie sehr die aktuelle Situation die ganze Familie und vor allem ihren Sohn belastet

Wenn Alexandra Becker im Geist den Tag ihres zwölfjährigen Sohnes Valentin durchgeht, bedrückt sie allein der Gedanke daran: Schule bis 14 Uhr, kurze Pause zu Hause, anderthalb Stunden Englisch-Nachhilfe, Break für einen Snack und Medienzeit, dann Lernen mit einem Elternteil. „Die Schule hat mittlerweile einen so immens hohen Stellenwert eingenommen, dass es die ganze Familie belastet“, sagt Becker, die eigentlich anders heißt und ihre Erlebnisse rund um das drohende Thema der Abschulung vom Gymnasium auf die Stadtteilschule anonym schildern möchte.

Denn es geht im Kern um Stigmatisierung. Um eine Ausgrenzung, den Verstoß von Sechstklässlern aus einer noch recht neuen Klassengemeinschaft am Gymnasium. Eine Fünf im Hauptfach und Valentin darf nicht auf seiner Wunsch-Schule im Herzen von Hamburg bleiben, muss seine aktuelle sechste Klasse verlassen, in die er sich gerade erst richtig eingefunden hat. Wohin es dann geht? Auf eine Stadtteilschule, deren Auswahl die Beckers nur bedingt beeinflussen könnten.

Schule Hamburg: Angst vor Abschulung bestimmt Stimmung bei Familie Becker

Alles dreht sich aktuell zu Hause um das anstehende Halbjahres- und dann das Abschlusszeugnis, das im Juli 2025 ausgegeben wird. Denn schon jetzt wird von den Lehrern signalisiert, dass Valentin ein „Kandidat“ sei: Einer, der es vielleicht nicht schaffen werde mit der Versetzung. Das lässt Mama Becker nachts wach liegen, und Sohn Valentin hat immer öfter Bauchschmerzen am Morgen.

Vor allem in Englisch hat er Probleme, zu unterschiedlich seien schon in Klasse fünf die Ausgangssituationen der einzelnen Schüler gewesen. Seine Gymnasialempfehlung von einer angesehenen Hamburger Grundschule attestierte ihm zwar pro forma ausreichende Kenntnisse, doch „in Wahrheit wurde an anderen Grundschulen schon viel mehr Stoff durchgenommen, Grammatik wurde schon angefangen“, sagt Becker. „Valentin konnte mit Beginn der fünften Klasse rudimentäre Sätze, kannte Wortgruppen in Bezug auf Farben, Berufe und Zahlen, aber da war noch nichts mit Satzgefüge und vielen Vokabeln.“

Vieren und Fünfen im Zeugnis am Gymnasium: Da kam ein „ungutes Gefühl auf“

Doch wie an vielen Hamburger Gymnasien wurde den Beckers auf den ersten Elternabenden erklärt, dass es völlig normal sei, wenn sich die Noten der Kinder grundsätzlich verschlechterten: Man solle nicht schimpfen, eher motivieren. Also wurde die Vier in Mathe und Deutsch und die Fünf in Englisch im Hause Becker auch noch nicht überbewertet. Was sich mit den Monaten änderte. „So langsam kam ein ungutes Gefühl auf“, sagt Mutter Becker.

„Ich kenne ja meinen Sohn und habe eine Tochter, die schon einige Jahre älter ist und weiß, wie schnell es gehen kann, dass Kinder in so eine Abwärtsspirale reinkommen, was die Noten angeht.“ Meint: Schlechte Noten machen etwas mit den Schülern. Valentin lernt seiner Meinung nach und bekommt als Feedback von den Lehrern ein Ungenügend oder Mangelhaft. „Doch in Klasse fünf war das Thema Abschulung irgendwie noch total weit weg, man dachte, es sei ja noch Zeit, und nach der Ankommensphase würde sich alles entspannen“, so Becker.

Eine einzige Fünf im Hauptfach – und Valentin wird eine Stadtteilschule zugewiesen

Doch es wird heftiger. In Klasse sechs ist das Thema allgegenwärtig. Zwar rät die Schule, keinen Druck bei den „etwas schwächeren Schülern“ zu erzeugen, „aber für mich als Mutter ist es doch wichtig, dass ich meinem Sohn erkläre, was passieren kann, wenn er auf dem Zeugnis auch nur eine Fünf im Hauptfach hat“, meint Becker. Mittlerweile sei Valentin vor den Klausuren und Tests so aufgeregt und verunsichert, dass er die Aufgabenstellung nicht mehr richtig durchlese, viele Flüchtigkeitsfehler mache und sein Wissen kaum mehr auf Papier bringen könne. Ein wahrer Teufelskreis aus schlechten Noten, Überforderung und Versagensangst beginnt.

„Dass ich ihm Druck machen muss, ihn zum Dauerlernen animieren muss, dass Schule immer Thema ist und wir uns deshalb oft in die Haare kriegen, das tut mir so leid“, meint Becker verzweifelt. „Ich bin überzeugt davon, dass er nicht weniger gescheit ist als alle anderen in seiner Klasse, vielleicht etwas langsamer, sodass es für ihn super wäre, die sechste Klasse zu wiederholen – aber das geht ja nicht“, sagt sie. Valentin fehle komplett eine adäquate Lernstrategie. „Er weiß gar nicht, wie Lernen geht. Das war nie Thema in seiner Grundschule, und nun wird es plötzlich vorausgesetzt.“

Schoolboy crying in the yard of the school
In Hamburg betrifft die Abschulung nach Klasse sechs vom Gymnasium mehr Jungen als Mädchen. Ein Stigma mit immensem Druck zuvor, den unter anderem auch Valentin Becker aus Hamburg spürt. (Symbolfoto) © Getty Images/iStockphoto | bodnarchuk

Abschulung ist Schicksal und Stigma von rund 800 Hamburger Kindern - jedes Schuljahr

Das Argument, dass andere Kinder es jedoch auch schafften, will die in Teilzeit Arbeitende nicht gelten lassen. „Es geht hier doch um die Individualität eines jeden Schülers. Bei meinem Sohn, einem Jungen, kommt vielleicht hinzu, dass er noch etwas verspielter ist. Man sagt ja auch, dass Mädchen in dem Alter schon weiter und strukturierter als Jungen seien. Das trifft auf Valentin sicher zu.“ Auch die aktuellen Zahlen der Schulbehörde spiegeln, dass in Hamburg mehr Jungen als Mädchen von der Abschulung betroffen sind. Abgeschult wird in der Hansestadt auch deshalb, weil die Gymnasien anschließend die Mädchen und Jungen bis zur zehnten Klasse behalten müssen.

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799 Schülerinnen und Schüler wurden in diesem Sommer abgeschult, doch sicherlich betrifft die angespannte Lage zu Hause weitaus mehr Familien. Familien, die wie die Beckers bangen, ob ihr Kind in seiner angestammten Schul- und Klassengemeinschaft bleiben kann. Wo die Schule, besonders die Vorbereitung auf Klausuren und Tests, Referate und Vorträge, das Leben aller Beteiligten bestimmt. Auch die Unsicherheit und Gedankenspiele verschärfen die Situation: „Um es ehrlich zu sagen, möchte ich nicht, dass mein Kind auf eine Stadtteilschule geht. Aus dem Grund, dass ich über einige schon viel Negatives gehört habe und mich sorge, dass er sich dann dem niedrigen Lernlevel anpasst und mit Charakteren in Verbindung kommt, die ihn negativ beeinflussen.“

Mutter aus Hamburg: Corona mitverantwortlich für Valentins Schulprobleme

Ein weiterer Gedanke, den Becker immer wieder hat ist, was diese drohende Abschulung mit dem Verhältnis ihres Sohnes zur Schule und dem Lernen generell mache: Der Glaubenssatz, dass Schule ätzend sei und Lernen eh nix bringe, den sie jetzt schon in Valentin Gehirn angelegt.

„Man macht sich nach der Grundschule so viele Gedanken um die passende weiterführende Schule, wir haben unser Gymnasium wirklich mit Bedacht ausgesucht. Valentin fühlt sich dort sonst total wohl, das technische und musische Angebot nimmt er liebend gern wahr und hat auch in vielen Nebenfächern richtig gute Noten“, so Becker. Auch in der zweiten Fremdsprache laufe es überraschend gut.

Nur eben in den Hauptfächern, bei welchen Vorwissen vorausgesetzt wird, da hapert es – und gerade auf die kommt es ja an. „Man muss auch bedenken, dass er die zweite Klasse der Grundschule wegen Corona faktisch nicht von innen gesehen hat“, so die Mutter. „Mein Mann und ich waren im Homeoffice, mussten arbeiten, und zwei Kinder noch adäquat durch den Schulstoff zu begleiten, war unmöglich. Schon daher hat er Lücken in Sachen Grundrechenarten und Rechtschreibung“, sagt Becker. Für sie ist das System Schule in Hamburg mit G8, dem Nicht-Sitzenbleiben-Können, der Abschulungsmöglichkeit, der ausbleibenden individuellen Zuwendung durch die überlasteten Lehrer schuld an der privaten Misere. „Das System krankt und macht unsere Kinder kaputt!“, sagt Becker – und eine Hilflosigkeit ist in ihrer Stimme zu hören.

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„Das Schlimmste, was droht, ist für uns das Stigma“, sagt sie, „dass er glauben wird, dass er trotz des vielen Lernens zu schlecht, zu blöd, zu untalentiert ist.“ Dazu komme die nervenaufreibende Ungewissheit, wie denn die schulische Zukunft dann überhaupt aussehen wird: „Ich denke darüber nach, dass Valentin dann vielleicht in einer sogenannten ‚Rückläufer‘-Klasse landet, auf einer Stadtteilschule weiter weg von uns. Dass er dort sozial wieder auf null ist, mit weiteren ‚Lernschwachen‘ zusammen und es dann immer weiter bergab geht.“ All das mache ihr Angst und belaste das Familienleben jeden Tag.

„Auf der anderen Seite sehe ich das Leben unserer Tochter Anna, die sich aufs Abitur vorbereitet“, erzählt Becker. „Sie ist ein völlig anderer Typ als Valentin, schreibt gute Noten, aber auch, weil sie seit vielen Jahren panisch lernt, weil ebenso bei ihr ein immenser Druck herrscht, nicht zu versagen.“ Auch, um am Gymnasium bei ihren Freundinnen zu bleiben.