Hamburg. Viele Taten ereignen sich im Drogenmilieu. Zwei Stadtteile stechen besonders heraus. Was Ermittlungen oft schwierig macht.
18-mal rückte im vergangenen und in diesem Jahr die Mordkommission nach Schießereien aus. In sieben Fällen gab es Tote. Die folgenreichste Tat: der Amoklauf in Alsterdorf, bei der der Täter sieben Mitglieder der Zeugen Jehovas tötete, bevor er von der Polizei durch gezielte Schüsse ausgeschaltet wurde. Die meisten, 13 der Taten, fanden außerhalb des Innenstadtbereichs statt. Nur in zwei Stadtteilen, St. Georg und Harburg, gab es gleich zwei Schießereien in dieser Zeit.
Es sind ganz offensichtlich Auseinandersetzungen in der kriminellen Szene, die dahinterstecken, wenn geschossen wird. In sieben Fällen wurde das als Hintergrund genannt. Tatsächlich dürften noch mehr Taten im Zusammenhang mit dem Drogenmilieu stehen. Das Aussageverhalten gegenüber der Polizei ist bei solchen Taten sowohl vonseiten der Täter als auch der Opfer sehr niedrig.
Kriminalität Hamburg: Schießerei im Rockermilieu wegen Geldschulden
In einem Fall ereignete sich die Tat im Rockermilieu. Es ging um Geldschulden, die ein Rocker eintreiben wollte. Der Schuldner erschoss ihn und richtete sich selbst. Geldschulen „unter Brüdern“ gelten im Rockermilieu als schweres Vergehen. Täter und Opfer standen der berüchtigten Gruppierung Hells Angels nahe.
Schusswaffe bei „Beziehungstat“ gezogen – wer schießt wo, warum in Hamburg?
In dem Fall war ein Deutscher der Schütze. Das war nur bei wenigen solcher Taten der Fall. Neben dem Rocker und dem Amokläufer war auch ein 60 Jahre alter Mann, der an der Dehnheide erst seine Frau erschoss und sich anschließend selbst tötete, sowie ein Mann aus dem rechten Milieu, der durch die Tür in die Wohnung seiner ausländischen Nachbarin geschossen hatte, ein Deutscher.
In den meisten Fällen, sechs, sind die Schützen Ausländer. In zwei weiteren Fällen haben sie Migrationshintergrund. Fast immer führt in den Fällen die Spur ins kriminelle Milieu. In einigen Fällen besteht ein Zusammenhang mit den Ermittlungen der Soko „Trinity“. Dort wird wegen mehrerer Schießereien ermittelt, die sich seit 2022 ereignet haben. Strippenzieher soll dabei der 30 Jahre alte Mansour Ismail sein, der aus dem Ausland seine bewaffneten Handlanger in Hamburg steuert, die Bestrafungsaktionen im Rahmen von Auseinandersetzungen um Drogenhandel durchführten.
Polizeiexperte sieht Kriminelle in „Lücke“ nach Ermittlungserfolgen nachrücken
Ansonsten sind die Täter schwer zu fassen. „Es sind nicht die Auseinandersetzungen zwischen klar definierten Gruppen“, sagt Thomas Jungfer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Wir haben einfach eine Situation, in der zu viele etwas vom großen Kuchen abhaben wollen.“ Jungfer kann sich vorstellen, dass die großen Ermittlungserfolge rund um die geknackten Kommunikationen der angeblich sicheren Encrochat-Dienste eine Lücke geschaffen haben, die Nachwuchskriminelle füllen wollen. „Das geben auch die Strukturen beim Drogenhandel her, der nicht mehr so stark von festen Gruppen, sondern mehr von losen, wechselnden Verbindungen geprägt ist, die für die Polizei schwerer greifbar sind“, so Jungfer.
Die Daten aus dem verschlüsselten und von der Polizei im Ausland geknackten Kommunikationssystem Encrochat hatten den Chatverlauf von Kriminellen für die Sicherheitsbehörden lesbar gemacht. Allein in Hamburg gab es Hunderte Ermittlungsverfahren und fast ebenso viele Haftbefehle.
Im Stadtteil Harburg ist eine seit Jahrzehnten berüchtigte Straße auffällig
Auffallend bei den Schießereien ist Harburg, der Stadtteil, in dem wie in St. Georg zwei der Taten stattfanden. Was Harburg besonders macht: Beide Schießereien ereigneten sich in der Wilstorfer Straße, die seit Jahrzehnten als Brennpunkt und Treffpunkt der Kriminalität gilt. In einem Fall war nach einem Streit geschossen worden. Im zweiten Fall hatte es eine Auseinandersetzung zwischen zwei Männern gegeben, die dem Rotlichtmilieu zugerechnet werden. Beide stammen nicht aus der Gegend.
„Das ist natürlich bezeichnend, dass ausgerechnet St. Georg und die Wilstorfer Straße herausragen“, sagt Jungfer. Hier zeige sich das Problem eines hohen Bewaffnungsgrades in der Szene. „Es muss ja nicht immer eine gezielte Aktion sein, bei der eine Schusswaffe zum Einsatz kommt“, sagt Jungfer. „Das Problem ist, wenn die Waffe verfügbar ist. Sie wird dann auch eingesetzt. Gerade bei solchen spontanen Streitigkeiten auf der Straße ist dann natürlich die Gefahr, dass Unbeteiligte in die Schusslinie geraten, besonders groß.“
Opposition fordert Verstärkung für das LKA und die Staatsanwaltschaft
Dennis Thering, Fraktionsvorsitzender der CDU im Rathaus, sieht das ähnlich. „Es vergeht kaum ein Monat ohne neue Opfer von Messer- oder Schusswaffenattacken, viele davon begangen von einer zunehmend gewalttätigen Dealerszene 4.0.“ Es sei unerlässlich, die Täter konsequent und zügig zu verfolgen und die zuständigen Dienststellen im Landeskriminalamt und bei der Staatsanwaltschaft personell zu verstärken, damit laufende Ermittlungsverfahren rasch abgeschlossen und kriminelle Strukturen nachhaltig aufgedeckt werden könnten. Außerdem fordert Thering Lockerungen beim Datenschutz, der nach seiner Ansicht zu oft Ermittlungen erschwert.
- 20 Schüsse auf Audi: Tobt ein Drogenkrieg in Tonndorf?
- Beinschuss in Harburg: Polizei nimmt Mann in der Schweiz fest
- Erschossener Jungunternehmer (31) wollte Polizist werden
Die Strukturen zu zerschlagen, dürfte eine Mammutaufgabe werden. Bereits Anfang 2023 hatte der Kriminologe Wolf-Reinhard Kemper angesichts einer Schießerei im Drogenmilieu in Tonndorf gegenüber dem Abendblatt geäußert: „Es handelt sich um eine unübersehbare Flut von Menschen, die aus sozial schlechten Verhältnissen kommen, die schlecht erzogen sind und deren einziges Ziel ist, reich und große Gangster zu werden. Sie schließen sich zu kleinen Gruppen zusammen, von denen es bereits viele gibt und die immer mehr werden.“