Hamburg. Zwischen Fiktion und Wahrheit: Die forensischen Experten sind keine Action-Leute oder Superhirne – doch auch für sie gibt es krasse Fälle.
- Weder Actionheld noch Superman: Anders als im Fernsehkrimi mischen sich Rechtsmediziner nicht in Ermittlungen ein
- Viele spannende Fälle: Angeblich Herzinfarkt. Doch tatsächlich war es Mord!
- Wie der echte Rechtsmediziner am Tatort vorgeht und wie er die Verdächtigen untersucht
Er mischt sich mit Vorliebe in Ermittlungen ein und stellt einem Verdächtigen, der fliehen möchte, auch schon mal ein Bein: Rechtsmediziner Karl-Friedrich Boerne prägt im „Tatort“, dem populären Fernsehkrimi aus Münster, das Bild des forensischen Experten – launig, etwas verschroben und immer mittendrin im Geschehen. Doch wie viel „Boerne“ steckt wirklich in der Rechtsmedizin?
„Wenn man manche Krimis im Fernsehen sieht oder entsprechende Bücher liest, kann der Eindruck entstehen, als seien Rechtsmediziner so etwas wie Ermittler, die einen Übeltäter auch mal festnehmen“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem True-Crime-Podcast vom Hamburger Abendblatt mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Deshalb sollten wir uns mal damit auseinandersetzen, wie weit bei Kriminalfällen Wahrheit und Fiktion auseinandergehen. Wenn ich meine eigene Sichtweise auf meinen Beruf zusammenfassen soll, kann ich sagen, dass sie stark ärztlich und naturwissenschaftlich geprägt ist.“
True Crime Hamburg: Rechtsmediziner wollen wissen, was wirklich war
„Also keine Fiktion, kein einsamer Kämpfer für Recht und Ordnung?“, bringt es Mittelacher auf den Punkt. „Nein“, bestätigt Püschel. „Und auch kein Superhirn und kein Action-Mann. Aber ich bin ein Überzeugungstäter. Als Rechtsmediziner will ich wissen, was wirklich war – und was wirklich wahr ist.“ Der wahre Alltag des Rechtsmediziners ist zwar anders als der von „Boerne“ und Co., aber nicht minder spannend. „Und nicht selten gibt es solche Fälle, bei denen es zunächst heißt: Hier ist jemand eines natürlichen Todes gestorben. Das war ein Herzinfarkt. Und bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus: von wegen Herzinfarkt!“, sagt Mittelacher. „Das war Mord!“
„Wenn jetzt jemand denkt, dass wir bei Menschen, die angeblich an Altersschwäche oder einer schweren Krankheit gestorben sind, dann entdecken, dass bei dem Toten ein Messer im Rücken steckt: So krass ist es nicht“, stellt Püschel klar. „Aber es gab durchaus bemerkenswerte Fälle, bei denen ein gewaltsamer Tod zunächst nicht angenommen wurde. Die Wahrheit trat erst bei der rechtsmedizinischen Untersuchung zutage.“
„Oma-Mörder“: Erst in der Rechtsmedizin wurde erkannt, dass es Verbrechen waren
Ein solch spektakulärer Fall war der des sogenannten Oma-Mörders. Es handelte sich um einen Krankenpfleger, der im Jahr 2001 binnen neun Tagen fünf Seniorinnen umgebracht hat. Ein sechstes Opfer überlebte nur knapp. Erst dachte man, bei den verstorbenen alten Menschen hätte schlicht das Herz versagt. Aber es war ganz anders.
In der Rechtsmedizin wurde schließlich erkannt, was sich wirklich abgespielt hat. Tatsächlich hatte der Pfleger die Menschen, die er zu Hause versorgen sollte, überrumpelt, sich dann auf sie gekniet und sie erstickt. Das wurde durch die Ergebnisse der Obduktion deutlich, unter anderem, weil die Opfer diverse Rippenbrüche erlitten hatten. Die Haut hatte wie ein Deckmantel über den Verletzungen gelegen, sodass erst bei der Sektion das Ausmaß der Verletzungen klar wurde. Und es wurde durch die parallel durchgeführten Ermittlungen der Polizei deutlich: Der Mann hatte die Frauen getötet, um sie ungestört ausrauben zu können. Der Täter wurde schließlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Wie Rechtsmediziner im wahren Leben bestimmte Verbrechen erkennen
„Als rechtsmedizinischer Experte begreift man, was die Toten einem sagen wollen. Wenn ich zum Beispiel bei einem Toten ein ganz bestimmtes Verletzungsmuster sehe, weiß ich genau, dass er erstickt wurde“, erklärt Püschel. „Da gibt es ganz typische Merkmale, die ein Leichnam dann aufweist.“ Dabei handele es sich etwa um eine Strangmarke am Hals oder andere Hinweise wie punktförmige Einblutungen in den Bindehäuten der Augen.
Rechtsmediziner gehen etlichen weiteren Fragen auf den Grund als nur der nach der Todesursache. Da geht es unter anderem um den Todeszeitpunkt und darum, welche Spuren Rückschlüsse auf den Täter zulassen. Eine zentrale Frage ist aber auch, was man aus dem Tod eines Menschen lernen könne. Also: Wie konnte es dazu kommen? Wie können ähnliche Todesfälle in Zukunft verhindert werden?
Plötzlicher Kindstod: Experten fanden heraus, welche Risikofaktoren es gibt
Ein Paradebeispiel dafür, wie aus Erkenntnissen von Todesfällen weitere tragische Ereignisse vermieden werden können, ist der plötzliche Kindstod. „Lange wusste man nicht, wieso es dazu kommen kann, dass ein gesundes Kind über Nacht völlig unerwartet stirbt – und vor allem, wie man da Vorsorge treffen kann“, erinnert Mittelacher. „Durch intensive Beobachtung und genaue rechtsmedizinische Untersuchungen haben Experten herausgefunden, dass es für den plötzlichen Kindstod mehrere Risikofaktoren gibt – und was man umgekehrt dafür tun kann, damit ein Kind eben nicht den plötzlichen Kindstod erleidet.“ Zum Beispiel, dass der Säugling möglichst in einer Umgebung aufwachsen soll, in der nicht geraucht wird. Außerdem hilft es unter anderem, das Baby in Rückenlage schlafen zu legen.
„Was uns Rechtsmediziner auch noch antreibt: Wie unterstützen wir die Opfer? Die direkten und die vielen indirekten, also die Angehörigen und die Freunde eines Opfers“, erklärt Püschel. „Denn Rechtsmedizin ist Opfermedizin. Hier geht es um Krankheiten, die zu den häufigsten auf der Welt gehören, nämlich Gewalt, Vernachlässigung, Vergiftung beziehungsweise Verletzung und Tod.“ Außerdem untersuchen Rechtsmediziner auch viele Lebende, also zum Beispiel Menschen, die schwer verletzt wurden, und Opfer bei Verkehrsunfällen. „Wenn jemand also herablassend oder zynisch über Rechtsmediziner sagt: Das sind doch die Ärzte, die immer zu spät kommen, denn die Opfer sind ja schon tot, dann stimmt das gar nicht“, folgert Mittelacher.
Ein Toter, ein Schwerverletzter – und ein Mann mit einem Messer
Wie sich der Einsatz eines Rechtsmediziners in der Realität abspielen könnte, zeigt beispielhaft ein Fall aus Norddeutschland. An jenem 22. Dezember teilt die Polizei der Rechtsmedizin mit, dass es auf einem landwirtschaftlichen Anwesen einen Toten und einen Schwerverletzten gibt – und dass man einen Verdächtigen festgenommen hat. In seiner Nähe hat man ein blutiges Messer gefunden.
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„Übrigens, ein interessantes Detail am Rande“, erzählt Püschel. „Vier Tage nach dem Tötungsfall auf dem ländlichen Anwesen kam wieder ein Anruf in unserem Institut für Rechtsmedizin, wie wenige Tage zuvor wieder etwa gegen Mitternacht. Erneut hatte ich Hintergrunddienst. Und wieder ging es um ein Geschehen mit Todesopfern und eine Untersuchung eines Geschädigten im Krankenhaus. Das Verbrechen spielte sich in demselben kleinen Ort ab. Das war wirklich eine bemerkenswerte Duplizität der Ereignisse. Und insbesondere deshalb, weil ich weder vorher noch nachher in mehr als 40 Jahren als Rechtsmediziner in diesem kleinen Ort zu tun hatte. Und übrigens auch kein anderer Rechtsmediziner!“
Eine erste Einschätzung am Tatort ist wichtig für die Ermittlungen
In jedem Fall sieht sich der Rechtsmediziner am Geschehensort den Toten an und guckt, wo auf den ersten Blick Verletzungen zu sehen sind. „Denn auch wenn es genaue Erkenntnisse erst nach einer Obduktion gibt: Eine erste Einschätzung am mutmaßlichen Tatort ist wichtig für die Ermittlungen“, erzählt Püschel. „Also möchte die Kripo immer, dass man als Rechtsmediziner zumindest einen ersten Eindruck mitteilt.“ Das sind beispielsweise Rückschlüsse aus den Blutspuren, aus denen man unter Umständen erkennen kann, aus welcher Richtung ein Schuss kam oder ob ein schwer verletztes Opfer sich noch durch einen Raum bewegt hat.
Der Tote an jenem 22. Dezember ist völlig bekleidet, der Kragen des Opfers ist blutdurchtränkt, die Hände sind blutverschmiert. Es gibt Verletzungen, die typisch sind für Abwehrhandlungen. Außerdem hat das Opfer am Kinn und am Halsbereich diverse Stich- und Schnittverletzungen sowie eine Stichverletzung am Rücken.
Was zu tun ist, wenn Verdächtige rechtsmedizinisch untersucht werden
„Meine erste Beurteilung“, sagt Püschel: „Der Mann hat durch die Stichverletzungen sehr viel Blut verloren und ist daran gestorben.“ Außerdem gibt es an diesem Geschehensort ein weiteres Opfer. Dieser Mann hat aber mit schweren Verletzungen überlebt. Wie sich herausstellt, ist es der Bruder des Getöteten. Der Mann wurde in einem der Nebengebäude des landwirtschaftlichen Betriebs aufgefunden. Er wurde ins Krankenhaus transportiert.
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Und es gab eine weitere Person in einem angrenzenden Verschlag. Neben diesem Mann, der dann festgenommen wurde, hatte das Messer gelegen, das diverse Blutanhaftungen aufwies. „Dieses Messer gucke ich mir genau an und stelle fest, dass es als Tatmesser für die Verletzungen des getöteten Hausbesitzers in Betracht kommt“, erläutert Püschel. Dies sei unter anderem an der Klingenbreite zu erkennen. Außerdem untersucht Püschel den Mann, der aus Sicht der Polizei für die Taten verdächtig ist. „Bei der Untersuchung, die noch in der Nacht auf einer Polizeiwache vorgenommen wird, liegt ein Hauptaugenmerk auf den Händen des Verdächtigen – um Spuren zu sichern. Außerdem erfolgt eine Blutentnahme, die Asservierung von Urin und Haaren für chemisch-toxikologische Untersuchungen auf Alkohol, Drogen und Medikamente.“
Das Opfer wurde stranguliert und dann durch Messerstiche verletzt
Und schließlich wird der Tote obduziert. Es handelt sich um einen 82-Jährigen, der Zeichen einer ausgedehnten Strangulation aufweist, also unter anderem Halsweichteilblutungen und eine Fraktur des Zungenbeins. Außerdem werden bei der Obduktion die Messerverletzungen genauer analysiert. Allein am Hals gab es 20 Stich- und Schnittverletzungen sowie die Stichverletzungen am Rücken, die die Körperhauptschlagader, die Aorta, verletzt haben.
„Das Opfer ist ausgeblutet“, erläutert Püschel. „Wir rekonstruierten, dass der Mann zunächst stranguliert wurde, dadurch weitgehend handlungsunfähig wurde und dann auf ihn eingestochen wurde. Die Stiche wurden mit nicht unerheblicher Gewalt geführt.“ Das ist daran zu erkennen, dass Knochen eingekerbt und perforiert sind.
Der Verdächtige hatte 3,5 Promille, das Opfer 0,0
„Nach der Sektion fahre ich ins Krankenhaus und untersuche den Bruder des Getöteten. Er weist diverse Verletzungen auf, die beispielsweise durch eine Schlägerei entstanden sein können. Also Platzwunden, Hautunterblutungen und Rippenprellungen.“ Der Verdächtige hatte zurückgerechnet 3,5 Promille. Der Verletzte wies einen ähnlich hohen Wert auf, nämlich 3,0 Promille. Der Getötete hatte 0,0 Promille.
Später kam es zum Prozess gegen den Verdächtigen. „Der Angeklagte hat sich nicht zu den Vorwürfen geäußert. Aber die rechtsmedizinischen, chemisch-toxikologischen und spurenkundlichen Untersuchungsergebnisse waren eindeutig“, erzählt Püschel. „Der Angeklagte war zweifelsfrei der Täter. Es handelte sich um ein außer Kontrolle geratenes Zechgelage, das zum heftigen Streit ausgeufert war und bei dem der eine Mann dann ein Messer eingesetzt hatte.“
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Wegen der starken Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit war die Frage, inwieweit der Mann überhaupt schuldfähig war. Ein psychiatrischer Sachverständiger war nämlich zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht sicher auszuschließen sei, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten aufgehoben war. Laut deutschem Strafrecht wird in so einem Fall nicht mehr die eigentliche Tat, also in diesem Fall die Tötung des 82-Jährigen, bestraft. Bestraft wird vielmehr das Sich-Betrinken, wenn der Täter zumindest billigend in Kauf nimmt, dass er infolge des Sich-Betrinkens in einen Rausch gerät – und dann in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht. Insofern wurde der Angeklagte dann letztlich wegen vorsätzlichen Vollrausches verurteilt. Er erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren.
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