Hamburg. Der deutschlandweit bekannte Rechtsmediziner denkt trotz Ruhestands noch nicht wirklich ans Aufhören. Was Klaus Püschel antreibt.
Morgennebel wabert über Felder und Baumreihen. Die Sonne ist noch kraftlos um diese frühe Stunde. Und die Temperaturen lassen die Menschen, die auf diesem Acker stehen, frösteln. Zwei düster wirkende Gestalten in langen schwarzen Mänteln machen sich an dem Erdreich zu schaffen. Einer von ihnen bearbeitet mit einer Schaufel den Boden, und nach dem vierten Spatenstich kommt ein bleicher Knochen zum Vorschein, nach und nach ein ganzer Leichnam.
Es ist eine Szenerie, als hätte Thriller-Altmeister Alfred Hitchcock Regie geführt. Doch die beiden Männer, die dort auf einem Feld eine Tote ausgraben, führen nichts Böses im Schilde. Sie sind die Guten. Sie wollen einen Kriminalfall aufklären, der in der Geschichte Norddeutschlands wohl einzigartig ist. Ein Leichnam ist aus einem Sektionssaal gestohlen worden, und in den kommenden Wochen verschwinden weitere Tote auf geheimnisvolle Weise.
Klaus Püschel klärt mysteriöse Serie von Leichendiebstählen mit auf
Einer der Experten, die die mysteriöse Serie von Leichendiebstählen aufklären, ist ein junger, aufstrebender Rechtsmediziner. Er hat den verschollenen Verstorbenen ihre Namen zurückgeben können und den Angehörigen die Möglichkeit, ihre Liebsten würdevoll zu beerdigen. Damals, im Jahr 1978, steht dieser Experte gerade am Beginn einer Laufbahn, die ihm schließlich weit über Deutschlands Grenzen hinaus ein herausragendes Renommee verschafft.
Mehr als vier Dekaden später hat jene Szenerie auf dem Acker bei Verden für Rechtsmediziner Klaus Püschel noch immer eine besondere Symbolik. Weil der Fall des Mannes, der aus Leidenschaft Leichen klaute, zeigt, „dass es nichts gibt, was es nicht gibt“, erklärt der forensische Experte. Püschel äußerst diese Erkenntnis ohne Pathos und ohne Drama – aber mit Überzeugung.
Dieser Satz kommt vom einem Mann, der sich mit dem Tod, mit Verbrechen und menschlichen Abgründen besonders gut auskennt. Er hat dem Sensenmann in die Karten geschaut, den Opfern in ihr Innerstes und den Tätern in ihre dunkle Seele. Er ist jemand, den das Wissen, dass manche Menschen zu buchstäblich allem fähig sind, nicht zynisch gemacht hat. Es spornt ihn tatsächlich immer weiter an, von Toten für die Lebenden zu lernen.
Es gibt nichts, was es nicht gibt: Wie wahr dieser Satz ist, hat der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in den Zigtausenden Fällen erfahren können, die er in seinem 44 Jahre dauernden Berufsleben untersucht hat. Diese Erkenntnis ist auch das Destillat aus ungezählten Akten, die sich in seinem dicht bepackten Büro türmen.
Püschel hört als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE auf
In einer Ecke des Raums thront auf einem hölzernen Podest der Totenkopf des Piraten Klaus Störtebeker, der jeden Besucher aus leeren Augenhöhlen zu betrachten scheint. Auf einem Papierstapel liegt ein bleicher Schädel, der von zwei Projektilen durchdrungen wurde. In gläsernen Kästen sind Teile einer Moorleiche und Knochen zu sehen, Herzklappen und Totenmasken mit Strangmarken.
Ein Gruselkabinett, könnte man meinen. Doch es sind die Zeugnisse des bewegten Arbeitslebens eines Mediziners, der den Toten ihre letzten Geheimnisse abringt, um die Wahrheit hinter Verbrechen zu ergründen. „Rechtsmedizin ist für mich kein Beruf, vielmehr ein Lebensweg“, sagt Klaus Püschel. So ein bedeutungsschwerer Satz könnte für aufgesetzt gehalten werden.
Aber wer den 68-Jährigen kennt, weiß, dass er nicht für Koketterie, sondern für Klartext steht, auch wenn das manchmal unbequem sein kann. Stromlinienförmig sein, windschlüpfig, das ist nie sein Ding gewesen. Er hat deutliche Worte ebenso wenig gescheut wie sehr lange Arbeitstage, die meist spätestens um 6 Uhr morgens beginnen, mit open end. Er hat keine weiten Wege gemieden oder schwierige Aufträge.
Klaus Püschel wurde nahe Greifswald geboren
Diese Geschichte über den Mann, der 29 Jahre lang das Hamburger Institut für Rechtsmedizin geleitet hat und der am 30. September in dieser Funktion in Pension geht, könnte statt auf dem Acker bei Verden auch an diversen anderen Tatorten begonnen werden. An der Steilküste am äußersten westlichen Zipfel der Algarve etwa, wo der Leichnam eines bekannten Hamburger Verbrechers angespült wurde. In einem niedersächsischen Restaurant, in dem sieben Menschen kaltblütig erschossen wurden. In einer engen Wohnung, wo jemand eine alte Frau gemeuchelt hat. Auf einem Friedhof, auf dem ein Leichnam exhumiert wird. Auf einem unbeleuchteten Parkplatz, wo eine 16-Jährige von ihrem eigenen Bruder niedergemetzelt wurde. Oder in einem Sektionssaal etwa in Japan oder den USA, wo Püschel bei Auslandseinsätzen tätig war.
Der in Grammendorf in der Nähe von Greifswald geborene Fachmann ist in seinem Berufsleben an vielen interessanten, beklemmenden und düsteren Orten gewesen. Doch tatsächlich fängt die Geschichte des Hamburger „Quincy“ oder „Boerne“ in einem Hörsaal in Hannover an, wo Püschel 1975 als Medizinstudent des 11. Semesters die Vorlesung des Rechtsmediziners Bernd Brinkmann hört. Diese anderthalb packenden Stunden werfen die lang gehegten Pläne des begeisterten Hobby-Athleten, Sportarzt werden zu wollen, komplett über den Haufen. „Die Vorlesung von Brinkmann war ungeheuer aufregend, geradezu mitreißend. Von diesem Moment an wusste ich: Das ist das, was ich in meinem Leben machen möchte“, erinnert sich Püschel. „Kein Fach ist so spannend wie die Rechtsmedizin. Unsere Arbeit ist dynamisch, überraschend und fesselnd.“
Seine „Patienten“ sind die Schwächeren der Gesellschaft. Er sieht sich als „Überzeugungstäter“, einer, der Toten eine Stimme gibt und so mithilft, die Täter zu überführen. „Und für die Hinterbliebenen ist die Antwort auf die Frage, wie ihr Liebster gestorben ist und ob er leiden musste, manchmal ein entscheidendes Detail, um mit ihrer Trauer besser umgehen zu können.“ Püschel hat beispielsweise die vier Hamburger untersucht, die an einem Sonnabend im März 2011 mitten in Eppendorf von einem Auto erfasst und getötet wurden.
Der Rechtsmediziner war beteiligt an der Sektion der Opfer, nachdem ein Auftragsmörder bei seiner Vernehmung im Polizeipräsidium mehrere Menschen erschossen hatte – der Fall, bei dem St. Pauli-Killer Werner Pinzner den Staatsanwalt, seine Ehefrau Jutta und sich selbst tötete, erschütterte 1986 die Stadt. Er hatte einen Einsatz auf einem Bauernhof, auf dem nacheinander vier Menschen in einer Güllegrube zu Tode kamen, nachdem sie jeweils die vor ihnen Verunglückten hatten retten wollen.
Püschel untersuchte auch Verbrechen des Säurefass-Mörders
Und er obduzierte einen 89-Jährigen, der auf der Suche nach dem ultimativen sexuellen Kick einen Kreislaufkollaps erlitt und in einem Bachlauf ertrank. Püschel hat Verbrechen untersucht wie das des Säurefass-Mörders, der zwei Frauen entführte und gefangen hielt, sie folterte, ermordete und ihre Körper in Säurefässern vergrub. Er wurde zu einem Tatort in Lüneburg gerufen, bei dem ein Mann einen anderen mit etlichen Messerstichen schwer verletzte und dann mit einer Bohrmaschine dessen Kopf traktierte, weil er glaubte, das Opfer sehe ihn „noch so merkwürdig an“.
Als Fachmann fürs Abnormale hat er Menschen untersucht, die sich selber Finger oder ganze Hände abhackten in der Hoffnung, für die Invalidität hohe Versicherungssummen einstreichen zu können. Und er analysierte einen Tatort im Raum Itzehoe, als in einem Haus ein Ehepaar in dessen Doppelbett erschlagen wurde. Den ermordeten Sohn fand man im Keller. 13 Jahre nach dem Verbrechen aus dem Jahr 1986 konnte der Mörder durch sichere Spuren sowie DNA-Analyse überführt werden. Es war der Freund der Tochter.
Das alles ist nur ein sehr kleiner Bruchteil der Fälle, an deren Aufklärung der Experte beteiligt gewesen ist. Mit seiner Arbeit verbindet Püschel zudem ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen. „Für mich gehört zum Arztberuf, im Bereich des Menschlichen etwas zu verbessern. Der Rechtsmediziner fragt nach dem Gesamtbild. Er fragt sich, warum jemand hier und jetzt zum Opfer werden konnte“, erklärt er. „Einzelschicksale sind zudem verknüpft mit Eigenheiten der Zeit, in der wir leben. Bekommen Schwache wie Kinder und Alte genügend Schutz vor Übergriffen? Achtet der Staat ausreichend auf die Bedürfnisse der Opfer? Wie geht er mit Obdachlosen um? Was ist los im Verkehr? Wie geht es in Pflegeheimen zu? Mit diesen Themen beschäftige ich mich und lege den Finger in die Wunde. Wortwörtlich.“
Püschel spricht sich für Organspenden aus
Wann immer man sich mit dem Fall eines Opfers beschäftigt, erläutert der Familienvater und Großvater von sieben Enkeln, nehme man einen Faden auf, der zu gesamtgesellschaftlichen Aspekten führt. „Das ist manchmal nur ein schwaches Fädchen. Aber wenn man sich mit vielen dieser Opfer beschäftigt, dann hat man, bildlich gesprochen, nicht nur etwas Verband auf die jeweiligen Wunden gepackt. Sondern man hält nach und nach einen dicken Strick in der Hand, mit dem man an den miesen Verhältnissen in der Gesellschaft ruckeln kann.“
Ein weiteres Thema, das Püschel umtreibt, ist die Organspende. Jeder sollte dazu bereit sein, meint er. Und natürlich trägt er seinen eigenen entsprechenden Ausweis stets bei sich. Wer Bedenken hat, einer Entnahme etwa von Lunge oder Herz am hirntoten Körper zuzustimmen, der könne zumindest eine Vollmacht für eine Gewebespende wie Muskeln, Herzklappen und Augenhornhäute erteilen, die auch mehrere Stunden nach dem Ableben noch entnommen werden können. „Wer meint, er sei schon zu alt oder zu krank für eine Organspende, dem sei gesagt, dass das meist nicht stimmt. Wir konnten kürzlich einer verstorbenen 101-Jährigen die gesunden Augenhornhäute entnehmen und einem 80-Jährigen transplantieren lassen. Damit hat die Frau geholfen, dass dieser Mann sehr viel an Lebensqualität zurückgewonnen hat. Er kann beispielsweise wieder Fahrrad fahren und lesen.“
Credo des Rechtsmediziners: Immer positiv denken
Die wichtigste Lehre, die Püschel persönlich aus dem Umgang mit dem Tod für das Leben gewonnen hat? Die Antwort auf diese Frage kommt prompt. Der Hamburger spricht mit seiner typischen rauen, eindringlichen Stimme. „Positiv denken! Die schönen Dinge ganz bewusst erleben und auskosten.“
Vielleicht ist es das, was schon Seneca vor fast 2000 Jahren gemeint hat. „Bemiss deine Lebenszeit; für so vieles reicht sie nicht“, hat der römische Philosoph und Schriftsteller geschrieben. Denn keiner von uns weiß, wie lange er am Leben bleibt. „Das einzig Sichere ist, dass wir sterben müssen. Wir wissen nur nicht genau, wann, wie, wo und woran“, ist eine Lebensweisheit, die Püschel als Hochschullehrer immer wieder seinen Studenten gepredigt hat. „Und die Fälle aus der Rechtsmedizin lehren uns: Manchmal stirbt man schneller, als man denkt.“
Wie wahr das ist, hat sich immer wieder auf tragische Weise bestätigt, unter anderem direkt vor den Toren des UKE. „Einer meiner Studenten hatte es eilig, zu einem Termin zu kommen, und hat deshalb die Vorlesung vorzeitig verlassen. Wenige Minuten später war er tot: Er ist ganz in der Nähe vom Institut mit seinem Rennrad vor einen Lkw gestürzt und wurde überrollt.“ Deshalb sei es wichtig: „Nichts auf die lange Bank schieben“, rät Püschel. „Den Freund oder die Tante jetzt besuchen.“ Und auch er, der über Gevatter Hein so viel weiß wie nur wenige andere, hat Angst vor dem Tod, räumt der 68-Jährige ein. „Weil das Leben so viel Spaß macht!“
Der tägliche Umgang mit dem Tod präge einen natürlich, bekennt Püschel. „Aber die Verstorbenen, mit denen wir umgehen, sind für uns keine Objekte der Trauer. Bei der Arbeit selbst muss ich Emotionen ausblenden, das ist ganz wichtig. Meine Ergebnisse müssen vor Gericht bestehen können. Wir mögen betroffen oder sogar erschüttert sein von einem Schicksal, insbesondere wenn Kinder die Opfer sind wie im Fall der kleinen Yagmur, die von ihrer Mutter zu Tode geprügelt wurde. So ein furchtbares Schicksal beschäftigt mich sehr.“
Püschel hat rund 50.000 Toten untersucht
Die vom „Tatort“ und anderen Fernsehkrimis gern transportierte Botschaft, Rechtsmediziner seien meist verschrobene, kaltschnäuzige Typen, treffe nicht zu, auch nicht für Experten, die lange im Beruf sind. „Je weniger das schillernde Gefühl des Neuen einen packt, desto mehr Raum bekommt die Ehrfurcht. Die Ehrfurcht vor der menschlichen Existenz, deren Zerbrechlichkeit, verbunden mit dem Willen, Opfern zukünftig mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“
Auf den einen, den spannendsten Fall will Püschel sich nicht festnageln lassen. Kein Wunder bei rund 50.000 Toten, die er untersucht hat, davon etwa 10.000 Obduktionen. „Natürlich sind da immer wieder herausragende Ereignisse“, erzählt Püschel. Es sind unter anderem die Untersuchungen von sehr lange zurückliegenden Todesfällen wie Moorleichen, denen er Geheimnisse entlocken konnte, die ihn über die Maßen faszinieren.
Neben dem Jungen von Kayhausen, der in der Zeit vor Christus einen grausamen Tod fand und dessen gefesselten Körper der Rechtsmediziner untersuchte, konnte Püschel vor allem über die Moorleiche „Moora“ viele Erkenntnisse gewinnen. So fand er über die im Jahr 2000 im niedersächsischen Uchter Moor entdeckte Tote in Zusammenarbeit mit anderen Experten beispielsweise heraus, dass sie etwa 600 vor Christus gelebt hat. Sie wurde 16 oder 17 Jahre alt. Püschel konnte nachweisen, dass Moora weite Teile ihres Lebens schwere Lasten tragen musste und dass sie Rechtshänderin war. Er entdeckte, an welchen Krankheiten sie litt und dass sie mindestens sieben Hungersnöte durchgemacht hat. Und schließlich rekonstruierten Fachleute sogar rund 2600 Jahre nach ihrem Tod ihr Gesicht.
Püschel untersuchte den „Störtebeker-Kopf“
Einer der Favoriten in Püschels Laufbahn ist zudem jener historische Fund, der heute als „Störtebeker-Kopf“ im Museum für Hamburgische Geschichte einen Ehrenplatz hat. Lange war nicht bekannt, um was für einen Schatz es sich bei dem Schädel handelt, der im Jahr 1878 auf dem Grasbrook entdeckt worden war. Bis sich Püschel zur Jahrtausendwende des knöchernen Fundes annahm. Eine Untersuchung ergab, dass der Mann etwa im Jahr 1400 gestorben war – also zu jener Zeit, in der die legendären Piraten der Likedeeler auf den Meeren unterwegs waren. Könnte der Schädel also der des Freibeuters Klaus Störtebeker sein, der mit dem Richtschwert hingerichtet wurde?
Weitere Erkenntnisse sprechen dafür. „Vor allem konnten wir nachweisen, dass der Schädel nach der Enthauptung auf einzigartige Weise präpariert wurde, damit er nicht auseinanderbricht“, erklärt Püschel. „So wollte man sicherstellen, dass der Kopf des Piratenanführers, den man auf einem Pfahl ausgestellt hatte, möglichst lange erhalten bleibt. Damit sollte anderen klargemacht werden: In Hamburg werden Straftäter hingerichtet. Hier herrscht Recht und Ordnung.“
Ebenfalls hoch spannend sei die Obduktion des früheren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel gewesen, der tot in Genf in einer Badewanne gefunden wurde. Der Politiker ist durch einen gefährlichen Medikamenten-Cocktail gestorben. Auch der Fall des Wettermoderators Jörg Kachelmann ist Püschel besonders in Erinnerung. Kachelmann war von seiner Ex-Geliebten beschuldigt worden, sie vergewaltigt zu haben.
Doch nach Überzeugung des forensischen Experten Püschel war eindeutig, dass die Frau sich ihre Verletzungen selber zugefügt und eine Vergewaltigung nur vorgetäuscht hatte. Weitere Rechtsmediziner teilten seine Ansicht. Kachelmann wurde nach einem spektakulären Prozess freigesprochen. Und ein später mit dem Fall befasstes Oberlandesgericht stellte fest, dass die Frau den Wettermoderator „vorsätzlich, wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigte“. Sie habe „die Verhaftung Kachelmanns herbeiführen“ wollen, hieß es in Urteil, in dem von „krimineller Energie“ der Frau die Rede war.
Püschel wird bei nach einem Voodoomord zu Rate gezogen
Ein Voodoomord, der 2010 im westafrikanischen Benin beinahe zu einer Staatskrise geführt hatte, gehört ebenfalls zu jenen Fällen, die der Rechtsmediziner zu seinen spannendsten zählt. Die Welt des Voodoo, also der Geister und Opferkulte, ist offiziell anerkannte Religion in Benin. „Ich wurde von der dortigen Regierung gebeten, im einem mysteriösen Todesfall durch eine Obduktion Klarheit zu verschaffen. Und da stand ich nun bei mindestens 35 Grad im Schatten, den es aber nicht gab, in einer kargen Landschaft unter freiem Himmel und sollte einen Leichnam sezieren“, schildert der Rechtsmediziner. „Um mich herum waren schwer bewaffnete Männer postiert – aber nicht um mich zu bedrohen, sondern um mich zu schützen. Trotzdem war das eine beklemmende Situation.“
Püschel konnte trotz der weit fortgeschrittenen Verwesung bei dem Toten Fingerabdrücke abnehmen und ihn als jenen Verwaltungsbeamten identifizieren, der bis dahin als vermisst gegolten hatte. Als tatsächlicher Mörder wurde ein Voodoo-Zauberer entlarvt. Damit war die Staatsführung Benins von dem Verdacht befreit, sie habe einen Regime-Kritiker beseitigen lassen.
Der Voodoo-Zauberer hatte dem Toten zudem unter anderem Herz und Ohr herausgeschnitten und in Gefäßen aufgehoben. Dahinter steht der Glaube, dass die Kräfte eines Getöteten übergehen auf denjenigen, der die Körperteile verwahrt, wobei das Herz für ein langes Leben steht. „Doch ein solches war dem Mörder nicht vergönnt“, erzählt Püschel. „Der Zauberer starb nicht lange nach seiner Verurteilung im Gefängnis. Ihm hat das fremde Herz nicht genützt.“
Herausragend ist zudem die Verbrechensserie des sogenannten Oma-Mörders. Ein Altenpfleger hatte innerhalb von neun Tagen fünf Seniorinnen getötet, um sie auszurauben – ohne dass die Taten als Mord erkannt worden waren. Der 32-Jährige hatte die Opfer jeweils mit einem Kissen erstickt und praktisch keine äußerlich sichtbaren Spuren hinterlassen. So wurde bei den betagten Frauen angenommen, sie seien an Herzversagen gestorben. Erst als ein sechstes Opfer den Angriff knapp überlebte, wurden die anderen Frauen obduziert und die Mordserie aufgedeckt. Dabei fanden Rechtsmediziner teilweise schwerste innere Verletzungen, über denen die Haut vorher wie ein Deckmantel gelegen hatte. „Dieser Fall hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, wie wichtig es ist, die Toten professionell zu untersuchen, damit keine Verbrechen unentdeckt bleiben“, betont Püschel.
Auch der Göhrdemörder beschäftigte Püschel
Besonderes Interesse hat er aktuell am Fall des Göhrdemörders Kurt-Werner Wichmann. Der Mann erschoss 1989 innerhalb weniger Wochen zwei Paare, die Ausflüge ins Waldgebiet Göhrde gemacht hatten, sowie Birgit Meier, die Schwester von Wolfgang Sielaff, dem damaligen Chef des Hamburger Landeskriminalamts. 28 Jahre lang galt die Frau als vermisst, bis Püschel zusammen mit Weggefährten aus Kriminalistik, Justiz und Psychologie herausfand, dass die Überreste ihres Leichnam in einer geheimen Grube unter Wichmanns Garage verborgen waren. Darüber hinaus wird der Mörder mit mehr als 20 weiteren Tötungsdelikten im Raum Lüneburg in Verbindung gebracht. Die Polizei hat mittlerweile sogar Hinweise auf rund 200 Tötungsdelikte in der ganzen Bundesrepublik, die in ihrer Vorgehensweise zu Wichmann passen könnten.
1993 beging der damals 43-Jährige Suizid, und gegen Tote wird nicht ermittelt. Doch wenn ein Mörder nicht mehr lebt, sind seine Taten noch lange nicht vergessen. Die Angehörigen der Opfer leiden weiter. Sie wollen Antworten, sie wollen Gewissheit. Und es gilt als sicher, dass Wichmann zumindest bei einigen seiner Verbrechen einen Helfer hatte. Vieles deutet auf einen Mann hin, der dem Täter von frühester Jugend an sehr nahe gestanden hat. Doch der Verdächtige schweigt bisher eisern. Und die Indizien reichen bei Weitem nicht aus. „Da gibt es noch viel zu tun“, betont Püschel.
Corona stellte den Rechtsmediziner vor neue Herausforderungen
Auch für den Experten selber. Eigentlich hatte der Direktor des rechtsmedizinischen Instituts schon im Frühjahr im Hinblick auf seine jetzt anstehende Pensionierung beginnen wollen, in seinem übervollen Büro aufzuräumen. Dann kam Corona. „Das hat meine letzten Monate als Chef-Rechtsmediziner hier in Hamburg noch dynamisiert.“ Vieles andere hat Püschel aufgeschoben, um die Menschen, die im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind, zu obduzieren. „Hier ist noch einmal sehr deutlich geworden, dass wir von den Toten lernen und für das Leben.“ Er kennt die Wirkungen des Virus von innen wie kaum ein anderer, wegen seiner Erkenntnisse durch die Autopsie von 200 Toten. „Wir haben ganz viele Informationen zusammengetragen über die Eigenarten des Virus, über den Verlauf der Krankheit. Aus diesen Erkenntnissen können wir Aspekte für Therapie und Impfstoffe ableiten“, erläutert Püschel.
Und seine Einschätzung sei, dass „Corona nicht eine besonders dramatische Erkrankung ist. Panik ist nicht angebracht.“ Fast alle in Hamburg obduzierten Menschen hätten sehr massive Vorerkrankungen gehabt. „Die Lebensperspektive war deutlich eingeschränkt.“ Wegen dieser Erkenntnisse sei es vernünftig, besonders gefährdete Menschen wie Alte und Kranke zu schützen, mahnt Püschel. Das solle indes nicht heißen, sie von ihren Liebsten zu isolieren. „Das würde bedeuten, ihnen das Glück zu nehmen.“ Er selber würde sich auch nicht von seinen Enkeln trennen lassen, sagt der Mann, der sich „begeisterter Großvater“ nennt. Wenn er jetzt in Pension geht, möchte er mit Freunden und Familie mehr Zeit verbringen, vor allem mit den Enkeln.
Püschel will nun noch einmal sein Sportabzeichen ablegen
Dabei soll es auch um sportliche Aktivitäten gehen – ohnehin eine der großen Leidenschaften des Hamburgers, der mehrere Marathons absolviert und erfolgreich Tischtennis gespielt hat, der kommendes Jahr wieder mit dem Rennrad die 300-Kilometer-Strecke um den schwedischen Vätternsee fahren will und vorhat, zum 29. Mal sein Goldenes Sportabzeichen abzulegen. „Einen Enkelsohn begleite ich gerade zum Schwimmkurs, den anderen möchte ich gern bei seinen Fußballspielen anfeuern. Und die Mädchen sind begeisterte Reiterinnen und benötigen häufiger einen Chauffeur“, sagt der Hobby-Imker, der Sinn für einen guten Rotwein hat.
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Und wenn Püschel jetzt nach mehr als vier Jahrzehnten im Institut für Rechtsmedizin aufhört, heißt das noch lange nicht, Abschied von der Arbeit zu nehmen. Sein dynamisches Naturell und sein kreativer Kopf sind nicht gemacht für müßige Tage im Lehnstuhl. Vom 1. Oktober an ist er Seniorprofessor am UKE, will zu Themen wie Archäologie und Anthropologie arbeiten. Darüber hinaus haben den Experten Anfragen für Aktivitäten im Ausland erreicht, beispielsweise aus Uganda sowie aus Ruanda, wo er seit Langem unter anderem an der rechtsmedizinischen und humanitären Aufarbeitung des Genozids an den Tutsi aus dem Jahr 1994 beteiligt ist.
„Es gibt diverse Pläne für fachliche überregionale Initiativen“, erzählt Püschel. Zusammen mit Freunden aus Kriminalistik, Polizei, Justiz und Kriminalpsychologie will er Fälle interdisziplinär analysieren, vor allem „Cold Cases“, die lange zurückliegen und noch nicht aufgeklärt sind – wie eben viele mögliche Verbrechen des Göhrde-Mörders. Außerdem wird sich Püschel weiter als Autor betätigen. Ein Buch unter anderem über Corona ist in Arbeit, erstmals entsteht ein Thriller, und weitere Krimisachbücher sind geplant. Wie predigt Püschel es immer jungen Ärzten? „Wer schreibt, der bleibt.“ Man wird also noch einiges von ihm hören. Von dem Mann, der die Toten versteht. Der Tod gibt keine Ruhe – Fälle der Gerichtsmedizin