Hamburg. Bis Dezember fahren Züge weite Umleitungsstrecke. Arno Luik erhebt schwere Vorwürfe: Bahn habe Interesse, dass Infrastruktur kaputtgeht.

Auf Bahnreisende zwischen Berlin und Hamburg kommen harte Zeiten zu: Ab Freitagabend, 22 Uhr, wird die Bahntrasse zwischen den beiden größten deutschen Städten, und sie wird täglich von bis zu 30.000 Reisenden genutzt wird, komplett gesperrt. Auf einer Umleitungsstrecke verkehren bis zum 14. Dezember deutlich weniger Züge zwischen Hanse- und Hauptstadt und sie brauchen im Schnitt 45 Minuten länger, wie die Deutsche Bahn mitteilte.

Deutschlands bekanntester Bahnkritiker und Bestsellerautor Arno Luik nennt die viermonatige Sperrung der Strecke „totalen Irrsinn“ und den „größten anzunehmenden Unfug“. Wegen ihrer hohen Belastung ist die Bahnstrecke zwischen Hamburg und Berlin marode, die Infrastruktur überaltert; sie soll umfassend erneuert werden. Doch bei der jetzigen Sperrung handelt es sich noch nicht um die seit Längerem geplante Generalsanierung, die erst von August 2025 bis April 2026 ansteht. In den neun Monaten wird die Strecke abermals gesperrt, in dieser Zeit sollen Gleise, Weichen, Oberleitungen, Leit- und Sicherungstechnik erneuert werden. Die jetzigen Instandhaltungsarbeiten wurden kurzfristiger notwendig, „damit Züge auch weiterhin mit voller Geschwindigkeit fahren können und es weniger Störungen an der Infrastruktur gibt“, wie es in einer Präsentation der Deutschen Bahn heißt.

Bahnkritiker: Sperrung der Strecke von Hamburg nach Berlin „völliger Irrsinn“

Arno Luik, dessen Buch „Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Bahn“ wochenlang auf den Bestsellerlisten stand (Westend 2021, 12 Euro), sieht das ganze Konzept überaus kritisch: Eine Generalsanierung einer wichtigen Strecke bei gleichzeitiger monatelanger Vollsperrung mache kein Land, das etwas von Bahnsanierung verstehe, und auch in der fast 200-jährigen Geschichte der Eisenbahn in Deutschland sei dies nicht üblich gewesen. Man habe Strecken stets im laufenden Betrieb und von den Reisenden nahezu unbemerkt repariert, bis sich die Deutsche Bahn ab 1994 auf den Börsengang vorbereitet und ein jahrelanges Sparen begonnen habe, so der Autor. „Seitdem fährt die Bahn seit Jahren auf Verschleiß.“

Arno Luik ist Deutschlands bekanntester Bahnkritiker und Autor des Buches „Schaden in der Oberleitung“.
Arno Luik ist Deutschlands bekanntester Bahnkritiker und Autor des Buches „Schaden in der Oberleitung“. © "obs/Medienfachverlag Oberauer GmbH/Lukas Reinhardt" | "obs/Medienfachverlag Oberauer GmbH/Lukas Reinhardt"

Und das hat nach Luiks Ansicht System: Den laufenden Erhalt der Infrastruktur muss die Bahn nämlich aus eigenen Mitteln finanzieren. Sind die Schienen und Weichen aber völlig kaputt und müssen die Bahnanlagen dann von Grund auf saniert werden, springt der Bund ein – „und letztlich zahlen die Steuerzahler die Sanierung“, so Luik. Entsprechend habe die Bahn ein Interesse daran, die Infrastruktur nicht laufend zu erhalten, sondern einmal alles neu zu machen – auch das, was noch funktioniert.

Kritiker: Bahn verdient daran, wenn ihre eigene Infrastruktur kaputtgeht

Die Bahn übernehme für diese Arbeiten die Planungsaufsicht und bekomme dafür 18 bis 23 Prozent der Bausumme, so der Bahnkritiker. „Das Unternehmen hat also zwei Interessen: Dass die eigene Infrastruktur kaputtgeht und dass der Neubau viel kostet – das spült Geld in die klammen Kassen.“ Auch der Rechnungshof habe das schon oft kritisiert. „Die Bahn verdient an ihrem Zerfall“, meint Luik. „Die Generalsanierung ist somit auch ein Verbrennen von Steuergeld.“ Das Vorgehen zeige die Unfähigkeit und das Versagen des Bahnvorstands.

Luik kritisiert aktuell die komplette Stilllegung der Strecke Hamburg-Berlin als „wichtigste Verbindung zwischen den beiden größten Städten Deutschlands“: „Diese Generalsanierung ist ökonomischer und auch ökologischer Unsinn“, sagt er, „denn wenn alles erneuert wird, werden auch Dinge ersetzt, die eventuell noch Jahre funktionieren würden.“  Fatal sei auch dies: „Die Sperrung verärgert viele Reisenden so nachhaltig, dass sie nicht mehr Bahn fahren wollen.“ Das betreffe immerhin 30.000 Menschen täglich, die sonst auf dieser Strecke unterwegs sind. Viele von ihnen würden aufs Auto umsteigen, glaubt der Bahnkritiker.

Bahn will 40 Strecken generalsanieren und zu Hochleistungsnetz ausbauen

Die Deutsche Bahn ihrerseits hat sich vorgenommen, bis 2030 insgesamt 40 Streckenabschnitte in ganz Deutschland mit zusammen mehr als 4000 Kilometern samt Bahnhöfen instand zu setzen und zu einem Hochleistungsnetz auszubauen. Im Wege einer Generalsanierung sollen auf diesen Streckenabschnitten alle erforderlichen Baumaßnahmen innerhalb einer Sperrung gebündelt werden, so das Konzept. Auf diesen Streckenabschnitten wird der Fern- und Güterverkehr während der Bauzeit komplett über Umleitungsstrecken geführt. Dafür, so verspricht die Bahn, sollen die Strecken danach über Jahre hinweg baufrei bleiben und die Züge dort zuverlässiger fahren können als bisher. Nach dem Abschnitt Hamburg – Berlin 2025/26 ist die Trasse zwischen Hamburg und Bremen ab 2028 dran, die Strecke Hamburg – Hannover nach neustem Stand ab 2029.

Bei der jetzigen Sperrung der Bahnverbindung nach Berlin ab Freitagabend befürchtet Arno Luik, dass die Umleitungsstrecke heillos überlastet sein wird. „Die Züge werden sich gerade auf den einspurigen Streckenabschnitten stauen, Reisende müssen mit erheblichen Verspätungen rechnen, der Regionalverkehr wird dramatisch behindert, da die ICEs Vorfahrt haben“, sagt er. „Viele Reisende dürften so verärgert sein, dass sie nicht mehr Bahn fahren – das ist ein staatlich subventioniertes Zwangsumerziehungsprogramm zum Autofahren“, sagt Luik. Wer pünktlich zu einem Termin in Hamburg oder Berlin sein müsse, könne sich auf die Bahn nicht mehr verlassen, sondern müsse drei Züge früher nehmen, um sicher zu sein, auch wirklich pünktlich anzukommen.

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Die Bahn betont, dass es auch während der Sperrung bis zum 14. Dezember täglich rund 70 Verbindungen zwischen den beiden größten Städten des Landes gibt, davon 36 direkt – und im Stundentakt.