Hamburg. Eltern verlangen zusätzliches Jahr bis zum Abitur – und haben Online-Petition gestartet. Andere Bundesländer haben schon umgestellt.

Sie wollen eine Volksinitiative starten, um ihr Anliegen durchzusetzen: Fünf Hamburger Eltern fordern, dass alle Gymnasien der Hansestadt wieder in neun Jahren zum Abitur führen statt in acht – so wie es an den Stadtteilschulen geschieht. „G8 führt zu überfrachteten Stundenplänen, die unnötigen Druck für Kinder, Lehrer und Eltern bringen“, sagt Gunnar Matschernus, der zu den Vertrauenspersonen des Bündnisses „G9 Hamburg“ gehört.

Er verweist darauf, dass nach anhaltender Kritik und vielen Debatten über das achtjährige Gymnasium die Bundesländer Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein bereits wieder auf G9 umgestellt haben (in Schleswig-Holstein führt nur noch ein Gymnasium in acht Jahren zum Abitur). Matschernus sagt, sein Eindruck sei, dass viele G8-Absolventen wohl auch wegen des erlebten Zeitdrucks nach dem Abitur erst einmal eine Auszeit („gap year“) nehmen.

Schule Hamburg: Elterninitiative fordert Rückkehr zu G9 an Gymnasien

Die Elterngruppe sieht sich bestätigt unter anderem dadurch, dass eine von ihr online veröffentlichte Petition mehr als 7100 Unterstützende hat und viele Kommentare darunter in die gleiche Kerbe schlagen. Auch in etlichen Gespräche mit anderen Eltern, mit Lehrern und Schulleitern sei Kritik an der Verkürzung auf G8 geäußert worden, sagt Iris Wenderholm, die zweite Vertrauensperson des Bündnisses „G9 Hamburg“.

Durch G8 leide die Qualität des Unterrichts, glauben Wenderholm und Matschernus. Im Vordergrund stehe wegen des Zeitdrucks die Stoffvermittlung. Weniger Zeit als früher bleibe für das sogenannte kompetenzorientierte Lernen, für das Nachdenken und die Diskussion über viele Themen in Fächern von Deutsch bis Physik, für Persönlichkeitsentwicklung und soziale Reife. „Wir marschieren hier in eine völlig falsche Richtung“, sagt Gunnar Matschernus.

Die geplante Einführung von Informatik als Pflichtfach in Hamburg werde die Verdichtung der Stundenpläne an den Gymnasien noch verstärken. Im bundesweiten Vergleich gebe es einen „klaren Wettbewerbsnachteil“ für die Bildung von Hamburgs Gymnasiasten, sagt Iris Wenderholm, auch wenn sich dies nicht zwangsläufig auf die Abiturnoten niederschlage.

Stadtteilschulen führen in neun Jahren zum Abitur – an Gymnasien gilt G8

An Hamburgs Stadtteilschulen können Mädchen und Jungen neben dem ersten und mittleren Bildungsabschluss auch das Abitur erwerben – nach neun Jahren. Böten die Gymnasien der Hansestadt künftig ebenfalls wieder G9 an, blieben trotzdem beide Schulformen sehr wichtig und attraktiv, so die Elterninitiative um Matschernus und Wenderholm. „Man entscheidet sich für ein Konzept, nicht für ein Tempo“, sagt Iris Wenderholm.

An Stadtteilschulen sei die Schülerschaft eher heterogen; es gebe einen höheren Personalschlüssel und kleinere Gruppen, was es eher möglich mache, auf einzelne Schüler einzugehen. An Gymnasien sei die Schülerschaft mit Blick auf Leistungen eher homogen; forschendes Lernen spiele eine wichtigere Rolle.

Der sogenannte Schulfrieden in Hamburg gilt bis 2025

Der um ein Jahr schnellere Weg zum Abitur am Gymnasium (G8) war in Hamburg im Jahr 2003 eingeführt worden. Im Jahr 2019 ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Abendblatts, dass 76 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger wollen, dass Schüler auch am Gymnasium die Reifeprüfung wieder nach neun Jahren ablegen können.

Die Vertrauenspersonen der Elterninitiative „G9 Hamburg“: Gunnar Matschernus (l.), Iris Wenderholm (M.) und Sammar Rath.
Die Vertrauenspersonen der Elterninitiative „G9 Hamburg“: Gunnar Matschernus (l.), Iris Wenderholm (M.) und Sammar Rath. © Yannik Willing/Katharina Hasse/privat

Im September 2019 unterzeichneten SPD, Grüne, CDU und FDP allerdings eine Vereinbarung, wonach der sogenannte Schulfrieden bis 2025 verlängert wird. Dieser sieht vor, dass an der bestehenden Struktur aus Grundschule, Stadtteilschule und Gymnasium bis zur Mitte des Jahrzehnts nichts verändert wird.

Schulsenator Ties Rabe: Mit G9 käme es zu einer „jahrelangen Reformbaustelle“

Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) lehnt den Vorstoß der neuen Elterninitiative ab. „G9 wirbt mit falschen Versprechen: In G9-Ländern klagen Schüler ebenfalls über die Schule, das Abitur ist nicht leichter“, erklärt Rabe auf Abendblatt-Anfrage. „In Hamburg machen mit G8 sogar deutlich mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur als unter G9. Bei der Leistung gibt es nachweislich keine Unterschiede.“

Der Zeitunterschied sei minimal: „In G9-Ländern gibt es tatsächlich nur 19 Minuten weniger Unterricht am Tag, und das auch nur an den 185 Unterrichtstagen des Jahres, an den anderen 180 Tagen ändert sich für die Schülerinnen und Schüler nichts. In der Oberstufe sind G8 und G9 ebenfalls identisch“, sagt Rabe. „Wegen 19 Minuten weniger Bildung in der Mittelstufe müssten wir das gesamte Schulsystem in eine jahrelange Reformbaustelle stürzen, neue Bildungspläne erstellen, alle Schulabläufe neu organisieren und das derzeit auf Hochtouren laufende Schulbauprogramm stoppen und weitestgehend neu ausrichten.“

Schulbehörde: Durch G9 stiege Zahl der Schüler an Gymnasien um 6000

Denn alle Gymnasien müssten für mindestens 300 Millionen Euro ausgebaut werden, um die zusätzlichen Gymnasiasten von Klasse 13 aufzunehmen. Das gehe zulasten der 204 Grundschulen und 59 Stadtteilschulen, sagt Rabe. „Die Zeche für diese Reformhektik zahlen die Schülerinnen und Schüler, die diese dann viele Jahre ertragen müssen. Sie lernen mit Sicherheit nicht entspannter.“

Bei einem Abitur nach neun Jahren an den Gymnasien stiege die Zahl der Schülerinnen und Schüler um schätzungsweise 6000, heißt es aus der Schulbehörde. An bestehenden Gymnasien könnten dann aus Platzgründen weniger fünfte Klassen als bisher angeboten werden, was die Chancen für Mädchen und Jungen verringere, an ihrem Wunschgymnasium aufgenommen zu werden.

Linken-Fraktionschefin fordert „weniger Druck und mehr Zeit für Entwicklung“

Dennis Thering, Vorsitzender der CDU-Fraktion, verweist auf Abendblatt-Anfrage darauf, dass der Schulfrieden in Hamburg bis 2025 gilt. „Als CDU Hamburg werden wir zu gegebener Zeit einen Vorschlag machen, wie es danach weitergehen soll“, sagt er.

Anders hält es Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus. „Ich begrüße ausdrücklich, dass mit dieser Volksinitiative der dumme sogenannte Schulstrukturfrieden infrage gestellt wird und wir über das reden müssen, was unsere jungen Menschen dringend brauchen, nämlich weniger Druck und mehr Zeit für ihre Entwicklung“, so Boeddinghaus. „Mit meiner Zustimmung verknüpfe ich aber Bedingungen an die Gymnasien, nämlich deren verstärkte Verantwortungsübernahme für Inklusion und Integration, verbunden mit dem Ende des Abschulens nach Klasse 6.“

Schule Hamburg: Bündnis muss 10.000 Unterschriften sammeln für Volksinitiative

Nach Ansicht der FDP-Abgeordneten Anna von Treuenfels-Frowein ist es „derzeit das Wichtigste, dass der Schulsenator wie versprochen die im Schulstrukturfrieden vereinbarten Verbesserungen umsetzt: mehr und anspruchsvollere Kerninhalte im Unterricht, weniger Fokussierung auf Kompetenzen“. Sobald dies umgesetzt worden sei, könne „darüber diskutiert werden, ob diejenigen Gymnasien, die wieder zum Abitur nach neun Jahren zurückkehren wollen, dies unter bestimmten Bedingungen tun können“, sagt Treuenfels-Frowein. „Es hat sich als gut erwiesen, eines nach dem andern anzugehen und nicht alles gleichzeitig.“

Iris Wenderholm, Gunnar Matschernus und ihre Mitstreiterinnen wollen in der kommenden Woche ihr Vorhaben für eine Volksinitiative beim Hamburger Senat anmelden. Eine Volksinitiative gilt als zustande gekommen, wenn die Gruppe es schafft, innerhalb von sechs Monaten mindestens 10.000 Unterschriften zu sammeln. Dann müsste sich die Bürgerschaft mit dem Anliegen befassen. In einen zweiten Schritt bräuchte die Elterninitiative knapp 66.000 Unterschriften von Wahlberechtigten für ein Volksbegehren.