Hamburg. Solche Unfälle sind fast immer tödlich – wie bei der jungen Mutter, die in der HafenCity starb. Strafen fallen dennoch oft niedrig aus.
- Abbiegeunfälle: Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit reicht, um eine Tragödie heraufzubeschwören
- In Prozessen geht es darum, ob der Lkw-Fahrer allen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist – oder, ob er zu schnell war
- Toter Winkel: Hohe Sitzposition des Lkw-Fahrers kann ein Problem sein.
Es ist ein Thema, das immer wieder aktuell ist – leider, muss man sagen. Es geht um sogenannte Abbiegeunfälle. Konkret ist damit gemeint, dass Kraftfahrzeuge, in der Regel Lkw, beim Rechtsabbiegen einen Fahrradfahrer oder Fußgänger erfassen. Dieser gerät dann häufig unter das Fahrzeug – mit schlimmsten Folgen. So wie auch bei dem tödlichen Unfall in der HafenCity, bei dem eine junge Mutter von einem Sattelschlepper erfasst und überrollt wurde. Vergangene Woche wurde der Fahrer des Lkw im Prozess in Hamburg wegen fahrlässiger Tötung schuldig gesprochen und erhielt eine „Geldstrafe auf Bewährung“ in Höhe von 4200 Euro.
Solche Unfälle passieren immer wieder. „In der Regel leider mit tödlichen Folgen“, sagt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Crime-Podcast des Abendblatts „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Kaum jemals überlebt der Radfahrer so einen Unfall. Dazu ist das Kräfteverhältnis einfach zu ungünstig. 60 bis 100 Kilo auf der einen Seite – gegen bis zu 30 Tonnen. Es ist traurig, dass nicht bessere Vorkehrungen getroffen werden, um solche Unglücke möglichst zu vermeiden.“
Abbiegeunfälle in Hamburg: Damit wird unendlich viel Leid verursacht
„Allerdings“, bestätigt Mittelacher. „Die Erfahrung zeigt leider, dass es jedes Jahr allein in Hamburg mehrere solcher Unfälle gibt. Damit wird unendlich viel Leid verursacht. Weil ein Mensch stirbt – ein großer Verlust und Schmerz für die Angehörigen. Aber nicht zuletzt ist so ein Unfall auch ein traumatisches Erlebnis für den jeweiligen Lkw-Fahrer.“
Allein in der letzten Zeit kam es in Hamburg zu einer Vielzahl solcher Abbiegeunfälle. So ist beispielsweise im Juli 2022 eine 19-Jährige in Hamburg-Poppenbüttel ums Leben gekommen. Es handelte sich um eine Radfahrerin, die an einer roten Ampel wartete. Neben ihr stand ein mehr als 30 Tonnen schwerer Lkw. Als die Ampel auf Grün sprang, fuhren beide los. Die Radfahrerin wollte geradeaus, der Lkw-Fahrer rechts abbiegen. Dabei hat der Fahrer die Vorfahrt der Radfahrerin missachtet und die junge Frau überrollt.
Abbiegeunfälle: Die Lkw-Fahrer kommen wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht
„Es ist ja nur ein winziger Augenblick, in dem sich entscheidet, wie das Leben eines Menschen weitergeht“, überlegt Mittelacher. „Oder ob er stirbt. In manchen Augenblicken reicht eine Unaufmerksamkeit, um eine Tragödie heraufzubeschwören – so wie an jener Ampel im Hamburger Nordosten. Wie in diesem konkreten Fall ist die Folge eines solchen Unfalls häufig, dass der jeweilige Lkw-Fahrer vor Gericht kommt. Die Anklage lautet dann auf fahrlässige Tötung.“
„Es geht in solchen Prozessen ja üblicherweise um die Frage, ob der Autofahrer allen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist – beziehungsweise, ob der Unfall hätte vermieden werden können, wenn er diesen Pflichten nachgekommen wäre“, erläutert Püschel. „Und es ist natürlich zuvorderst die Pflicht des Kraftfahrers, sorgfältig den Verkehr zu beobachten und in alle Spiegel zu schauen, um das Geschehen um den Lkw herum im Auge zu haben.“
Lkw-Fahrer sollen sich in den Abbiegevorgang „hineintasten“
„Ein wichtiger Punkt ist auch, mit welchem Tempo ein Lkw in solchen Momenten unterwegs ist“, ergänzt Mittelacher. „Zügiges Abbiegen ist ganz verkehrt. Vielmehr soll der Fahrer sich vorsichtig in den Abbiegevorgang ,hineintasten‘, möglichst in Schrittgeschwindigkeit. Genau das war hier die Frage, ob der Lkw-Fahrer das geleistet hat – oder ob er zu schnell war und den umgebenden Verkehr womöglich nicht genau genug im Blick gehabt hat.“
Dieser Fall steht exemplarisch für mehrere weitere. Natürlich wird im Straßenverkehr stets volle Aufmerksamkeit und ein umsichtiges Fahren gefordert. Andererseits ist dies in einem Lkw oft schwierig – durch die erhöhte Sitzposition des Fahrers. „Ein Radfahrer, der neben dem Wagen steht, ist in manchen Momenten schlicht im toten Winkel beziehungsweise unterhalb der Region, die einzusehen ist“, fasst Püschel zusammen.
In den meisten Fällen erleiden die Opfer tödliche Verletzungen
„So in etwa lautete auch die Verteidigungsstrategie des Angeklagten in diesem Fall“, erinnert sich Mittelacher. „Der Berufskraftfahrer sei sehr aufmerksam gewesen, habe sich unter anderem vergewissert, dass kein Radfahrer nahe.“ Trotzdem habe er leider mit seinem Lkw die Frau erfasst.
„Bei einem Radfahrer oder Fußgänger gibt es eine große Bandbreite von Verletzungen“, erklärt Püschel. „Je nachdem, ob die Opfer durch den Lkw touchiert und umgestoßen wurden und dann womöglich neben dem Fahrzeug zu liegen kommen. Solche Folgen sind allein schon wegen des massiven Aufpralls, den die Opfer erleiden, erheblich.“ Es komme häufig zu Frakturen, möglicherweise Organverletzungen, die auch tödlich sein können.
Gutachter erläutern, ob ein Unfall vermeidbar gewesen wäre
„Tödlich enden in aller Regel vor allem die Unfälle“, so Püschel, „bei denen die Opfer nach dem Aufprall unter die Reifen geraten sind und dann womöglich noch mitgeschleift wurden. Da wird der Körper dann massiv gequetscht, Knochen und Organe extrem gestaucht.“
Im Prozess gegen den 54 Jahre alten Lkw-Fahrer erläuterte ein Sachverständiger, dass es zwar wegen der hohen Sitzposition des Fahrers im Lkw in einem bestimmten Moment einen toten Winkel gebe. Allerdings sei der Kieslaster mit einem speziellen Spiegel ausgerüstet gewesen, über den der gesamte Frontbereich zu überblicken sei. Hätte der Fahrer beim Abbiegen seine Geschwindigkeit weiter reduziert oder sogar für einen Augenblick angehalten, hätte er die Radfahrerin gesehen. Der Unfall, so sagte es der Experte, wäre vermeidbar gewesen.
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Der Angeklagte wurde schließlich zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu 75 Euro, also insgesamt 9000 Euro verurteilt. Hier sei das Leben einer jungen Frau zerstört worden, sagte der Richter. Die Priorität für den Lkw-Fahrer müsse sein, darauf zu achten, dass niemand gefährdet werde. Allerdings handele es sich um eine ganz kurze Unaufmerksamkeit in einer Situation, in der der Fahrer sehr viel zu beachten habe. „Es ist der Bruchteil einer Sekunde, der über ein Schicksal entscheidet. Das ist das Tragische an der Geschichte.“
Abbiegeassistenten warnen den Lkw-Fahrer mittels Signallampen oder Tönen
Auch vergleichbare Unfälle endeten häufig vor Gericht mit einer Verurteilung der angeklagten Lkw-Fahrer zu einer Geldstrafe. „Es wäre doch sinnvoll“, meint Mittelacher, „alles Erdenkliche zu tun, um solche tragischen Abbiegeunfälle zu vermeiden!“ „Auf jeden Fall“, stimmt Püschel zu. „Und ein ganz wichtiger Baustein dabei wären die Abbiegeassistenten.“
Solche Systeme warnen mittels Signallampen und Tönen, sobald Fahrräder oder Passanten neben dem Lkw stehen – und damit häufig im toten Winkel sind. Aber mit diesem Abbiegeassisten würden sie trotzdem wahrgenommen. Wenn der Fahrer auf das akustische oder optische Signal nicht reagiert, kann der Assistent mitunter selbstständig eine Bremsung einleiten. Solche Systeme sind zwar laut einer EU-Verordnung seit Juli 2022 für neue Fahrzeugtypen Pflicht, also für neue Baureihen beziehungsweise Fahrzeugmodelle. Eine Nachrüstungspflicht für ältere Modelle besteht aber noch nicht.