Hamburg. Touristen retteten das Leben des Opfers und bekamen einen Zivilcourage-Preis. Wie heftig die Attacke war, zeigte erst ein Video.
Er trat zu, immer wieder. Der Mann, dem der Gewaltausbruch galt, lag auf dem Boden und wehrte sich nicht. Er versuchte nur, sich irgendwie zu schützen. Weiter und weiter gingen die Misshandlungen gegen einen Obdachlosen auf der Reeperbahn – bis schließlich junge Leute einschritten und den tobenden Angreifer von seinem Opfer wegzerrten. Die Helfer haben dem 31-Jährigen womöglich das Leben gerettet.
Gegen den Mann, der für das Verbrechen aus der Nacht zum 28. Februar vergangenen Jahres verantwortlich ist, ist am Donnerstag in einem Prozess vor dem Landgericht eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verhängt worden. Benjamin G. (Name geändert) habe einen versuchten Totschlag begangen und sich zudem der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht. Es sei ein „großes Glück“, dass das Opfer, das Benjamin G. mit etlichen Tritten traktiert hatte, „überlebt hat“, betont der Vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung. Zahlreiche der jedenfalls 40 Tritte gegen den 31-Jährigen seien mit „voller Kraft und Wucht“ ausgeführt worden. Dabei habe der 24-jährige Täter „erkannt, dass diese sinnlose Gewalt tödlich enden kann“.
Prozess Hamburg: Obdachloser wurde vom Angeklagten mindestens 40-mal heftig getreten
Als das Gericht das Strafmaß verkündet, schreien zwei Frauen im Zuschauerbereich des Gerichtssaals entsetzt auf und fallen sich weinend in die Arme. Es sind die Mutter und die Schwester des Angeklagten. Benjamin G. selber sitzt reglos da, und es sieht aus, als brauche der schmale junge Mann seine ganze Selbstbeherrschung, damit bei ihm nicht ebenfalls Tränen fließen. Der 24-Jährige aus Leipzig hatte die Tat vor Gericht eingeräumt und sich sogar bei den Zeugen bedankt, dass sie damals eingeschritten sind. Die Staatsanwaltschaft hatte sechseinhalb Jahre Freiheitsstrafe für Benjamin G. gefordert, die Verteidigung eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren beantragt.
Die beiden Männer, die in einem Hoteleingang auf der Reeperbahn übernachten wollten, wurden nicht das Ziel von Benjamin G.‘s Gewaltausbruch, weil sie wohnungslos waren. „Eine feindliche Gesinnung gegen Obdachlose“ sei nicht das Motiv für das Verbrechen gewesen, macht der Richter in der Urteilsbegründung deutlich. Vielmehr habe Benjamin G. den Schweden verdächtigt, die Geldbörse einer Freundin von ihm gestohlen zu haben. Dieser Verdacht habe sich später als falsch herausgestellt. Der Angeklagte hatte zur Tatzeit rund 1,7 Promille.
Richter: Täter sei „nicht mehr Herr seiner Sinne“ gewesen
Eine Überwachungskamera hatte das Geschehen aufgezeichnet, der Film war im Prozess abgespielt worden. Der Vorsitzende sprach von „gezielten Tritten“ gegen beide Opfer. „Wenn man das sieht, zuckt man bei jedem Tritt zusammen. Man sieht einen Menschen, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist.“
Der misshandelte 31-jährige Schwede erlitt einen multiplen Nasenbeinbruch und eine Schädelprellung. Sein Bekannter, ein ebenfalls Wohnungsloser aus Polen, bekam zwei Tritte ins Gesicht ab. Die Misshandlungen endeten erst, als vier Touristen aus München durch Schreie auf das tumultartige Geschehen aufmerksam wurden. Sie hielten den Angreifer fest, warteten, bis die Polizei da war. Und sie besorgten dem schwer verletzten Opfer auf ihre Kosten ein Zimmer in einer Unterkunft. Wie die jungen Leute agiert hatten, „verdient Achtung und Respekt“, betont der Richter. „Wer weiß, was passiert wäre, wenn die mutigen Zeugen nicht eingegriffen hätten.“
Touristen als Zeugen: obdachloses Opfer war verängstigt und hat um sein Leben gefürchtet
Die Opfer selber hatten im Prozess nicht mehr als Zeuge gehört werden können. Der schwer verletzte Schwede hatte sich, nachdem er zunächst mit Unterstützung seiner Retter eine Nacht in einem Hotel verbracht hatte, zwar in einem Krankenhaus ärztlich behandeln lassen, war dann aber verschwunden und ist untergetaucht, ebenso wie sein Kumpel. „Wir wissen nicht, wie es ihnen geht und wie sie den Angriff verkraftet haben“, erläutert der Vorsitzende Richter. Die Zeugen aus München hatten jedoch im Prozess erzählt, wie sie die Gewaltopfer erlebt hatten. Demnach war insbesondere der 31-Jährige verängstigt, hat viel geweint und um sein Leben gefürchtet.
Kürzlich war das mutige Quartett bereits mit dem Ian-Karan-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet worden. „Großartig“, hatte Polizeipräsident Falk Schnabel das Handeln der Münchner genannt. „Sie haben eingegriffen und konnten dazu beitragen, dass dieser Angreifer von seinen Opfern abließ“, hatte Schnabel weiter gelobt. Weil mittlerweile der Vorwurf im Raum stehe, dass es sich um ein versuchtes Tötungsdelikt handelt, „ist es nicht untertrieben zu sagen, dass Sie diesem Menschen das Leben gerettet haben. Damit nicht genug. Sie haben selbstlos und zutiefst menschlich diesen Menschen mit in ihr Hotel genommen. Ich glaube, es gibt kaum ein Beispiel, was besser darlegt, was Zivilcourage bewirken kann. Das war ganz hervorragend.“
Hamburger Polizeipräsident: Zeugen haben dem Opfer das Leben gerettet
Sie sei damals „einfach reingerannt“, hatte die Frau erzählt, die als Erstes aus der Münchner Gruppe auf die Gewalttat aufmerksam geworden war. „Ich habe da gar nicht weiter nachgedacht“, erzählte sie. „Ich wollte das nur unterbinden und hab den Täter angeschrien, dass er aufhören soll.“ Schließlich packten ihre Begleiter zu. Sie griffen sich den Schläger und hielten ihn fest, bis die Polizei da war.
Die Ermittler hatten unterdessen das Geschehen kurz nach der Tat zunächst noch als „ortsübliche Schlägerei“ eingestuft. Erst als die Aufzeichnungen der Gewalttat ausgewertet worden waren, war das Ausmaß der Misshandlungen klar geworden. Mindestens 40 Tritte hat demnach allein der 31-jährige Obdachlose abbekommen. Der Verdächtige Benjamin G. war daraufhin zunächst in Untersuchungshaft gekommen, von deren Vollzug der 24-Jährige wenige Wochen später unter strengen Auflagen verschont wurde. I
Richter spricht von einem „rohen Angriff auf einen schutzlosen Menschen“
Im Gericht hatte Benjamin G. nicht nur seine Schuld eingeräumt, sondern auch Reue gezeigt. Er könne sich nicht erklären, was mit ihm damals los gewesen sei, hatte der Angeklagte gesagt. Ein Gutachter hatte ihm unter anderem wegen seiner Alkoholisierung eine verminderte Schuldfähigkeit attestiert.
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Davon geht auch das Gericht in seinem Urteil aus. Allerdings komme eine Bewährungsstrafe, wie sie die Verteidigung beantragt hatte, nicht in Betracht, betont der Richter. Es handele sich bei dem Gewaltausbruch von Benjamin G. um eine Tat „aus dem Nichts heraus“, bei der ein „wehrloser Mensch vielfach gegen den Kopf“ getreten worden sei. Die Tat dürfe nicht bagatellisiert werden und habe einen „hohen Unrechtsgehalt. Es war ein roher Angriff auf einen schutzlosen Menschen.“