Hamburg. Die Öffentlichkeit hält Strafen für Angeklagte nach Vergewaltigungen überwiegend für zu niedrig. Was Fachleute und Opferberater sagen.

Es war eine Tat, die für Entsetzen und Empörung gesorgt hat: Eine 15-Jährige wird im Hamburger Stadtparkvergewaltigt. Nach dem Urteil des Landgerichts gegen zehn junge Männer wegen des Verbrechens vom 19. September 2020, in dem jetzt neun der Angeklagten zu Jugendstrafen verurteilt wurden, schlagen nun erneut die Wellen hoch. In Teilen der Öffentlichkeit, vor allem in den sozialen Medien, wird das Urteil als zu niedrig eingeschätzt. Teils gibt es sogar Hetze und Gewaltandrohungen gegen die Richterin. Juristen betonen indes, dass die Strafen, die nach den im Jugendrecht geltenden Maßstäben gefällt wurde, nicht milde seien.

„Im Jugendstrafrecht geht es darum, künftige Straftaten durch Erziehung zu verhindern, während Vergeltung und Abschreckung nach dem Gesetz keine Rolle spielen dürfen“, erklärt Gerichtssprecher Kai Wantzen. „Wenn man diesen Ausgangspunkt ernst nimmt, kann man hier nicht von geringen Strafen sprechen. Der Erziehungsgedanke ist gesetzlich verankert. Wenn es auf andere Maßstäbe ankommen sollte, bedürfte es einer grundlegenden gesetzlichen Änderung im Jugendstrafrecht.“

Vergewaltigung im Hamburger Stadtpark: Warum im Prozess das Jugendrecht angewendet wurde

Auch Annette Voges, Vizepräsidentin der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer und Fachanwältin für Strafrecht, weist auf die Besonderheiten des Jugendrechts hin. „Bei einer Einschätzung des Urteils im Zusammenhang mit den Vergewaltigungen im Stadtpark ist es vor allem wichtig zu bedenken, dass Aufgabe des Jugendstrafrechts die (Nach-)Erziehung des Jugendlichen ist“, betont Voges. „Die jugendstrafrechtlichen Sanktionen, die der Gesetzgeber geschaffen hat, sollen es ermöglichen, die individuell zielführende Maßnahme zu finden, um auf den jeweiligen Entwicklungsstand des jugendlichen Täters zu reagieren. Gerade bei Straftaten Jugendlicher spielen gruppendynamische Prozesse eine Rolle, die zur Eskalation dann beitragen können. Das war ersichtlich auch hier so.“

Das Landgericht hatte, nachdem es im September 2020 zu sexuellen Übergriffen auf eine alkoholisierte und widerstandsunfähige 15-Jährige im Hamburger Stadtpark gekommen war, am Dienstag neun Beschuldigte zu Jugendstrafen zwischen einem Jahr sowie zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Vier Strafen wurden unter Auflagen und flankiert von Weisungen zur Bewährung ausgesetzt. Bei vier weiteren Strafen wird demnach erst nach einem halben Jahr über eine Vollstreckung der Haftstrafe entschieden, bis dahin wird im Rahmen einer sogenannten Vorbewährung noch die weitere Entwicklung der Beschuldigten abgewartet. Ein zehnter Angeklagter wurde freigesprochen.

Opfer wurde über eine Stunde lang von mehreren Männern sexuell missbraucht

Die Kammer des Landgerichts sah es als erwiesen an, dass die zur Tatzeit 16 bis 20 Jahre alten Angeklagten ihr Opfer über mehr als eine Stunde hinweg missbraucht hatten. Demnach führten die jungen Männer – teilweise zu zweit oder zu viert – die mit 1,6 Promille erheblich betrunkene Jugendliche wiederholt in ein Gebüsch, wo es zu sexuellen Übergriffen kam.

Nach Angaben des Landgerichts handelte es sich um eine Vergewaltigung teils unter Ausnutzung einer hilflosen Lage, wobei Drohungen oder Gewaltanwendung nicht feststellbar waren. Die Zeugin hatte im Prozess berichtet, von einem „Gefühl der Ohnmacht“ übermannt gewesen zu sein. Im Urteil hieß es, die 15-Jährige habe insbesondere die ersten Übergriffe „aus Angst und Verstörung über sich ergehen lassen“.

„Die Angeklagten haben gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin gehandelt“

Die Angeklagten haben jedoch nach Überzeugung des Gerichts erkannt, dass das, was sie der Jugendlichen antaten, „nicht dem wirklichen Willen der jungen Frau entsprach“, betonte die Vorsitzende Richterin. „Sie haben gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin“ gehandelt. „Nein heißt nein. Und ja heißt nur dann ja, wenn es keinen Zweifel an der Zustimmung des anderen gibt“, hatte die Richterin in ihrer Urteilsbegründung erklärt. Sie kritisierte zugleich das Verhalten der jungen Männer im Prozess: „Keiner der Angeklagten hat ein Wort des Bedauerns über die Lippen gebracht.“

„In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit werden die ausgeurteilten Strafen in der Regel als zu niedrig angesehen“, stellt Rechtsanwältin Voges fest. „Im Bereich des Jugendstrafrechts kommt hinzu, dass der breiten Öffentlichkeit in der Regel nicht bekannt ist, dass das Jugendstrafrecht die Aufgabe hat, erzieherisch auf die jugendlichen Straftäter einzuwirken.“ Notwendig sei darüber hinaus die Investition in Sozialarbeit, um Fehlentwicklungen gegebenenfalls frühzeitig korrigieren zu können „und so zu vermeiden, dass es zu Straftaten kommt“, betont die Fachanwältin für Strafrecht.

Rechtsanwältin bescheinigt Gericht „große Professionalität und Augenmaß“

„Ersichtlich hat die Kammer sich während der lange andauernden Hauptverhandlung davon überzeugen können, dass die meisten Angeklagten seit dem Tatgeschehen eine positive Entwicklung genommen haben. Die Jugendkammer hat mit großer Professionalität und Augenmaß entschieden, ohne sich dabei von der Stimmung in der Öffentlichkeit auch nur ansatzweise beeinflussen zu lassen. Insofern bin ich froh, dass die unabhängige Justiz im Rechtsstaat Gewähr dafür bietet, dass Stimmungen in der Öffentlichkeit bei der Entscheidung über die erzieherisch notwendige Maßnahme unberücksichtigt bleiben.“

Auch Joachim Bülter, langjähriger Vorsitzender einer Strafkammer und mittlerweile pensioniert, betont: „Natürlich muss man berücksichtigen, dass es sich bei den Angeklagten um sehr junge Männer handelt, die zum Tatzeitpunkt Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende waren – und für die dementsprechend das Jugendrecht Anwendung finden muss“, sagt Bülter auf Abendblatt-Anfrage.

Und im Jugendrecht stehe der Erziehungsgedanke im Vordergrund. „Ich habe die Urteilsbegründung nicht selber gehört und kann mich nur an dem orientieren, was ich in der Zeitung über den Prozess gelesen habe“, meint Bülter. „Aber mir scheint, dass sich die zuständige Kammer mit den einzelnen Tatbeiträgen, der individuellen Schuld und der jeweiligen Entwicklung der Angeklagten sehr intensiv auseinandergesetzt hat.“

Strafen kommen Forderung der Staatsanwaltschaft sehr nahe

Zu berücksichtigen sei zudem, „dass die jeweiligen Strafen, die das Gericht verhängt hat, auch dem nahekommen, was die Staatsanwaltschaft beantragt hat. Insofern scheinen die jeweiligen Urteile juristisch vertretbar zu sein“, meint der Jurist. „Es war ein sehr schwieriger Prozess mit einer schwierigen Beweislage. Und das Gericht hat sich sehr viel Zeit genommen, um sowohl dem Opfer als auch den Angeklagten gerecht zu werden.“

Nach den Feststellungen der Kammer – so wie sie sich aus der medialen Berichterstattung ergeben – habe ja nicht sicher festgestellt werden können, dass bei der Tat körperliche Gewalt oder Drohung mit körperlicher Gewalt angewendet wurde. Die Vergewaltigung beruhe demnach auf der Ausnutzung einer erkennbar schutzlosen Lage des Opfers.

„Dass es überhaupt eine Verurteilung gab, ist keineswegs selbstverständlich“

„Bedauerlich ist, dass offenbar nicht einer der Angeklagten sein Bedauern über das Geschehen geäußert hat“, so Bülter. „Zwar ist es nicht verwunderlich, wenn es die Strategie der Verteidigung ist, einen Freispruch zu erzielen. Aber meiner Überzeugung nach wäre es möglich, sein Bedauern über das Leid, das das jugendliche Opfer erfahren hat, auszudrücken, ohne dass es sich nach einem Geständnis anhört.“

Unterdessen betont Leonie Brand von „Allerleirauh“, einer Hamburger Beratungsstelle bei sexueller Gewalt, dass „wir uns nicht anmaßen, die genaue Höhe des Strafmaßes juristisch zu beurteilen. Wir wissen aber: Dass es überhaupt eine Verurteilung gab, ist keineswegs selbstverständlich. Die Mehrheit der Fälle sexueller Gewalt kommt gar nicht erst zur Anklage.“

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„Ob es in diesem Fall ohne die Reform des Sexualstrafrechts eine Verurteilung gegeben hätte, ist fraglich“, erklärt Brand. „Erst seit der Sexualstrafrechtsreform 2016 ist der Wille der Betroffenen für den Straftatbestand maßgeblich. Erschreckend ist auch, dass diese Reform erst als Reaktion auf eine rassistisch geprägte Debatte um die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln vorangebracht wurde. Die Öffentlichkeit in Deutschland wird bei sexueller Gewalt oft erst dann wirklich laut, wenn die Täter migrantisch gelesen werden.“

Was eine Beratungsstelle für Betroffene kritisiert und fordert

Das Sexualstrafrecht spiegele auch eine gesellschaftliche Haltung wider, findet Brand. „Es gibt noch keinen Konsens darüber, dass sexuelle Handlungen nur einvernehmlich stattfinden dürfen – und dass es nicht die Schuld der Betroffenen ist, wenn jemand ihre Grenzen überschreitet. Einen entsprechenden Gesetzesvorschlag auf EU-Ebene blockiert Justizminister Marco Buschmann (FDP) derzeit mit der Begründung, Vergewaltigung sei keine besonders schwere Straftat und die EU daher nicht zuständig.“

Das Justizsystem in Deutschland sei „nicht darauf ausgelegt, Betroffene von sexueller Gewalt zu schützen“, sagt Sozialpädagogin Brand. „Solange Strafverfahren für Betroffene eine potenziell traumatisierende Erfahrung bleiben, hilft ein hohes Strafmaß am Ende einer der wenigen Verurteilungen nicht weiter. Die Bekämpfung sexueller Gewalt darf nicht nur juristisch gedacht werden. Hamburg trägt dafür eine Verantwortung, der die Stadt aus unserer Sicht noch nicht gerecht wird. Es braucht eine Strategie, um diese Pandemie – und das ist sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt – zu bekämpfen. Wir fordern daher schon lange einen Landesaktionsplan und eine unabhängige Senatsbeauftragte für die Bekämpfung sexueller Gewalt.“

„Wir wünschen vor allem der Betroffenen viel Kraft“, betont Brand. „Es ist eine unmenschliche Aufgabe, so eine Erfahrung zu überleben. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Betroffene mehr sind als Opfer. Hoffentlich lehrt dieser Fall Hamburg, sich zukünftig noch stärker gegen sexuelle Gewalt einzusetzen.“