Hamburg. Senat nennt Personalsituation „angespannt“, CDU spricht von „unterirdisch“. Es wird sogar sonnabends gearbeitet – und 100 Studenten helfen.
Die acht Amtsgerichte sind seit Jahren ein Sorgenfall der Hamburger Justiz. Vor allem der Personalmangel in den Geschäftsstellen hat zu einer chronischen Überlastung der Gerichte geführt. Obwohl die Justizbehörde mit einer Reihe von Maßnahmen versucht, zusätzliches Personal zu gewinnen, müssen neu eingehende Verfahren weiterhin nach Priorität abgearbeitet werden. Vorrang haben im Zivilsegment des Amtsgerichts eilige Anträge auf einstweilige Anordnungen, Einstellungen der Zwangsvollstreckung sowie Räumungsschutzanträge.
Vier Kennziffern sind maßgeblich für die Beurteilung der Belastungssituation, bei zweien zeigt die Kurve eindeutig nach oben: Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Zivilsachen, die den größten Bereich der Amtsgerichte ausmachen, ist im ersten Quartal 2024 auf den Rekordwert von 7,2 Monaten geklettert. Zum Vergleich: Vor vier Jahren dauerte ein Verfahren in diesem Segment im Schnitt 5,6 Monate, 2023 waren es bereits 6,2 Monate. Das hat der Senat in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Richard Seelmaecker mitgeteilt.
Prozesse Hamburg: Auch die Zahl der unerledigten Verfahren ist erneut gestiegen
Auch die Zahl der unerledigten Verfahren ist danach weiter angestiegen: Ende des ersten Quartals 2024 betrug der Bestand an Zivilsachen 19.552 Verfahren. Ausweislich früherer Senatsantworten belief sich die Zahl Ende 2020 noch auf 17.076 unerledigte Verfahren und sank dann vorübergehend auf 13.216 Verfahren Ende 2021 ab, ehe sie erneut auf 19.117 Fälle (Ende 2023) anstieg. Dabei ist bei der dritten Kennziffer, der Zahl neu eingehender Verfahren, durchaus eine gewisse Entlastung zu beobachten. Wurden 2020 noch 32.928 Neuzugänge im Zivilsegment registriert, sank deren Zahl über 27.182 (2021) auf 25.661 Fälle (2022), während mit 28.866 Verfahren für 2023 erneut ein Anstieg verzeichnet wurde.
Schließlich liefert auch die gesunkene Zahl erledigter Verfahren einen Hinweis auf die prekäre Personalsituation bei den Amtsgerichten. Vor vier Jahren konnten 32.007 Verfahren erledigt werden; 2021 waren es 30.509 Fälle. Im Folgejahr sank die Zahl auf 24.735 Verfahren und erreichte im vergangenen Jahr mit 23.885 Fällen einen Tiefststand. Immerhin: Im ersten Quartal 2024 wurden 7184 Erledigungen registriert, was einen leichten Anstieg gegenüber den Quartalszahlen des Jahres 2023 bedeutet, die zwischen 6974 und 5408 Fällen liegen.
Hamburger Justiz: Zahl schriftlicher Beschwerden wegen zu langer Verfahrensdauer deutlich gestiegen
Für den CDU-Justizpolitiker Seelmaecker fällt das nicht weiter ins Gewicht. „Die Situation an Hamburgs Amtsgerichten ist nach wie vor unterirdisch. Während die Anzahl der Neuzugänge im Zivilbereich seit 2020 kontinuierlich sinkt, steigt die durchschnittliche Verfahrensdauer immer weiter an. Kläger brauchen sehr viel Geduld und Nerven, und ein Ende des Zustands ist nicht in Sicht“, kritisiert der Christdemokrat. Ein Indikator für die Unzufriedenheit vieler Rechtssuchender ist die gestiegene Zahl von Beschwerden wegen zu langer Verfahrensdauer an den Amtsgerichten. Waren es 2020 noch 127 schriftliche Beschwerden, so stieg deren Zahl über 152 (2022) auf 327 im vergangenen Jahr. Zum Stichtag 5. Juni 2024 gingen bereits 160 Beschwerden ein.
Auch für den amtsgerichtlichen Bereich der Familiensachen ist die Verfahrensdauer von 6,4 Monaten (2020) auf 6,5 Monate im ersten Quartal 2024 leicht gestiegen. Strafverfahren dauern aktuell im Schnitt sechs Monate gegenüber fünf Monaten vor vier Jahren. In beiden Bereichen ist die Zahl der Neueingänge im Vier-Jahres-Vergleich rückläufig. Allerdings weist die unverändert hohe Zahl unerledigter Verfahren auch hier auf die hohe Arbeitsbelastung hin. Ende 2020 wurden bei den Familiensachen 9947 unerledigte Fälle registriert, Ende 2023 waren es mit 9552 kaum weniger. Bei den Strafverfahren blieb der Bestand mit 7818 Verfahren (Ende 2020) und 7794 Verfahren (Ende 2023) nahezu unverändert hoch.
Der Senat bezeichnet die Personalsituation an einigen Amtsgerichten als „weiterhin angespannt“
In durchaus ungewohnter Offenheit räumt der Senat in seiner Antwort auf die Seelmaecker-Anfrage die Probleme ein. „Auch wenn die Personalsituation an einigen Stadtteilgerichten des Amtsgerichts Hamburg weiterhin angespannt ist und durch die Herausforderungen der digitalen Transformation (insbes. Roll-Out der E-Akte) die Mitarbeitenden zusätzlich gefordert werden, zeigen die insoweit ergriffenen Maßnahmen bereits erste Wirkungen und Entlastungen“, schreibt der Senat. „Die Solidarität zwischen den Kolleginnen und Kollegen der Gerichte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ sei hoch, und entsprechende Unterstützungsmaßnahmen hätten zu einem „Abbau von Rückständen geführt“.
Angesichts der Dimension der Arbeitsbelastung geht die Justizbehörde auch eher ungewöhnliche Wege. „Ferner wurde von Oktober 2023 bis März 2024 in größerem Umfang die mit den Personalräten vereinbarte freiwillige Samstagsarbeit genutzt, um Rückstände abzubauen“, schreibt der Senat. Außerdem seien „zur Entlastung bei der Protokollführung in Strafverfahren und als Unterstützungskräfte auf den Geschäftsstellen“ weiterhin knapp 100 studentische Hilfskräfte eingesetzt. „Diese Zusammenarbeit hat sich bewährt und wird weiter fortgeführt“, heißt es in der Senatsantwort.
Hamburger Gerichte: Rund 100 studentische Hilfskräfte auf den Geschäftsstellen der Amtsgerichte
„Der allgemeine Fachkräftemangel stellt in der Justiz eine große Herausforderung für die Personalgewinnung dar“, schreibt der Senat generell. Es werde intensiv daran gearbeitet, alle Ausbildungsplätze mit qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen. „Um auf dem angespannten Arbeitsmarkt die Sichtbarkeit zu erhöhen und die Hamburger Justiz als attraktiven Arbeitgeber zu präsentieren, werden vielfältige Aktivitäten unternommen. Dabei werden kontinuierlich neue Formate geprüft, um für die Personalgewinnung interessante Zielgruppen zu erreichen, z. B. durch eine stärkere Einbeziehung sozialer Medien“, schreibt der Senat.
Kurzfristig werden aber auch sogenannte Quereinsteiger ohne entsprechende berufliche Qualifikation in den Justizdienst übernommen. „Die bisherigen Resultate der Werbung für fachfremde Quereinsteigende in die Hamburger Justiz zeigen ebenfalls eine positive Tendenz. Seit August 2023 konnten stetig neue Kolleginnen und Kollegen für die Geschäftsstellen gewonnen werden und damit der Personalbestand auf den Geschäftsstellen ausgebaut werden“, heißt es in der Senatsantwort. Danach stieg die Zahl der besetzten Vollzeitstellen von 476 (Anfang 20239) auf 493 Stellen zum Stichtag 1. Mai 2024.
Justiz Hamburg: 50 Quereinsteiger wurden in den Justizdienst übernommen und nachgeschult
Laut Senat wurden auf 50 freien Stellen 49 Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen eingestellt. Insgesamt hat es 257 Bewerbungen seit August 2023 gegeben. „Für die neuen Mitarbeitenden bedarf es einer intensiven Einarbeitung und Qualifizierung“, schreibt der Senat. „Nach erfolgter Qualifizierung sind die bisherigen Eindrücke von den Quereinsteigenden positiv, sodass hier für die Zukunft ein größeres Potenzial für eine nachhaltige Entspannung der herausfordernden Personalsituation gesehen wird.“
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Dass die Arbeitsbelastung auf den Geschäftsstellen gleichwohl nach wie vor hoch ist, belegt der hohe Krankenstand. In sechs der acht Amtsgerichte lag die Fehlzeitenquote im ersten Quartal 2024 im zweistelligen Prozentbereich mit dem Höchstwert von 14 Prozent (Amtsgericht Altona). Laut Senatsantwort gibt es „vielfältige Angebote zur Gesundheitsförderung, um die Mitarbeitenden in ihrem Berufsalltag zu stärken“. Außerdem habe die Justizbehörde zu Beginn des Jahres das Projekt „Zukunftsberufsfeld Justiz“ für nicht-richterliche Laufbahnen ins Leben gerufen.
„Die Justizsenatorin richtet weiter fröhlich Projekte ein, frei nach dem Motto: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, bilde ich einen Arbeitskreis. Dies gefährdet nicht nur das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat, sondern auch unseren Wirtschaftsstandort erheblich. Es wird endlich Zeit für vernünftige Arbeitsbedingungen auf den Geschäftsstellen. Nur so lassen sich die weit überdurchschnittlichen Fehlzeitenquoten und hohe Fluktuation beenden“, sagt CDU-Justizpolitiker Seelmaecker.