Hamburg. Schwangere 38-Jährige stand unter Verdacht, einen Unternehmer getötet zu haben. Das Urteil überraschte. Was der Richter sagte.
Den ganzen Tag kein Lebenszeichen. Es ist der 12. Mai 2022, als sich die Angehörigen eines 69-Jährigen allmählich Sorgen machen, ob dem Hamburger etwas zugestoßen sein könnte. Ein Check in der Wohnung des Mannes bestätigte die schlimmsten Befürchtungen: Der Mann wurde umgebracht. Es wurde ein Fall für die Polizei und später für die Justiz. Und es kam zu einem Prozess mit überraschenden Wendungen.
Gefunden wurde das Opfer seinerzeit vom Neffen des 69-Jährigen. Der junge Mann fand seinen Verwandten dann auf dessen Bett vor. Doch der Senior schlief nicht friedlich. Sein Zustand veranlasste den Neffen dazu, einen Notruf an die Feuerwehr abzusetzen. Und auf die Frage der Helfer, ob sein Verwandter bei Bewusstsein sei, anwortete der Neffe: „Nein, er ist kalt.“ Und dass es in der Wohnung so aussehe, als sei eingebrochen worden. „Die Schränke sind auf.“
Mord Hamburg: Das Opfer hatte schwerste Verletzungen erlitten
„Nicht lange nach dem Anruf damals waren unter anderem die Kriminalpolizei und dann auch Rechtsmediziner vor Ort“, erzählt Rechtsmediziner Klaus Püschel in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblattes mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Eine erste rechtsmedizinische Einschätzung noch am Tatort ergab Hinweise auf stumpfe Gewalt gegen den Kopf des Opfers. Es waren schwerste Verletzungen, die erahnen ließen, dass da mit erheblicher Kraft vorgegangen wurde. Die Frage war: Warum wird ein Mann im Rentenalter auf so brutale Weise getötet? Und: von wem?“
Um Anhaltspunkte zu erhalten, wer für den Tod eines Opfers verantwortlich sein könnte, werden am Tatort Spuren gesichert. Das heißt, es wird unter anderem nach Fingerabdrücken gesucht, nach Fußspuren, nach genetischem Material, also beispielsweise Haaren oder Hautschuppen.
True Crime: Gesucht wird nach Fingerabdrücken und DNA-Spuren
„Das alles ist wichtig, um möglichst Erkenntnisse zu gewinnen, wer zuletzt in der Wohnung war – also als Täter in Betracht kommt“, erläutert Püschel. Es spielt aber außerdem die Auswertung technischer Geräte eine Rolle, also: Ergeben sich aus dem Handy besondere Hinweise? Mit wem hat das Opfer telefoniert, gibt es verdächtige SMS- oder WhatsApp-Nachrichten, aufschlussreiche Fotos oder Mails? Welche Termine stehen im Kalender des Opfers? Hat derjenige an dem Tag, an dem er zu Tode gekommen ist, Verabredungen gehabt?
„Und es wird natürlich nach Zeugen gesucht“, ergänzt Mittelacher. „Gibt es Nachbarn, die beobachtet haben, ob das Opfer zuvor Besuch bekommen hat – und von wem? Wie ist das Umfeld des Opfers? Wer könnte ein Motiv haben? Gibt es in der Nähe des Tatorts Überwachungskameras, die etwas Interessantes aufgezeichnet haben können?“ Um Hinweise auf den Täter zu bekommen, ist ebenso die Ermittlung des Todeszeitpunkts wichtig. Nach dem Motto: Wer hätte etwa zur Tatzeit überhaupt die Gelegenheit gehabt, sich dem späteren Opfer zu nähern und dann gewaltsam gegen es vorzugehen.
Mordfall: Angeklagte gehörte zum „erweiterten Bekanntenkreis“ des Opfers
„Im Fall des getöteten 69-Jährigen ergab die rechtsmedizinische Untersuchung, dass er an jenem 12. Mai 2022 im Laufe des Vormittags zu Tode gekommen ist“, so Püschel. Ins Visier der Ermittler geriet schließlich eine junge Frau, die ursprünglich aus Kolumbien kam, aber schon eine Weile in Deutschland zu Hause war. Die 38-jährige Catalina R. (Name geändert) stand im Verdacht, weil von ihr Faserspuren und DNA in der Wohnung des Opfers festgestellt wurden. Sie wurde schließlich am 14. Dezember 2022, verhaftet. Damals hieß es, sie gehöre „zum erweiterten Bekanntenkreis“ des später Getöteten Carlos D. (Name geändert).
Ein WhatsApp-Chat zwischen der 38-Jährigen und Carlos D. deutete darauf hin, wie sich die ersten Kontakte zwischen der 38-Jährigen und dem ehemaligen Unternehmer angebahnt haben. „Ich wäre an einem Job als Köchin oder Haushaltshilfskraft interessiert“, schrieb Catalina R. da – offenbar in Anspielung auf ein Inserat, das der Rentner geschaltet hatte.
Mordfall in Hamburg: DNA-Spuren fanden sich an der Kleidung des Opfers
„Wenn es wirklich dazu gekommen ist, dass Catalina R. dann als Haushaltshilfe für den 69-Jährigen tätig war, würde das doch auch Finger-, Faser- und DNA-Spuren erklären, die später von der Spurensicherung in der Wohnung des Opfers festgestellt wurden“, überlegt Püschel. „Entscheidend dafür, dass die 38-Jährige schließlich als Angeklagte im Prozess landete, war, wo genau ihre DNA-Spuren gefunden wurden“, erklärt Mittelacher. „Nämlich insbesondere am Leichnam und an der Kleidung, die der Tote anhatte.“
Und daraus hat man bei den Ermittlungen den Schluss gezogen, dass sie zu dem Zeitpunkt, als der Mann getötet wurde, in der Wohnung war. Dass sie den Leichnam zumindest berührt hat. In der Anklage im Prozess vor dem Landgericht wurde der 38-Jährigen schließlich Mord vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, Catalina R. habe die Wohnung des früheren Geschäftsmannes in einem Mehrfamilienhaus in Borgfelde unter einem Vorwand aufgesucht. Dort habe die 38-Jährige den Mann auf der Suche nach Bargeld und anderen Wertgegenständen zu Boden gebracht, sich auf ihn gekniet, ihm dabei mehrere Rippen gebrochen und ihm die Atemwege zugedrückt. Dadurch sei das Opfer erstickt, heißt es in der Anklage. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass die Tat aus Habgier verübt wurde.
Verteidigerinnen: Prozess könnte nach vier Tagen mit Freispruch beendet sein
Die Verteidigerinnen haben zum Prozessauftakt mit scharfen Worten kritisiert, dass Catalina R. überhaupt auf der Anklagebank gelandet ist. Die Hauptverhandlung könne „nach vier Tagen mit einem Freispruch beendet“ werden, meinten die Anwältinnen. Sie sagten, dass Fasern und DNA, die ihrer Mandantin zugeordnet wurden, in der Wohnung des Opfers gefunden wurden, lasse sich durch ganz unverdächtige Umstände erklären. Denn Catalina R. habe fünf Tage, bevor der Mann getötet wurde, in dessen Wohnung Haushaltstätigkeiten ausgeführt, unter anderem Wäsche gebügelt. Die Verteidigerinnen forderten außerdem das Gericht und die Staatsanwaltschaft auf: „Sehen Sie sich die Angeklagte an! Sie soll einen Mann, den sie erst einmal gesehen hat, mit bloßen Händen getötet haben?“
Ferner argumentierten die Verteidigerinnen, dass die Angeklagte für die vermutete Tatzeit ein Alibi habe. Zu dieser Tat habe sie damals gemeinsam mit einer Kollegin in einem Hotel ein Zimmer gereinigt – mehrere Kilometer von der Wohnung des Opfers entfernt, sagten die Verteidigerinnen. Auch dass von der Staatsanwaltschaft als Mordmotiv Habgier angenommen wird, war aus Sicht der Verteidigung nicht plausibel. Denn es sei nicht festgestellt worden, dass in der Wohnung des Opfers etwas fehle. Insbesondere sei Bargeld zurückgelassen worden.
True Crime: Angeklagte hatte, als sie verhaftet wurde, einen vier Monate alten Sohn
„Es gab doch in dem Prozess außerdem einen sehr emotionalen Aspekt“, erinnert Püschel. „Zur Tatzeit war die Angeklagte im neunten Monat schwanger, und sie wurde verhaftet, als ihr Sohn etwa vier Monate alt war. Mutter und Kind wurden also getrennt.“ „Stimmt“, bestätigt Mittelacher. „Es wurde von der Verteidigung kritisiert, dass Catalina R. ihr Baby nicht in einer Mutter-Kind-Station eines Gefängnisses bei sich haben könne. Später dann, als der Prozess lief, wurde das Baby in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht. Dreimal pro Woche konnte die Angeklagte in der Untersuchungshaft ihr Kind sehen.“
Der Prozess ging über mehrere Verhandlungstage. Und entscheidend in der Beweisaufnahme war einerseits die Aussage einer Zeugin, andererseits die eines Sachverständigen. Durch beide wurde die Angeklagte entlastet. Darüber hinaus gab es an dem Tag, an dem Carlos D. schließlich getötet wurde, noch ein letztes Lebenszeichen von ihm, das auch wichtig ist. „Er hatte in einem Notruf von seinem Handy ,Hilfe, Hilfe!‘ gerufen“, berichtet Mittelacher. „Das war an jenem Vormittag des 12. Mai 2022, als er dann wenig später starb. Das heißt, dass der oder die Täter bereits am Vormittag in der Wohnung des Opfers gewesen sein und ihn bedroht, vielleicht sogar schon angegriffen haben müssen.“
Wende im Mordfall: Zeugin gab der Angeklagten ein sicheres Alibi
Aber es gab eine Zeugin, die ausgesagt hat, dass die Angeklagte Catalina R. genau zu der Zeit ganz woanders gewesen sei. Sie sagte im Prozess, sie und Catalina R. seien an jenem Vormittag, als Carlos D. getötet wurde, in einem Hostel an der Kieler Straße gewesen. „Wir haben zusammengearbeitet“, sagte die Zeugin. Sie hätten gemeinsam Räume geputzt. Und dieses Hostel an der Kieler Straße ist mehrere Kilometer vom Tatort entfernt. „Catalina R. kann ja wohl kaum an so weit auseinanderliegenden Plätzen gleichzeitig gewesen sein“, stellt Mittelacher fest.
Darüber hinaus gab es die Aussage des Sachverständigen, einem Experten für DNA. Dieser erläuterte, dass es für die DNA der Angeklagten an der Kleidung des Opfers folgende Erklärung gebe: Sie könne auch durch Haushaltstätigkeiten übertragen worden sein, beispielsweise, wenn Catalina R. die Wäsche von Carlos D. gebügelt habe.
Richter in Hamurg urteilt : „Sie hat den Mann nicht umgebracht“
Schließlich sah das Gericht keinen dringenden Tatverdacht gegen die Angeklagte mehr und hob den Haftbefehl auf. Das hatte zur Folge, dass Catalina R. ihren zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alten Sohn wieder häufiger sehen konnte. Am Ende dieses Prozeses ist Catalina R. schließlich freigesprochen worden. Und der Vorsitzende Richter hat sehr deutliche Worte gefunden. Er sagte über Catalina R. sehr entschieden: „Sie hat den Mann nicht umgebracht.“
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Der Richter sagte auch, die Angeklagte habe ein „wasserdichtes Alibi“. „Ich erinnere mich sehr gut an den Tag der Urteilsverkündung“, erzählt Mittelacher. „Das war der 28. August 2023, also etwa 15 Monate nach der Tat. Sieben Monate lang hatte Catalina R. in Untersuchungshaft gesessen – die allermeiste Zeit getrennt von ihrem Baby. Nun, bei der Urteilsverkündung, wirkte die 38-Jährige aufgewühlt.
Richter: Es müssen sich grausige und schlimme Szenen abgespielt haben
Der Richter sprach angesichts der massiven Gewalt gegen Kopf und Oberkörper, die gegen das Opfer verübt wurde, von einer „brutalen und grausamen“ Tötung. Unter anderem waren fast alle Rippen des Rentners gebrochen, zudem hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten, und er war stranguliert worden. „Es müssen sich in der Wohnung grausige und schlimme Szenen abgespielt haben“, sagte der Richter weiter. Und: Es sei außerdem kein Motiv erkennbar, warum die Angeklagte einen Mann „so brutal und grausam hätte töten sollen, den sie kaum kannte und den sie vorher nur einmal getroffen hatte“. Das Experten-Gutachten, das ergeben habe, dass sich DNA-Spuren von Catalina R. an der Kleidung des Toten auch durch Haushaltstätigkeiten erklären lassen, sei wichtig gewesen, betonte der Richter. Entscheidend sei allerdings tatsächlich das Alibi der Angeklagten gewesen.
Wahre Täter ist noch auf freiem Fuß – „Das ist bedrückend“
„Es gibt nichts, was es nicht gibt“, betonte der Richter weiter und bezog diesen Satz auf Zeugenaussagen. Er sagte, es sei „zwingend geboten“ gewesen, die Alibi-Zeugin im Prozess zu hören und deren Aussage genau zu prüfen sowie insgesamt in der Beweisaufnahme „Zweifel, Unsicherheiten und Unklarheiten zu klären. Es lehrt die Berufserfahrung: Es gibt nichts, was es nicht gibt.“ Der Richter sagte weiter: Nichts diene der Aufklärung von Sachverhalten mehr als eine Hauptverhandlung. „Die Aktenlage ist das eine, die Beweisaufnahme das andere.“
Er verdeutlichte außerdem: „Wenn sich im Rahmen einer Beweisaufnahme herausstellt, dass die Angeklagte nicht die Täterin gewesen sein kann, ist das kein Skandal – sondern Folge eines funktionierenden Strafjustizsystems. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Andererseits sei der Freispruch „auch etwas beängstigend, weil sicher feststeht: Der oder die Täter sind noch auf freiem Fuß“, sagte der Vorsitzende. Und weiter: „Das ist bedrückend.“
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