Hamburg. Im Prozess schildern Zeugen, wie sie die Entführung erlebten. Kindsmutter „am Boden zerstört“. Sie flehte: „Gib mir mein Kind wieder!“

Da stand sie, in Tränen aufgelöst, verzweifelt. „Gib mir mein Kind wieder!“, rief die Frau noch. Doch vergeblich. Der Mann, dem die flehende Bitte der Mutter galt, rannte weiter. Das Kind auf dem Arm, eine Schusswaffe in der anderen Hand: So lief Mehmet R. (alle Namen geändert) aus dem Haus, zu einem Auto, dann raste er in dem Wagen davon. Zurück blieb seine Ex-Frau, die vor lauter Kummer weinte und schrie, am Boden zerstört.

Diese Bilder haben Nachbarn noch vor ihrem geistigen Auge, als sie sich im Prozess vor dem Landgericht daran erinnern, wie am 4. November vergangenen Jahres ein Mann ein kleines Kind mit sich nahm. Diese mutmaßliche Geiselnahme, die in einer Wohnung in Stade begann, mündete in weitere folgenschwere Geschehnisse am Flughafen Hamburg. Dort versuchte der Täter laut Ermittlungen der Polizei, seine Ausreise und die des Kindes in die Türkei zu erzwingen, indem er um sich schoss und mit einer Bombe drohte. Erst nach einem 18-stündigen Nervenkrieg gab er auf; und die Dreijährige, die so lange bei ihm im Auto ausharren musste, gab er frei. Sie war augenscheinlich unverletzt.

Geiselnahme am Flughafen Hamburg: „Er fuchtelte mit der Hand und einer Waffe“

Im Prozess vor dem Landgericht, in dem sich Mehmet R. unter anderem wegen Geiselnahme verantworten muss, kommen an diesem zweiten Verhandlungstag mehrere Menschen zu Wort, die die Vorgeschichte jener dramatischen Zustände erlebt haben, durch die der Flughafen über viele Stunden lahmgelegt wurde, alle Starts und Landungen abgesagt wurden und deshalb wohl Tausende Reisende festsaßen. „Ich habe niemanden verletzt, weiß aber, dass ich Panik ausgelöst habe“, ließ der Angeklagte dazu seine Verteidigerin in seinem Namen erklären. „Ich entschuldige mich bei allen. Bei allen Polizisten möchte ich mich bedanken und entschuldigen.“

Der Angeklagte (vorne) sitzt zu Beginn des Prozesses wegen Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger, vorsätzlicher Körperverletzung und Waffendelikten im Sitzungssaal im Strafjustizgebäude.
Der Angeklagte (vorne) sitzt zu Beginn des Prozesses wegen Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger, vorsätzlicher Körperverletzung und Waffendelikten im Sitzungssaal im Strafjustizgebäude. © picture alliance/dpa | Marcus Brandt

In Stade, als Mehmet R. sich laut Anklage am 4. November durch eine List den Zugang zur Wohnung seiner Ex-Frau und der seiner Tochter verschaffte und sich dann mit der Dreijährigen auf dem Arm davonmachte, wirkte der 35-Jährige offenbar alles andere als umgänglich. „Er fuchtelte mit der Hand, darin hatte er eine Waffe“, erinnert sich ein Nachbar an das Auftreten von Mehmet R. „Er rief: weg, weg, weg!“ Vorher habe er den Mann die Treppe runterlaufen sehen, mit dem Mädchen auf dem Arm. Das Kind habe nur „verwirrt geguckt“. Und Mehmet R.s Stimmung sei eine Mischung aus „deutlich und aggressiv“ gewesen. „Ich merkte: Reden bringt hier nichts. Es war besser, ihn gehen zu lassen, als dass etwas passiert.“

Verzweifelte Mutter rief weinend: „Mein Kind ist weg!“

Also stellte sich der 24 Jahre alte Nachbar dem bewaffneten Mann nicht in den Weg, sondern rief stattdessen einer anderen Bewohnerin des Mehrfamilienhauses zu, sie solle die Polizei alarmieren. „Da ist einer, der hat ein Kind entführt. Und er hat eine Waffe“, habe er die Nachbarin informiert, die wegen des Lärms im Treppenhaus aus ihrer Wohnungstür guckte. Als sie wie gewünscht den Notruf getätigt hatte, hätten sie sich gemeinsam um die Mutter des Mädchens gekümmert. „Sie weinte.“ Und sie habe gerufen: „Mein Kind ist weg!“

Nach und nach kristallisierte sich für den Zeugen heraus, was offenbar der Hintergrund für die Geschehnisse jenes Abends war. Er habe noch miterlebt, wie die Familie etwa drei Jahre zuvor zu dritt in die Wohnung in Stade eingezogen war, der Vater aber bald eine andere Wohnung nahm. Er habe von einem Sorgerechtsstreit gehört und dass der Vater seine Tochter schon einmal entführt haben soll. Tatsächlich war bereits im März 2022 gegen Mehmet R. wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt worden. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Die Kleine konnte später von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden. Zuvor hatte ein Gericht im Sorgerechtsstreit zugunsten der Mutter entschieden. Dem Vater war zuletzt monatlich ein vierstündiger, betreuter Umgang mit seiner Tochter eingeräumt worden.

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Angeklagter soll gerufen haben: „Ihr werdet mich zum Mörder machen“

Er habe „Verständnis, dass ein Vater sein Kind sehen will“, sagt dazu der Nachbar, der dem bewaffneten Mehmet R. im Treppenhaus begegnet war. Aber für ihn sei „unbegreiflich“, so der Zeuge, „dass so etwas passieren konnte“. Wenn jemand wirklich Kontakt zu seinem Kind wolle, „gibt es andere Wege“. Der Zeuge erinnert die Verzweiflung der Mutter und ihre Tränen. Und dass sie sich in ihrem Kummer selber Vorwürfe machte. „Sie sagte, es sei ihre Schuld. Sie habe schon längst wegziehen müssen.“

Ob es dann nicht zu den Geschehnissen vom 4. November gekommen wäre? Laut Anklage meldete sich Mehmet R. unter einer falschen Identität auf eine Ebay-Kleinanzeige seiner früheren Frau, um durch diese List Zutritt zur Wohnung zu bekommen und dann seine Tochter zu entführen. Dann habe er seine Tochter gepackt – die Kleine links, die Waffe rechts –, sei mit ihr nach draußen gestürmt und habe einmal in die Luft geschossen, während die Mutter um Hilfe schrie. Mit den Worten „Ihr werdet mich zum Mörder machen“ sei er dann in einem gemieteten Audi geflohen.

Flughafen-Geiselnahme: geschossen, „um Aufmerksamkeit zu erregen“

Was danach passiert, ist quasi vor den Augen zahlloser Zeugen unter anderem von der Polizei passiert und wird vom Angeklagten auch nicht geleugnet: Er raste zum Flughafen Hamburg, durchbrach dort die Schranke des Nordtores und hielt auf dem Rollfeld neben einer Maschine der Turkish Airlines. Danach warf der 35-Jährige zwei Molotowcocktails und feuerte zweimal mit der Waffe in die Luft. Beides habe er getan, „um Aufmerksamkeit“ zu erregen, hatte der Angeklagte dazu am ersten Verhandlungstag ausgesagt.

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Ein Stader Polizist, der nach dem Notruf der Nachbarin als einer der Ersten an der Wohnung von Mutter und Kind ankam, hatte gleich „das Bauchgefühl“, dass Mehmet R. zusammen mit dem Kind in Richtung Flughafen Hamburg unterwegs sein könnte. Über Funk habe es geheißen, dass es eine „Kindesentziehung unter Vorhalt einer Schusswaffe“ gegeben habe, erzählt der 44 Jahre alte Beamte im Prozess als Zeuge. Die Mutter des kleinen Mädchens habe auf dem Boden gekniet oder gehockt und geweint, als sie zum Tatort kamen. „Sie sagte, dass ihr Ex-Mann das Kind mitgenommen hat.“

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Flughafen-Geiselnahme: Hamburger Polizist hatte eine Vermutung

Mehrere Zeugen schilderten dem Polizisten damals, wie sie die Situation im Treppenhaus und auf der Straße erlebten. „Er verließ mit dem Kind die Wohnung, und die Frau schrie um Hilfe.“ Die Zeugen hätten erzählt, dass der Mann in die Luft geschossen habe; manche hatten einen Schuss wahrgenommen, andere sogar zwei. Und dann sei der Mann mit dem Kind im Auto mit überhöhter Geschwindigkeit weggefahren. Als der Beamte von der verzweifelten Mutter erfuhr, dass Mehmet R. schon einmal eine Entführung der Tochter versucht habe, „hatte ich den Verdacht, dass seine Flucht möglicherweise Richtung Flughafen gehen könnte“, erzählt der Polizist. Diese Vermutung habe er der Hamburger Polizei mitgeteilt. „Ich wollte, dass die Kollegen wissen, dass da was los ist.“

Die Mutter des entführten Kindes sei „in einer Extremsituation“ gewesen. „Sie fing mehrfach an zu weinen, war aufgelöst und am Boden zerstört.“ Der Prozess wird fortgesetzt.