Hamburg. Generalstaatsanwaltschaft klagt 35-Jährigen an, der im November seine Tochter als Geisel genommen hat. Was ihm alles zur Last gelegt wird.
Eine Geiselnahme in Hamburg, zumal auf dem Gelände des viertgrößten deutschen Flughafens, hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten. Andererseits: Nachdem sich Aktivisten der Letzten Generation im Juli durch einen Metallzaun gezwängt und sich auf dem Rollfeld festgeklebt hatten, waren bereits im Sommer öffentlich massive Zweifel an der Sicherheit des Hamburger Flughafens laut geworden – wie sich keine vier Monate später zeigte, wäre es wohl fahrlässig gewesen, sie nicht zu haben.
Am 4. November passierte das Undenkbare, als handelte es sich um eine selbsterfüllende Prophezeiung: Der türkische Staatsangehörige Salman E. durchbrach mit seiner entführten Tochter die Schranken des Nordtors und raste auf das Vorfeld, um durch die Geiselnahme seine Ausreise mitsamt der Vierjährigen in die Türkei zu erzwingen. Auf und am Flughafen spielten sich Szenen wie in einem Katastrophenfilm ab: Überall Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen; Spezialeinheiten und Scharfschützen brachten sich in Stellung; Flugzeuge mussten evakuiert werden. Erst 18 Stunden später ergab sich der Geiselnehmer. Nach 18 Stunden der Angst, dramatischen Szenen und zähen Verhandlungen – und Hunderten von Flugausfällen.
Flughafen Hamburg: Generalstaatsanwaltschaft erhebt Anklage – Vater drohen bis zu 15 Jahren Haft
Die Generalstaatsanwaltschaft, die Zentralstelle Staatsschutz, hat jetzt Anklage gegen den 35 Jahre alten Türken am Landgericht erhoben. Sie sieht diese Straftatbestände realisiert: Geiselnahme, Entziehung Minderjähriger, vorsätzliche Körperverletzung und Delikte nach dem Waffengesetz. Im Falle einer Verurteilung drohen dem Mann bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe. Einen Termin für die Hauptverhandlung gibt es noch nicht. Das Landgericht muss die Anklage erst noch prüfen und zulassen.
Bevor Salman E. die wohl kritischste Infrastruktur der Stadt am 4. November gegen 20 Uhr mit einem gemieteten Audi enterte, hatte er sich mit einer List Zutritt zur Wohnung seiner in Stade lebenden Frau verschafft. Mit ihr lag er schon seit einiger Zeit im Streit über den Umgang mit der gemeinsamen Tochter. Seine Ex-Frau hatte schon damals das alleinige Sorgerecht. Salman E. soll sie mit einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe bedroht und dabei einen Schuss in die Luft abgegeben haben.
Auch soll er sie am Oberarm gepackt und ihr so Schmerzen zugefügt haben – deshalb der Vorwurf der Körperverletzung. Anschließend soll er die Vierjährige in den Leihwagen verschleppt haben. Unfassbar: Schon einmal, im März 2022, war gegen Salman E. wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt worden. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Das Kind konnte später von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.
Flughafen Hamburg: Geiselnehmer soll selbst gebaute Molotowcocktails aus Auto geworfen haben
Nach dem Vorspiel in Stade fuhr Salman E. mit dem kleinen Kind im Auto zum Flughafen Hamburg, wo er die Schranke am Nordtor durchbrach. Er raste auf das Vorfeld, gab dabei laut Generalstaatsanwaltschaft mehrere Schüsse aus seiner Waffe ab, warf zwei selbst gebaute brennende (nicht explodierende) Molotowcocktails aus dem Auto und stellte es neben eine Maschine der Fluglinie Turkish Airlines ab. Salman E. war es selbst, der sich beim Notruf der Polizei meldete und mit drei Bomben drohte.
Dass er eine Weste trug, die Polizisten zunächst für eine Sprengstoffweste hielten, unterstrich aus Sicht der zum Tatort geeilten Beamten nur den Ernst der Lage. Die ganze bedrohliche Kulisse diente aus Sicht der Generalstaatsanwaltschaft aber vor allem einem Zweck: „Damit wollte er seiner Forderung nach Bereitstellung eines Flugzeugs zur ungehinderten Ausreise in die Türkei für sich und seine Tochter Nachdruck verleihen“, heißt es in der Mitteilung der Anklagebehörde.
Generalstaatsanwaltschaft: Psychiatrischer Gutachter in Verfahren eingebunden
Um 14.30 Uhr am Sonntag schließlich ergab sich der Geiselnehmer nach zähen Verhandlungen mit der Polizei. Er legte die vermeintliche Sprengstoffweste ab und übergab seine (körperlich unversehrte) Tochter einer Polizistin. „Bei seiner Festnahme trug der Angeschuldigte außerdem ein Messer, 22 Schuss Munition, ein Reizstoffsprühgerät und eine mit einer Patrone durchgeladene und entsicherte Schusswaffe bei sich“, heißt es in der Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft.
Der 18-stündige Einsatz hatte den kompletten Flugverkehr lahmgelegt und Auswirkungen auf den bundesweiten Flugbetrieb. Allein in Hamburg mussten 240 Flüge gestrichen oder umgeleitet werden. Rund 35.000 Passagiere waren betroffen. Nach der irrwitzigen Aktion verstärkte der Flughafen seine Zufahrten mit Betonbarrieren und mobilen Rammschutzanlagen. Der 35-Jährige sitzt seit dem 5. November in der Hamburger Untersuchungshaftanstalt. Zu den Vorwürfen geäußert habe er sich bislang nicht, sagte die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft, Liddy Oechtering, auf Abendblatt-Anfrage. Ein psychiatrischer Sachverständiger sei zum Verfahren hinzugezogen worden.
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Ein späteres Leben in Freiheit wird womöglich kein Zuckerschlecken für den Mann: Der Flughafen hat bereits angekündigt, für die am 4. und 5. November entstandenen Schäden eine halbe Million Euro vom Täter zu verlangen.