Hamburg. Ansturm auf die „Stabi“ während der Abi-Prüfungszeit. Manchmal finden Schüler gar keinen Platz mehr. Studierende nicht immer erfreut.

Vor der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, kurz Stabi genannt, auf dem Campus der Universität Hamburg im Grindel-Quartier tummeln sich Menschen, jung wie alt. Die einen machen eine Rauchpause, mit einer Mate in der Hand. Andere entspannen sich vom Lernen mit Freunden zusammen an einem Picknicktisch und scherzen miteinander. Hier draußen dürfen sie das, drinnen ist zumeist Ruhe angesagt, auch oder gerade weil die Stabi in diesen Wochen besonders frequentiert wird.

Denn es sind die Wochen, in denen Hamburgs Abiturientinnen und Abiturienten ihre schriftlichen Klausuren schreiben, und sich bis kurz vor Prüfungsstart noch mit Hochdruck darauf vorbereiten. Was das mit einer Universitätsbibliothek zu tun hat, mag sich nicht jedem sofort erschließen. Aber es ist so: Auch Abiturienten nutzen zum Lernen mit Vorliebe die Stabi.

Abitur 2024 in Hamburg: Gelernt wird in der Stabi

Und so liegen auf den Tischen im zweiten Stock des 80er-Jahre-Baus die blaue „Einfach Deutsch“-Ausgabe von Georg Büchners „Woyzeck“, rote Abiturvorbereitungsbücher des Stark Verlags oder das typische Reclam-Gelb. Pflichtlektüren des diesjährigen Abiturs dort, wo eigentlich diejenigen lernen, die diese Prüfung schon hinter sich haben. Besonders in den Wochen vor dem Abitur kommen viele Schülerinnen und Schüler in die Stabi. Und die Studierenden, die eigentlich dort Hof halten, vermissen ihre Ruhe.

Die Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, kurz Stabi genannt, auf dem Campus der Universität Hamburg wird jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht.
Die Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, kurz Stabi genannt, auf dem Campus der Universität Hamburg wird jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Bei der Erwähnung der Schülerinnen und Schüler mit ihren bunten Büchern und Collegeblöcken, seufzt die 26-jährige Alina. Auf einer Bank vor der Staatsbibliothek macht sie eine Lernpause. Der Himmel ist grade aufgeklart. Wöchentlich lernt Alina in der Bibliothek für ihr Bauingenieurswesen-Studium. „Ich finde es anstrengend, weil die sich nicht an die Regeln halten.“ Mit „es“ und „die“ meint Alina die lernenden Abiturientinnen und Abiturienten. Genauer gesagt, die unüberhörbaren, lernenden Abiturientinnen und Abiturienten. „Die sind sehr laut und präsent. Die sind nur am Quatschen.“

„Man hört im Vorbeigehen: Was machen die Abiturienten hier?“

Lena und Sina sind „die“. Beide besuchen die 13. Klasse und lernen auf dem Campus für ihre Abiturprüfungen. „Jeden Tag, bis spät“, berichtet Sina. Die Schülerinnen sehen viele Abiturientinnen und Abiturienten in der Bibliothek, auch von anderen Schulen. Manchmal ist es sogar so voll, dass sie nicht direkt einen Platz bekommen. Dann warten die 19-Jährigen oder fragen, ob sie sich irgendwo dazusetzen dürfen.

Die Studierenden wirken meistens so, als hätten sie keine Lust darauf. „Man hört im Vorbeigehen: Was machen die Abiturienten hier?“, erinnert sich Lena. „Ich kann verstehen, dass die genervt sind, weil wir ja auch deren Platz einnehmen, aber...“ Ihr Satz bleibt unbeendet. Bei sich zu Hause lernen können die beiden nicht, so erzählen sie. Für richtige Konzentration muss es die Stabi sein.

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Konstantin Ulmer ist für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Bibliothek zuständig und erklärt, dass zu Beginn des Semesters meistens weniger Studierende in der Stabi sind als während der Prüfungs- und Hausarbeitsphasen. Diese „Lücke“ würden die Schülerinnen und Schüler nun vermehrt nutzen und für ihre Abiturvorbereitungen in die Stabi kommen. Studierende hätten sich in der Vergangenheit schon darüber beschwert, dass es in der Bibliothek zu voll sei.

Generell ist die Stabi laut Ulmer in den vergangenen zwei Jahren durchgehend gut besucht. Auch die Schülerinnen und Schüler würden dazu beitragen. Konkrete Beschwerden darüber, dass auch Abiturientinnen und Abiturienten in der Stabi lernen, sind ihm jedoch nicht bekannt.

Genervte Studierende meckern auf TikTok

Eine Abiturientin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, teilt sich einen Tisch mit zwei anderen Schülerinnen. Die drei sind 17 und 18 Jahre alt und haben ihre Köpfe in einem Gruppenarbeitsraum zusammengesteckt. Bei dem Gedanken, dass die nächste Abiturprüfung bereits am nächsten Tag stattfindet, lachen sie nervös.

Die drei Jugendlichen lernen oft in der Staatsbibliothek, erzählen sie, denn gemeinsam können sie sich besser konzentrieren. Manchmal gehen sie auch in eine Bäckerei, weil sie sich da zudem noch Kaffee holen können. Die konzentrierte Stimmung in der Stabi wollen sie aber nicht missen. Auf TikTok hat eine von ihnen neulich gesehen, wie Studierende sich über Schülerinnen und Schüler in Uni-Bibliotheken aufregen. Direkt konfrontiert wurden sie in der Stabi deswegen aber noch nicht.

Sofia und Charlotte haben diese Frustration schon zu spüren bekommen. Die beiden erzählen, dass sie schon beim Flüstern im Stillebereich böse Blicke geerntet haben. Darauf angesprochen oder ermahnt wurden die beiden aber noch nicht. „Es wäre auch ein bisschen frech, etwas zu sagen“, findet Sofia. Immerhin ist die Universitätsbibliothek eine öffentliche Bibliothek. Besonders in den besagten Lesesälen, wo es leise sein soll, sitzen die beiden gerne und arbeiten sich durch ihre Unterlagen. Durch die Stille können sie sich dort gut konzentrieren, meinen die Abiturientinnen.

Von einer Bibliothek in die nächste gescheucht

Auf einer Bank vor dem massiven Gebäude haben Charlotte und Sofia die Köpfe zusammengesteckt und reden. An ihrer Schule haben sie auch eine Bibliothek, erzählt die 17-jährige Charlotte, aber in der Stabi sind sie freier mit den Uhrzeiten. Die Bibliothek in ihrer Schule hat nur bis zum Nachmittag offen und nicht wie die Stabi bis Mitternacht. Außerdem kommen in die Schulbibliothek auch Elftklässler, die laut sind, und dann können sie sich nicht konzentrieren. Durch laute Mitschülerinnen und Mitschüler aus ihrer eigenen Bibliothek vertrieben, suchen die Abiturientinnen Zuflucht in der Stabi. Und die Studis, die von der Lautstärke der Abiturientinnen und Abiturienten genervt sind – wohin gehen die?

An einen Picknicktisch vor der Universitätsbibliothek gelehnt steht Leon. Der 24-Jährige im Business Casual Outfit sind die Abiturientinnen und Abiturienten auch schon aufgefallen. Wie er es sagt, wirkt es unmöglich, dass sie nicht auffallen. „Ich kann es nicht nachvollziehen“, sagt Leon. „Ich war nicht einmal hier zum Lernen für das Abi.“ Auch er stört sich hauptsächlich an der Lautstärke der Schülerinnen und Schüler. Wenn Leute sich kurz unterhalten, findet er es nicht schlimm. Doch in der Vergangenheit hat es ihn genervt, wenn es Überhand nahm.

Hamburger Schüler dürften sich als Studenten selbst über Abi-Büffler beschweren

Wenn er garantiert Ruhe haben will, dann lernt Leon deshalb zu Hause. Eigentlich ist das jedoch nicht optimal, denn er muss oft wegen der Bücher in der Stabi sein. Viele Zeitschriften, Magazine und andere Literatur können online gelesen oder heruntergeladen werden. Doch nicht alle nötigen Bücher sind im Internet zu finden. Der Weg in die mit Teppich verlegten Hallen der Stabi: unausweichlich, egal, wer dort noch ist.

Und die Abiturienten von heute dürften sich im nächsten oder übernächsten Jahr, wenn sie selbst Studierende sind, über die vielen Schülerinnen und Schüler beklagen, die dann hier fürs Abi büffeln.