Norderstedt. Jessica G. kam als viertes Kind zur Welt. Mit nun 40 Jahren lernt die Analphabetin in der VHS das Lesen. Was sie und andere antreibt.

  • Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.
  • Die Volkshochschule (VHS) in Norderstedt bietet Analphabeten Hilfe an.
  • Drei Personengruppen kommen in der Regel: Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund oder Deutschsprachige, die in der Schule nicht richtig lesen und schreiben gelernt habe.

Den ersten Liebesbrief, den Manuela R. in ihrer Schulzeit an einen Jungen verfasst hat, bekam sie rot unterstrichen zurück. „Er hatte alle Rechtschreibfehler markiert. Das war der erste und letzte Liebesbrief, den ich in meinem Leben geschrieben habe“, sagt sie. Heute ist sie 58 Jahre alt. Die deutsche Rechtschreibung hat sie nie richtig gelernt. Immer wieder haben andere Menschen ihr deswegen das Gefühl gegeben, dumm zu sein. „Aber ich bin nicht dumm! Ich kann mich gut ausdrücken!“, betont sie.

„Sowas ist doch Grundwissen, das musst du können“, sagte einmal ihre kleine Nichte zu ihr. In solchen Momenten schämt sich Manuela R. für ihre „Behinderung“, wie sie ihre Rechtschreibschwäche nennt. Manchmal fragt sie sich, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie das Schreiben besser beherrschen würde. „Vielleicht hätte ich dann studiert“, sagt sie.

Norderstedterin lernt an der Volkshochschule lesen und schreiben

Nach ihrem Hauptschulabschluss hat sie eine Ausbildung zur Friseurin gemacht. Vor ihren Arbeitgebern hat sie ein Leben lang versucht, ihren funktionalen Analphabetismus zu verstecken. Aber das möchte sie nicht mehr. Sie möchte sich nicht mehr auf Berufe beschränken, in denen sie nicht schreiben muss. Seit zwei Monaten besucht die Mutter zweier Söhne die Volkshochschule (VHS) in Norderstedt. Hierherzukommen und als erwachsene Frau zu lernen, wie Wörter korrekt geschrieben werden, hat sie Überwindung gekostet. „Ich war sehr verunsichert. Aber das Gefühl wurde mir von meiner Familie genommen. Sie ist sehr stolz auf mich“, sagt sie.

Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.
Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. © FUNKE Foto Services | Markus Weißenfels

Am liebsten würde Manuela R. in diesem Artikel selbstbewusst mit ihrem vollen Namen genannt werden. Ihre Freunde wissen von ihrer Rechtschreibschwäche. „Damit bin ich offen umgegangen. Meine Bekannten sind es gewohnt, dass sie Nachrichten ohne Punkt und Komma bekommen“, sagt sie. Allerdings ist die Norderstedterin derzeit auf der Suche nach einem neuen Job. Ihr Mann befürchtet, dass sich ein künftiger Arbeitgeber von so viel Ehrlichkeit abschrecken lassen könnte. „Die Gesellschaft ist noch nicht so weit, dass sie damit umgehen kann“, sagt Manuela R. nachdenklich. „Um so eine Schwäche auszugleichen, muss man gut mit anderen Sachen punkten.“

Analphabetismus

Primärer Analphabetismus liegt vor, wenn Menschen weder lesen noch schreiben können und beides nie gelernt haben. Das ist häufig in Entwicklungs- und Schwellenländern der Fall. Durch den gesellschaftlichen Fortschritt nimmt aber auch in ärmeren Ländern die Alphabetisierung zu.

Sekundärer Analphabetismus bedeutet, dass ein Mensch seine Lese- und Schreibkenntnisse wieder verlernt hat.

Beim funktionalen Analphabetismus haben Betroffene lesen und schreiben gelernt. Sie können einzelne Wörter und Sätze lesen, aber längere Texte bereiten ihnen große Schwierigkeiten. Die Kenntnisse sind niedriger als im Alltag erforderlich. Diese Art von Analphabetismus hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Oft sind persönliche Probleme mögliche Gründe.

Analphabetismus hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun

Wenn Jessica G. ein Buch liest, ergeben die Sätze einfach keinen Sinn für sie. „Ich verstehe nicht, was ich lese“, sagt die 40-Jährige. In der Schule hat sie sich „durchgemogelt“, wie sie sagt. Sie hat sich einfach nie zum Vorlesen gemeldet. Kurze Aufgabenstellungen in Klassenarbeiten hat sie verstanden. „Aber wenn ich einen Text lesen und dazu eine Inhaltsangabe schreiben sollte, ging das gar nicht“, erzählt sie. Genau wie Manuela R., mit der sie gemeinsam den Kursus der VHS besucht, hat sie sich als Kind oft „dumm“ gefühlt. Dabei hat Analphabetismus nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Die Gründe sind oft sehr persönlich und auf die eigene Familiengeschichte zurückzuführen. „Dass ich Probleme beim Lesen habe, hat meine Eltern nie gekümmert“, sagt G.

Jessica G. und Manuela R. fällt das Lesen und Schreiben schwer. Sie möchten unerkannt bleiben, weil sie Nachteile auf dem Arbeitsmarkt befürchten.
Jessica G. und Manuela R. fällt das Lesen und Schreiben schwer. Sie möchten unerkannt bleiben, weil sie Nachteile auf dem Arbeitsmarkt befürchten. © Annabell Behrmann | Annabell Behrmann

Laut der Leo-Studie, die die Universität Hamburg im Jahr 2018 durchgeführt hat, können mehr als 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Das kann vielfältige Gründe haben. „Oft fängt es schon im Vorschulalter an. Viele Kinder wachsen nicht mehr mit der Schrift auf, bekommen von ihren Eltern keinen Stift in die Hand gegeben“, sagt Sabine Bölling, die seit 13 Jahren als Dozentin für Deutsch als Zweitsprache mit Alphabetisierung an der VHS tätig ist. Seit 2021 leitet sie die Regionalstelle in Norderstedt. Immer mehr Eltern seien keine Vorbilder mehr. Statt ein Buch zu lesen, hätten viele nur noch ihr Handy in der Hand. „Viele Kinder verstehen gar nicht, wofür Lesen und Schreiben überhaupt wichtig ist.“

Gruppen an der VHS bestehen aus maximal sechs Teilnehmern

Jessica G. ist mir drei älteren Geschwistern aufgewachsen, Manuela R. ist das siebte Kind der Familie. „Meine Eltern waren froh, dass ich meinen Hauptschulabschluss gemacht habe. Neben mir hat nur eines meiner Geschwister eine Ausbildung absolviert“, sagt Manuela R. Mit dem Lesen hat sie keine Probleme. Bei Jessica G. ist es genau umgekehrt. Ihr fällt das Schreiben nicht schwer. „Die Ausprägungen von Analphabetismus sind sehr unterschiedlich. Beides kann voneinander isoliert auftreten“, sagt Sabine Bölling.

Zu ihr in die Volkshochschule kommen in der Regel drei verschiedene Personengruppen: Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund oder Deutschsprachige, die in der Schule nicht richtig lesen und schreiben gelernt haben. Sie werden in separaten Gruppen von maximal sechs Teilnehmern einmal wöchentlich unterrichtet.

Bölling berichtet von einem Mann, der ihren Kursus besucht hat und ihr prägend in Erinnerung geblieben ist. Anfangs habe sie gar nicht verstanden, warum er bei ihr war. Schließlich konnte er schreiben. Doch irgendwann stellte sich heraus: „Das waren alles Wörter, die er auswendig gelernt hatte. Neue Begriffe kannte er nicht“, erzählt Bölling. Ein Leben lang habe er versucht, seine Schreibschwäche zu verstecken. So geht es vielen Analphabeten. Bei Behördengängen täuschen manche einen verletzten Arm vor, um nicht schreiben zu müssen, oder lassen sich das Dokument vorlesen, weil sie angeblich ihre Brille vergessen haben.

Analphabetismus: Land und EU finanzieren Kurse

In Schleswig-Holstein bieten 25 Volkshochschulen Kurse an, in denen Erwachsene lesen und schreiben lernen können. Zudem gibt es fünf Grundbildungszentren und fünf Regionalstellen, die darüber hinaus intensive Beratungen und Gespräche durchführen. Eine davon liegt in Norderstedt. Den Unterricht müssen die Teilnehmenden nicht selbst bezahlen. Die Finanzierung läuft über das Land und die Europäische Union.

Manuela R. träumt schon lange davon, mit Menschen mit einer Beeinträchtigung zusammenzuarbeiten. Schon seit 20 Jahren ist sie ehrenamtlich in dem Bereich tätig. Ihr Geld hat sie zuletzt als Alltags- und Demenzbetreuerin verdient. Nun bewirbt sie sich für eine neue berufliche Herausforderung. Den VHS-Kursus belegt sie, um ihr Selbstwertgefühl dafür zu stärken. Sie wünscht sich, selbstsicherer aufzutreten. Im Grunde sei sie nämlich eine Perfektionistin, sagt sie. „Wenn ich etwas mache, dann richtig.“ Sie möchte sich nicht mehr so angreifbar fühlen durch ihre Rechtschreibschwäche.

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Jessica G. lernt schon seit Oktober des vergangenen Jahres intensiv das Lesen. Zurzeit arbeitet sie als Reinigungskraft. Sie mag die körperliche Betätigung. Den ganzen Tag lang im Büro zu sitzen, das wäre nichts für sie. „Aber ich möchte gerne wissen, was in meinem Arbeitsvertrag drinsteht“, sagt sie. Die Norderstedterin möchte nicht immer auf die Hilfe ihrer Freunde angewiesen sein. Für Sabine Bölling ist es wunderschön zu sehen, wie sich ihre Schülerinnen und Schüler „die Schrift erobern“. „Es ist toll, wenn sich ihnen eine neue Welt eröffnet“, sagt sie. Die 57-Jährige hofft, dass die Gesellschaft den Betroffenen gegenüber noch offener wird und falsche Vorurteile ablegt.

Ob Manuela R. doch noch einmal einen Liebesbrief in ihrem Leben schreiben wird, weiß sie nicht. Aber sie hat einen anderen Plan. „Es wäre ein Traum für mich, ein Buch zu schreiben“, sagt sie und strahlt.

Wer sich über das Angebot der VHS Norderstedt näher informieren möchte, kann Sabine Bölling per Mail unter boelling@vhs-norderstedt.de kontaktieren.