Hamburg. Kein Industrieland hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Deutschland. Doch es fällt schwer, über die Grenzen der Migration zu sprechen.

Für die einen ist es einfach: Wie alt und arm sähe Deutschland ohne Migration aus? Es würden an allen Ecken und Enden Arbeitskräfte fehlen, kein Paket käme an, kein Pflegeheim würde funktionieren, kein Industriebetrieb bestehen. Einen Corona-Impfstoff hätte es später gegeben, und die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 hätte kein so wunderbares Ende gefunden. Kulinarisch wäre Deutschland ein Notstandsgebiet zwischen Sauerkraut und Knödel. Jeder Migrant ist eine Chance.

Für die anderen ist es genauso einfach: Wie viele Probleme wären hierzulande nicht so eskaliert, hätte man nicht so viele Flüchtlinge ins Land gelassen? Die Situation am Hamburger Wohnungsmarkt und in den Schulen wäre einfacher, die Kriminalität niedriger. Die AfD längst im Orkus der Geschichte verschwunden, die Spaltung der Gesellschaft weniger tief. Der Staatshaushalt hätte Milliarden gespart. Jeder Flüchtling ist eine Herausforderung.

Die deutsche Zuwanderungsdebatte kennt nur schwarz und weiß

Der Punkt ist: Jeder einzelne Satz ist wahr – aber das Leben weder schwarz noch weiß. Trotzdem bekommen in der deutschen Debatte die Extrempositionen am meisten Raum. Auf der einen Seite träumen Rechte von einem ethnisch homogenen Land, das es nie gab. Und auf der anderen Seite Linke von einem Staat ohne Grenzen, den es nie geben kann. In der Mitte gehen die nüchternen Wahrheiten unter. Am Ende profitieren die Falschen. Höchste Zeit, das Thema vom Kopf auf die Beine zu stellen, neben dem Herzen die Hirne zu benutzen, und vor lauter Wunsch nicht die Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren.

Es ist ein halbes Jahr her, dass drei SPD-Senatoren sich im Abendblatt der Wirklichkeit gestellt haben. „Wir sind jetzt am Limit. Wir dürfen die Stadt nicht überfordern, damit Integration weiterhin erfolgreich gelingt“, sagte Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer.

Hamburger Sozialdemokraten sehen „Signale der Überforderung“

Innensenator Andy Grote warnte, dass sich die „Signale der Überforderung“ auf vielen Ebenen häuften, nicht nur bei der Unterbringung, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt. „Viele, die sehr engagiert waren, sagen uns jetzt: Wir können nicht mehr“, so Grote. Und der damalige Schulsenator Ties Rabe betonte: „In dieser Größenordnung kann die Stadt es nicht mehr lange durchhalten. Sonst kippt die Stimmung. Wir müssen deshalb dringend zu Maß und Mitte zurückfinden.“

Vor einem halben Jahr schlugen gleich drei Senatoren – Ties Rabe (Schule), Melanie Schlotzhauer (Soziales) und Andy Grote (Innen) Alarm und sprachen von „Signalen der Überforderung“.
Vor einem halben Jahr schlugen gleich drei Senatoren – Ties Rabe (Schule), Melanie Schlotzhauer (Soziales) und Andy Grote (Innen) Alarm und sprachen von „Signalen der Überforderung“. © Funke Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Beeindruckend war, dass sich drei Sozialdemokraten so offen zu äußern wagten. Noch beeindruckender ist, dass dies so lange gedauert hat. Aus der berechtigten Sorge, den Falschen die Stichworte zu liefern, ist in breiten Kreisen ein Beschweigen geworden. Migration ist der viel zitierte Elefant im Raum, in allen demoskopischen Erhebungen das Spitzenthema, an den Stammtischen Dauerbrenner, in Hintergrundgesprächen die Hauptsorge. In der öffentlichen Debatte und den Medien aber geht es am liebsten ums Klima. Nur: Bevor das Weltklima kippt, dürfte das gesellschaftliche Klima längst gekippt sein.

Schon Enzensberger warnte: „Jede Migration führt zu Konflikten“

„Jede Migration führt zu Konflikten, unabhängig davon, wodurch sie ausgelöst wird, welche Absicht ihr zugrunde liegt, ob sie freiwillig oder unfreiwillig geschieht und welchen Umfang sie annimmt. Gruppenegoismus und Fremdenhass sind anthropologische Konstanten.“ Das verfasste der große linksliberale Denker Hans-Magnus Enzensberger in seinem fast prophetischen Essay „Die große Wanderung“. Er schrieb es 1992, als die Denkräume noch offen und nicht moralinverklebt waren.

Zwei Migrationswellen später hat sich daran nicht viel verändert. Die vier größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen sind nach Zahlen des UNHCR die Türkei (3,6 Millionen), der Iran (3,4 Millionen), Kolumbien (2,5 Millionen) und Deutschland (2,1 Millionen). Abgesehen davon, dass unsere Zahl seit 2022 um weitere 400.000 gestiegen sein dürfte, fällt auf: Flüchtlingsaufnahme ist tendenziell eine Aufgabe, die die Nachbarstaaten mit einer gewissen kulturellen Nähe übernehmen. 2015 hat Deutschland diese Regel gebrochen.

Seit einigen Monaten sinkt der Druck durch neue Flüchtlinge

Und die Zahlen steigen weiter, wenn auch langsamer. Bundesweit kamen im ersten Quartal rund 65.400 Erstanträge hinzu (minus 20 Prozent), in Hamburg kamen rund 3000 Schutzsuchende hinzu. Deutschlands Möglichkeiten, die Wanderung zu stoppen, sind begrenzt. Zwar reagiert die Ampel und hat deutlich weitgehendere Maßnahmen beschlossen als ihre Vorgängerin – aber vieles davon zu spät. Das EU-Asylsystem, die „temporären“ Grenzkontrollen, die Bezahlkarte, das alles soll, auch wenn es keiner sagen mag, abschreckende Wirkung entfalten.

Migrationsforscher wissen, dass Migration Migration nach sich zieht. Durch die Aufnahme von vielen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan oder auch der Türkei drängen Menschen aus diesen Ländern dorthin, wo schon viele Landsleute leben. Das ist menschlich gut nachvollziehbar, aber erschwert zugleich die Integration: Wer unter Landsleuten leben kann, muss sich nicht zwangsläufig auf Sprache, Kultur und Lebensart der neuen Heimat einlassen.

Integration ist eine Frage des Maßes

Integration ist eine Frage des Maßes. „Wir haben die Flüchtlingswelle von 2015/16 noch nicht komplett verarbeitet. Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine lebten fast 30.000 Flüchtlinge in öffentlichen Unterkünften, jetzt sind es 48.000“, sagt Grote. „Darin liegt auch ein riesiges Integrationshemmnis für die Menschen. Wir dürfen die Integrationskraft und auch die Unterstützungsbereitschaft in unserer Stadt nicht gefährden.“

Ein Selfie geht um die Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich im September 2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber mit einem Flüchtling fotografieren.
Ein Selfie geht um die Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ sich im September 2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber mit einem Flüchtling fotografieren. © picture alliance / dpa | Bernd von Jutrczenka

In vielen Kategorien sind die Grenzen erreicht. Es ist eine Frage der Mathematik: In nicht einmal zehn Jahren hat die Hansestadt fast 122.000 Schutzsuchende aufgenommen – fast so viele Menschen, wie in ganz Bergedorf wohnen. 82.500 von ihnen musste Hamburg unterbringen. Obwohl die Hansestadt in den zurückliegenden Jahren meist rund 10.000 Wohnungen oder gar mehr gebaut hat, wächst der Mangel. Es ist eine einfache Rechnung. Die Zuwanderer müssen untergebracht werden, es konkurrieren Flüchtlinge, Arbeitsmigranten und Einheimische um die raren vier Wände.

Hamburg wächst – nur wegen der Zuwanderung

Mitte 2023 lebten 397.276 Ausländer in der Hansestadt, Ende 2022 waren es etwa 385.000 Menschen, ein Jahr zuvor waren nur 345.000 Menschen mit erstem Wohnsitz hier gemeldet. Das rasante Wachstum hat viel mit dem Angriffskrieg Russlands auf seinen Nachbarn zu tun: Die Zahl der Ukrainer stieg in dieser Zeit von 4238 Menschen auf gut 31.400 Mitte 2023. Zwischen 2013 und 2022 zogen 155.468 Menschen mehr aus dem Ausland nach Hamburg als wegzogen – natürlich nicht nur Flüchtlinge.

Das ganze Wachstum der Stadt resultiert allein aus Zuwanderung. Addiert man den Saldo der Zu- und Wegzüge mit dem Umland und der Restrepublik, ist die Bilanz seit 2014 fast durchgängig negativ: 17.773 Menschen haben Hamburg mehr verlassen; übrigens 17.571 allein seit 2020. Ohne Zuwanderung wäre Hamburg längst eine schrumpfende Stadt. Das zeigt zugleich, wie vermessen die Idee von einem radikalen Zuzugsstopp ist.

Die Schulen haben besonders mit der Zuwanderung zu tun

Doch nicht nur am Wohnungsmarkt bereitet die Bilanz inzwischen Kopfzerbrechen, auch in den staatlichen Bildungseinrichtungen. „Nun sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir ohne Qualitätseinschränkungen den Ansturm nicht mehr bewältigen können. Es fehlen Lehrkräfte und Räume“, sagte Rabe im Oktober. „Das normale Jahreswachstum von 2000 Schülern haben wir im Griff, noch mehr wird schwierig und geht manchmal nur über größere Klassen oder die Nutzung von Aushilfsräumen. Im vergangenen Jahr haben wir 8000 Schüler zusätzlich aufgenommen.“ Insgesamt waren es in den vergangenen Jahren 13.000 Schüler zusätzlich.

Bei einer Ballung wachsen die Probleme: Die Konzentration von manchen Zuwanderergruppen in eigenen Vierteln verhindert Integration und fördert den Rückzug in kulturelle Nischen (Segregation). Hatte im Schuljahr 2011/2012 gut jeder dritte Schüler (34,8 Prozent) einen sogenannten Migrationshintergrund – also mindestens ein Großelternteil aus dem Ausland, ist es zehn Jahre später mehr als jeder Zweite (50,8 Prozent).

Jeder dritte Schüler spricht zu Hause kaum Deutsch

Problematischer für den Schulerfolg: 32,7 Prozent der Schüler sprechen zu Hause nicht oder kaum Deutsch. Diese Quote ist laut Schulbehörde in den vergangenen Jahren merklich gestiegen. Durch den Ukraine-Krieg stieg der Anteil; 2021 lag er bei rund 28,1 Prozent, im Schuljahr 2013/14 nur bei 21,7 Prozent. Oftmals ziehen bei solchen Strukturen viele Deutsche, aber auch gut integrierte Ausländer fort. Oder Besserverdiener melden ihre Kinder in Privatschulen an.

Ebenfalls prekär ist die Entwicklung der Kriminalität: Der Anteil der Ausländer unter den Verdächtigen liegt inzwischen bei 41 Prozent, ein Plus von 13,5 Prozent. Bei den sogenannten Rohheitsdelikten beträgt der Anteil der tatverdächtigen Ausländer 43,8 Prozent, bei „Straftaten gegen das Leben“ 39,1 Prozent, bei Vergewaltigungen knapp 41 Prozent.

Migration ist kein permanentes multikulturelles Straßenfest

Zur Wahrheit gehört: Manche Statistik ist schief, weil mitunter Vergehen wie unerlaubte Einreise und Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht hineingerechnet werden und durchreisende Banden die Zahlen verschärfen. Kriminalität hat etwas mit Alter, Geschlecht, Bildung und sozialem Status zu tun. Rassismuserfahrungen und Ausgrenzung verschärfen das Problem. Besonders häufig mit dem Gesetz in Konflikt geraten junge, arme, ungebildete Männer mit patriarchalischen Weltbildern.

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Allerdings gehört zur Wahrheit, dass die dysfunktionale Migrationspolitik des vergangenen Jahrzehnts genau diese Gruppe überproportional ins Land kommen ließ. „Wir haben ja diese Diskussion, dass wir an allen Stellen merken, dass wir an Grenzen kommen – sowohl bei der Unterbringung als auch in Schulen und Kitas und auf dem Arbeitsmarkt. Und auch die Kriminalitätsentwicklung ist einfach ein Zeichen dafür, dass hier eine sehr hohe Zahl in sehr kurzer Zeit gekommen ist“, sagt Andy Grote.

Man muss die Probleme offen benennen, um Politik zu gestalten. Migration ist prinzipiell für eine Gesellschaft belebend – sie bringt neue Köpfe, neue Ideen, neuer Herangehensweisen, sie befruchtet Kultur und Austausch. Aber sie ist eben kein permanentes multikulturelles Straßenfest, sondern harte Arbeit.

Andere Länder steuern Zuwanderung viel strenger als Deutschland

Sämtliche Einwanderungsländer haben das erkannt, steuern die Migration passgenau wie Kanada, definieren Obergrenzen wie die Niederlande oder fordern Integration sehr deutlich ein wie Dänemark. In Deutschland wäre das alles irgendwie „rechts“. Zugleich gilt angesichts des Leids in der Ukraine zweifellos: Deutschland muss helfen. Aber das ist eine gesamteuropäische Aufgabe. 1,14 Millionen Ukrainer leben inzwischen zwischen Oder und Rhein; in Frankreich nicht einmal 70.000.

Teil der Wahrheit ist, dass gerade viele Einwanderer der ersten und zweiten Generation die massive Zuwanderung kritisch sehen. Während sie oft unter härtesten Bedingungen und mit überdurchschnittlichem Einsatz als „Gastarbeiter“ sich und das Land voranbrachten, besteht Einwanderung heute zu oft aus einem Sozialstaatsprojekt – Migranten werden betreut, beschult, bekommen Sprach- und Integrationskurse. Das alles ist sehr gut gemeint, erreicht aber oft das Gegenteil: Wer jahrelang fremdbestimmt „integriert“ wird, verliert viel seiner Tatkraft und Energie. Der Fakt, dass inzwischen mehr als 62 Prozent der Bürgergeld-Empfänger Migrationshintergrund haben, könnte damit zu tun haben.

Nicht jeder Zuwanderer ist auch eine Fachkraft

Durch die hohen Zuwanderungszahlen bei Flucht und Asyl hat das ganze Thema in der Bundesrepublik längst Schlagseite bekommen – denn die nötige Fachkräftemigration kommt nur mühsam voran. Immerhin hat die Ampel hier nun geliefert.

Die deutsche Wirtschaft und der Sozialstaat werden ohne Arbeitsmigration nicht überleben, sie ist nötig, hilfreich, wünschenswert. Doch ist diese relativ unabhängig von Flüchtlingen, die als Schutzsuchende andere Ansprüche haben – und eigentlich in der ursprünglichen Deutung nur Zugezogene auf Zeit sind. Oftmals können Flüchtlinge aus Afghanistan oder Syrien nicht die Qualifikationen mitbringen, die eigentlich nötig wären.

Nirgendwo wächst die Schar der jungen Menschen ohne Bildungsabschluss so wie hier

Zwar gibt es viele Erfolgsgeschichten, aber auch Zahlen, die nachdenklich machen: Seit 2015 nimmt die Zahl der jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss in Deutschland stetig zu – in den vergangenen fünf Jahren stieg sie rasant um 35 Prozent auf 2,86 Millionen – kein OECD-Land hat sich schlechter entwickelt.

Der Elefant steht im Raum, wie die Engländer sagen – das Problem ist für viele ersichtlich, aber wird verschwiegen. Vielen Linken passt es nicht ins Weltbild. Und die Konservativen hingen lange dem Irrglauben an, Deutschland sei kein „Einwanderungsland“. Die Union bekämpfte das kluge Einwanderungsgesetz der rot-grünen Regierung von 2001 mit Punktesystem und Quoten – übrigens unter Parteichefin Angela Merkel. Also kamen viele Menschen über den Umweg Asyl. Darunter leiden das Land, die Debatte – und nicht zuletzt die Migranten.

Eine Lösung erfordert eine ehrliche Debatte – die ist aber angesichts der Radikalpositionen links und rechts kaum zu führen. Sie bestimmen noch immer, wohin das Land steuert – mitunter schaukeln sich die Extremen sogar gegenseitig hoch. Schon 1992 warnte Enzensberger vom „trüben Kontinuum“ der Fremdenfeindschaft von der Leugnung offenkundiger Tatsachen („Deutschland ist kein Einwanderungsland“ bis zur Mobilisierung von Schlägerbanden. Zugleich kritisierte er: „Die Verteidigung der Einwanderer tritt mit einem moralischen Gestus auf, der an Selbstgerechtigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. (...) Das rassistische Klischee erscheint im Negativ. Die Migranten werden idealisiert.“

So bewegen wir uns weiter im Kreis. Und kommen keinen Meter voran. Zeit auszubrechen. Und aufzubrechen.