Hamburg. 18-Jähriger starb nach langer Behandlung unter Vollnarkose. Angeklagte Ärztin weint. Was die Mutter des Verstorbenen als Zeugin sagt.

Hier schienen sie an der richtigen Adresse. Die empathische Zahnärztin, der erfahrene Anästhesist – all dies machte auf Cornelia S. (alle Namen geändert) einen vertrauenswürdigen Eindruck. Bei diesen Medizinern, so schildert es die 44-Jährige, habe sie „ein gutes Bauchgefühl“ gehabt. „Ich habe für mich mitgenommen, wir sind in guten Händen. Man weiß, was man tut“, erinnert sich die Hamburgerin. Doch es kam ganz anders. Ihr 18-jähriger Sohn, der sich für eine aufwendige Zahnbehandlung in die Praxis begeben hatte, starb nach etwa acht Stunden unter Vollnarkose.

Wenn Cornelia S. sich jetzt im Prozess vor dem Landgericht Hamburg gegen zwei Mediziner an jene Zeit vor fast acht Jahren erinnert, erzählt sie von ihrer Erleichterung, die sie zunächst empfunden hat, als ihr Sohn sich trotz extremer Angst vor Zahnärzten endlich für eine Behandlung entschied. „Er hatte schon lange Schmerzen, und es wurde immer schlimmer“, schildert die Hamburgerin. Jeden Tag habe Emil wegen der Schmerzen Medikamente nehmen müssen. Schließlich habe er zugestimmt, sein Gebiss sanieren zu lassen – unter der Voraussetzung, er bekomme eine Vollnarkose.

Prozess Hamburg: Mutter war wichtig, dass die Mediziner über große Erfahrung verfügten

Nach Recherchen im Internet und nachdem sie sich an ihre Krankenkasse gewandt hatte, welche Zahnärzte überhaupt Behandlungen unter Vollnarkose vornehmen, sei ihre Wahl auf die Praxis von Barbara N. gefallen. „Sie war einfühlsam.“ Außerdem habe die Zahnärztin ihr versichert, dass sie schon mehrere Behandlungen unter Vollnarkose vorgekommen habe und dass ein Anästhesist dabei sein werde. Ihr sei „wichtig gewesen“, so Cornelia S., dass die Mediziner über große Erfahrung verfügten. Vom Anästhesisten habe es geheißen, dass er seit 30 Jahren tätig sei. „Darauf habe ich vertraut.“ Ihr Sohn habe sich eher in sein Schicksal „gefügt“.

Stunden später kam es zu den Ereignissen, die die angeklagte Zahnärztin Barbara N. am ersten Prozesstag als „Tragödie“ bezeichnete, die sie nicht habe kommen sehen. Emil erlitt während der Behandlung einen Herzstillstand und verstarb wenig später trotz intensiver Rettungsbemühungen im Krankenhaus. Es tue ihr „unendlich leid“, was geschehen ist, hatte die 46-jährige Angeklagte erklärt. Und der ebenfalls beschuldigte Anästhesist Daniel R. (67) hatte gesagt: „Ich habe als Arzt versagt und als Mensch schwere Schuld auf mich geladen.“

Anklage: Narkose-Überwachung wich erheblich vom Standard ab

Die Hamburger Staatsanwaltschaft wirft beiden Medizinern wegen der Geschehnisse vom 27. Mai 2016 Körperverletzung mit Todesfolge vor. Laut Anklage im Prozess vor dem Landgericht haben die Zahnärztin und der Anästhesist vor einer auf mehrere Stunden angelegten Zahnbehandlung unter Vollnarkose den Patienten nicht ordnungsgemäß über alle Risiken und die Art der Narkoseüberwachung aufgeklärt. Dabei sei diese erheblich vom Standard abgewichen.

Hätte der junge Mann alle Risiken gekannt, hätte er dem Eingriff nicht zugestimmt, so die Anklage. Der Zahnärztin wird vorgeworfen, sie habe zumindest erkannt, dass ihre Praxis die für so eine umfangreiche Behandlung notwendigen Standards unterschreitet. So habe es keine EKG-Überwachung und keine maschinelle Beatmung gegeben. Darüber hätte der Patient aufgeklärt werden müssen, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt.

Mutter glaubte fest daran, dass ihr Sohn „gut überwacht wird“

Bei den damaligen Vorgesprächen in der Praxis hat Cornalia S. es nach ihrer Darstellung so verstanden, dass ihr Sohn während der auf mehrere Stunden angelegten Behandlung „sicher ist, dass er gut überwacht wird und dass alles gut werden wird“. Und so ließen die Hamburgerin und ihr Ehemann damals ihren Sohn guten Gewissens in der Praxis. Am Abend könnten sie Emil abholen, habe man ihr mitgeteilt, erzählt die Zeugin weiter.

Als sie wie verabredet Stunden später zurück zur Zahnärztin fuhr, ahnte die 44-Jährige nach ihrer Darstellung nicht, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Die Wahrheit dämmerte ihr erst häppchenweise. Noch als die Hamburgerin vor der Praxis mehrere Krankenwagen und ein Polizeiauto sah, „habe ich mir nichts dabei gedacht“. Auch Zahnärztin Barbara N., die ihr in den Praxisräumen entgegenkam, habe „gefasst“ gewirkt und nur vage gesagt, dass es „einen Vorfall“ gegeben habe. „Das klang nicht so schlimm“, erinnert sich Emils Mutter.

Ärztin im Krankenhaus sagte, es sehe „nicht gut aus“

Die nächste Informationen, die sie erhielt, alarmierte Cornelia S. allerdings erheblich. Nun erfuhr sie, dass ihr Sohn in ein Krankenhaus gebracht werde. Dort in der Klinik habe ihr eine Ärztin einige Zeit später mitgeteilt, es sehe „nicht gut aus“, erzählt die Zeugin. Es habe Versuche gegeben, den 18-Jährigen wiederzubeleben. Und schließlich, so schildert es Emils Mutter, sagte ihr ein Arzt, dass ihr Sohn verstorben sei.

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Vor jeder Nachfrage, die einer der Verfahrensbeteiligten an Cornelia S. hat, überlegt die Zeugin einige Augenblicke, scheint in ihrer Erinnerung zu kramen, wie sich die Ereignisse denn nun damals genau abgespielt haben. Sie wirkt beherrscht, doch es kostet sie offenbar Mühe. Mit keinem Blick streift die Zeugin den angeklagten Anästhesisten, über den dessen Verteidiger der Zeugin versichert, der 67-Jährige sei „erschüttert“ über das, was damals passiert ist. Auch zu der Zahnärztin sieht Cornelia S. nicht hinüber. So bleibt ihr wohl verborgen, dass die Medizinerin immer wieder die Hände vors Gesicht schlägt und ihr Tränen über das Gesicht laufen.

Der Sohn hatte Angst. Die Mutter wollte ihn „beschützen“

Für sie sei damals wichtig gewesen, dass ihr Sohn sich trotz seiner enormen Vorbehalte überhaupt auf eine Behandlung eingelassen habe, betont Cornelia S. „Er hatte Angst.“ Und sie habe als Mutter ihren Sohn „beschützen wollen“. Emils Schmerzen seien heftig, die Behandlung „dringend“ gewesen, nachdem er jahrelang nicht beim Zahnarzt gewesen sei. Bei dem Aufklärungsgespräch über den bevorstehenden vielstündigen Termin sei ihr Sohn auch danach gefragt worden, ob er Drogen genommen habe, erzählt die Mutter. Das habe er verneint. Doch der 18-Jährige muss etwas konsumiert haben. Spätere rechtsmedizinische Untersuchungen des Verstorbenen hatten ergeben, dass Emil Rückstände von Kokain und Cannabis im Blut hatte.

Für sie als Mutter, so schildert Cornelia S. es als Zeugin, habe Priorität gehabt, dass die behandelnden Ärzte einfühlsam sind und über große Erfahrung bei Behandlungen auch unter mehrstündiger Vollnarkose verfügten. Dies sei ihr entsprechend versichert worden.

Prozess Hamburg: Wie erfahren waren die Ärzte wirklich?

Auch vorher schon, als sie sich über Möglichkeiten einer Behandlung für ihren Sohn informiert habe, habe sie darauf vertraut, bei Zahnärztin Barbara N. in guten Händen zu sein. Sie sei davon „überzeugt gewesen, dass eine Praxis, die Narkose-Behandlungen anbietet, auch entsprechend eingerichtet ist“, betont Emils Mutter.

Der Anwalt der 44-Jährigen hakt nach. Wenn sie gewusst hätte, dass die Zahnärztin und der Anästhesist, die ihren Sohn behandeln würden, vorher nur zweimal zusammengearbeitet haben und frühere Termine unter Vollnarkose, die Zahnärztin Barbara N. vorgenommen hat, maximal vier Stunden dauerten: Ob sie in Kenntnis dieser Informationen dem Eingriff zugestimmt hätte? Cornelia S. überlegt einen kurzen Augenblick. Die Antwort ist deutlich: „Nein.“ Der Prozess wird fortgesetzt.