Hamburg. „Habe als Arzt versagt.“ Zwei Medizinern wird Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen. Der 18-Jährige hatte Kokain im Blut.

Der junge Mann hatte Angst, wohl seit Jahren schon. Die Vorstellung, beim Zahnarzt zu sitzen für eine möglicherweise schmerzhafte Prozedur, grauste ihn. Deshalb hatte er sich sehr lange nicht behandeln lassen. Viele Zähne waren schadhaft, und der 18-Jährige schluckte mittlerweile Tabletten gegen die Schmerzen. Nun endlich sollte eine Behandlung erfolgen – alles in einem Rutsch und unter Vollnarkose. Bis zu acht Stunden, so die Prognose der zuständigen Mediziner, würde so eine Behandlung dauern.

Doch der Termin in einer Praxis in Altona endete mit einer Katastrophe. Der Hamburger erlitt während der Behandlung einen Herzstillstand. Trotz Reanimationsbemühungen und dem Einsatz von Notärzten war das Leben des Patienten nicht zu retten. Er starb am selben Abend im Krankenhaus. Jetzt, fast acht Jahre nach den Ereignissen vom 27. Mai 2016, müssen sich die damals behandelnde Zahnärztin sowie der beteiligte Anästhesist in einem Prozess vor dem Schwurgericht verantworten.

Prozess Hamburg: „Ich wollte den Patienten von den Schmerzen befreien“

Beiden Medizinern wird Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen. Es tue ihr „unendlich leid“, was damals geschehen ist, sagt Zahnärztin Barbara N. (Name geändert) mit tränenerstickter Stimme. „Ich wollte den Patienten doch nur von seinen Schmerzen befreien. Ich hätte niemals gedacht, dass das in so einer Tragödie enden könnte“, so die 46-Jährige. Sie sei damals der festen Überzeugung gewesen, „meine Sorgfaltspflicht erfüllt zu haben“.

Auch der angeklagte Anästhesist Daniel R. (Name geändert) nennt das damalige Geschehen eine „Tragödie“. Er habe sich „zu sehr aufs Menschliche konzentriert und das Fachliche vernachlässigt“, sagt der 67-Jährige. Er habe dem 18-Jährigen helfen wollen, „seine Angst zu besiegen“. Der Anästhesist räumt ein, damals nicht alle erforderlichen Geräte für die Überwachung der Narkose bei dem Behandlungstermin dabeigehabt zu haben. „Ich habe als Arzt versagt und als Mensch schwere Schuld auf mich geladen.“ Der Tag damals habe sein „Leben verändert“.

Anästhesist sagt, er habe „als Arzt versagt“ und schwere Schuld auf sich geladen

Die Ereignisse, die die Angeklagten auch Jahre später jetzt im Prozess noch merklich aufwühlen, stellen sich laut Staatsanwaltschaft so dar: Vor einer auf mehrere Stunden angelegten Zahnbehandlung unter Vollnarkose hätten die Zahnärztin und der Anästhesist den Patienten nicht ordnungsgemäß über alle Risiken und die Art der Narkoseüberwachung aufgeklärt. Dabei sei diese erheblich vom Standard abgewichen.

Hätte der junge Mann alle Risiken gekannt, hätte er dem Eingriff nicht zugestimmt, so die Anklage. Der Zahnärztin wird vorgeworfen, dass sie zumindest erkannt habe, dass ihre Praxis die für so eine umfangreiche Behandlung notwendigen Standards unterschreitet. So habe es keine EKG-Überwachung und keine maschinelle Beatmung gegeben. Darüber hätte der Patient aufgeklärt werden müssen.

Anklage: Das Ausmaß der Komplikation wurde zu spät erkannt

Der Anklage zufolge erlitt der 18-Jährige wegen der unsachgemäßen Narkoseführung gegen 17.30 Uhr, als die Behandlung bereits mehr als acht Stunden andauerte, ein Herz-Kreislauf-Versagen. Diese kritische Situation sei von dem Anästhesisten zunächst falsch gedeutet und der Rettungsdienst deshalb verspätet alarmiert worden, wirft die Staatsanwaltschaft dem Narkosearzt vor. Bei Körperverletzung mit Todesfolge sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jahren vor. In einem minderschweren Fall liegt der Strafrahmen bei einem bis zehn Jahren.

Der Fall habe „tragische Momente“, sagte Gerichtssprecher Kai Wantzen vor Prozessbeginn. Es habe sich um „keine Standardbehandlung“ gehandelt. Der junge Mann sei ein „Angstpatient“ und eine Zahnbehandlung dringend erforderlich gewesen. Normalerweise werde eine so umfangreiche Behandlung jedoch nicht am Stück vorgenommen. Es deute einiges darauf hin, so Wantzen, dass der 18-Jährige und seine Mutter froh waren, eine Behandlungsmöglichkeit zu finden, auf die sich der Patient trotz seiner Ängste einlassen konnte. Dass der Fall erst so viele Jahre nach der mutmaßlichen Tat verhandelt wird, liege an den notwendigen umfangreichen und komplexen Ermittlungen, für die auch mehrere Sachverständigen-Gutachten eingeholt worden seien.

Narkosearzt sagt, er habe bis zum Schluss um das Leben des Patienten gekämpft

In dem großen Verhandlungssaal haben die beiden Angeklagten weit voneinander entfernt Platz genommen, jeweils begleitet von zwei Verteidigern. Beide Mediziner betonen in ihren Aussagen, dass es ihnen ausdrücklich darum gegangen sei, dem offensichtlich extrem ängstlichen Patienten zu helfen. Er bitte die Familie des Verstorbenen um Entschuldigung, sagt Anästhesist Daniel R. Der damals 18-Jährige sei „vor meinen Augen unter meiner Behandlung gestorben“. Aber es sei ihm wichtig, so der Angeklagte, „dass ich versucht habe, ein guter Arzt zu sein“. Bis zum Schluss habe er um das Leben des jungen Mannes gekämpft.

Zahnärztin Barbara N. betont, sie habe sich vor vielen Jahren sehr bewusst für ihren Beruf entschieden. Bei ihren Patienten komme es ihr stets darauf an, die beste Behandlungsmethode zu finden. In ihrer gesamten Berufslaufbahn habe sie nur sieben oder acht Behandlungen unter Vollnarkose durchgeführt. Diese sei aus ihrer Sicht „das letzte Mittel der Wahl“. Hier habe sie auf die „Erfahrung und die Kompetenz“ des begleitenden Narkosefacharztes vertraut.

Zahnärztin hat auf die „Erfahrung und Kompetenz“ des Narkosearztes vertraut

Der zu behandelnde junge Mann habe damals „so große Angst“ vor einer Zahnbehandlung gehabt. Er habe einer Sanierung seines schon recht schadhaften Gebisses nur unter der Voraussetzung seine Genehmigung erteilt, dass er eine Vollnarkose erhalte. „Er wollte während der Behandlung schlafen, er wollte nichts mitbekommen“, erinnert sie sich. Alternativen wie eine Behandlung unter Hypnose oder eine Betäubung durch Lachgas, die sie vorgeschlagen habe, habe der Patient abgelehnt.

„Der Plan war, die Zähne so weit wie möglich zu erhalten“, sagt die 46-Jährige. Sie habe der Mutter des jungen Mannes genau erläutert, welcher Zahn wie behandelt werden müsse und dass dies insgesamt wohl etwa sechs bis acht Stunden dauern würde. Aus Kostengründen, weil jede Vollnarkose sehr teuer sei, habe die Mutter gefragt, ob die Behandlung in einer Sitzung möglich sei. Dem habe sie zugestimmt, so die Angeklagte, nachdem sie sich mit dem Anästhesisten kurzgeschlossen habe. Dessen Ausstattung habe auf sie „einen professionellen Eindruck“ gemacht.

Ärzte angeklagt: Während der Behandlung keine Auffälligkeiten bemerkt

Während der Behandlung habe sich der Umfang als „größer als geplant“ herausgestellt. Sie habe mehr Füllungen und auch mehr Wurzelbehandlungen vornehmen müssen als ursprünglich vorgesehen. Sie habe sich bei der Behandlung „Region für Region vorgearbeitet“ und während dieser Zeit keine Auffälligkeiten bemerkt. Schließlich habe eine Kollegin die Weiterbehandlung übernommen, sie selber sei ins Labor gegangen.

Als sie zurück ins Behandlungszimmer kam, habe sie sofort gesehen, dass die Behandlung unterbrochen war. Sie habe gefragt, ob ein Notarzt verständigt werden solle, doch der Anästhesist habe gesagt, er habe alles im Griff. Sie sei von ihm nach dessen Notfallkoffer gefragt worden. Diesem habe der Narkosearzt einige Utensilien entnommen und sich um den Patienten gekümmert, dessen Zustand zunehmend stabilisiert gewesen sei. Dann habe sich die Situation aber wieder verschlechtert.

Prozess Hamburg: „Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sich die Situation so entwickelt“

Sie sei überrascht gewesen, dass der junge Mann plötzlich reanimiert werden sollte. Man habe ihn aus dem Behandlungsstuhl gehoben und auf den Boden gelegt. Dort seien Notfallmaßnahmen erfolgt, der Patient schließlich mit dem Rettungswagen in eine Klinik gekommen. „Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sich die Situation so entwickelt.“

Eine Entwicklung, an deren Ende der Patient nicht mehr zu retten war. Was genau die Todesursache war, konnte auch durch eine Obduktion, die kurz nach dem Tod des 18-Jährigen durchgeführt wurde, nicht eindeutig geklärt werden. Bei dem Verstorbenen seien Auffälligkeiten an dessen Herz festgestellt worden, aber insgesamt keine innere Erkrankung, die als todesursächlich habe festgestellt werden können, erläutert ein Rechtsmediziner im Prozess.

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Weitere Untersuchungen hätten ergeben, dass beispielsweise die Dosierung der Narkosemedikamente im Normbereich gelegen habe. Allerdings habe eine Analyse ergeben, dass der Körper des 18-Jährigen Spuren von Kokain und Cannabis aufwies. Der Konsum habe nicht lange vor dem Eingriff stattgefunden.

Ob der junge Mann zu den Drogen gegriffen hat, um zusätzlich seine Angst zu betäuben? Vielleicht kann dazu die Mutter des Hamburgers etwas sagen? Sie soll am nächsten Verhandlungstag als Zeugin zu den Geschehnissen im Rahmen der Zahnarztbehandlung gehört werden. Der Prozess ist auf zunächst zehn Tage anberaumt. Ein Urteil könnte im Juni verkündet werden.