Hamburg/Berlin. Vor einem Jahr tötet ein Mann sieben Zeugen Jehovas. Zahlen zeigen, dass der Hass seitdem zunimmt. Auch andere Gläubige sind im Visier.

Am 16. März des vergangenen Jahres, ein Donnerstag, klingelt im Gemeindesaal der Zeugen Jehovas in Essen das Telefon. Niemand ist in dieser Stunde, kurz vor Mittag, vor Ort, also springt der Anrufbeantworter an. Eine Frau ist in der Leitung, ihre Worte lassen an ihrem Hass wenig Zweifel. „Ihr Idioten … das war nur der Anfang … vom Ende … mit dem Attentat. Ihr werdet alle daran glauben müssen, verlasst euch drauf … Es brennt mir in meiner Seele.“

Die Frau spricht ernst, entschlossen, fast wahnhaft, immer wieder unterbricht sie ihre Worte mit kleinen Pausen. Und es bleibt nicht bei der einen Drohung, sie ruft erneut in der Gemeinde an, sogar ein drittes Mal. „Das wird schlimmer kommen … ihr habt‘s nicht anders verdient.“ Am Ende droht die Frau mit einem Attentat: „Und ich töte alle … Und ich töte alle … Und ich töte alle …“ Dreimal hintereinander, langsam verblasst die Stimme. Dann legt sie auf.

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Die Worte der Frau wiegen schwer. Erst wenige Tage ist es zu diesem Zeitpunkt her, dass es nicht bei einer Drohung blieb: der Amoklauf von Hamburg. Am 9. März 2023 erschoss Philipp F. im Gemeindesaal der Zeugen Jehovas sieben Menschen, darunter ein ungeborenes Baby im Mutterleib. 16 Minuten dauerte das Massaker. Der Täter feuerte 134 Schuss aus einer halbauto­matischen Pistole des Typs Heckler & Koch P30 ab, ehe er mit Schuss Nummer 135 sich selbst tötete. Philipp F.war selbst kurze Zeit Mitglied bei den Zeugen Jehovas, bis er ausstieg.

Amoklauf von Hamburg: Zeugen Jehovas leben nach Attentat in Angst

Der Anruf der Frau fällt in die Trauerzeit der Zeugen Jehovas nach der Tat von Hamburg. Die Tonaufnahmen sowie die Strafanzeige bei der Polizei liegen unserer Redaktion vor. Wer mit Dirk G. aus der Gemeinde in Essen spricht, hört immer noch den Schock aus diesen Märztagen in seiner Stimme. Er war derjenige, der diese Drohanrufe als Erster gehört hat. „Als ich die Sprachnachrichten gehört habe, musste ich sofort an den Fall von Hamburg denken und hatte auch Angst“, sagt er.

Auch in der sächsischen Kreisstadt Oschatz gab es einen Brandanschlag auf die Zeugen Jehovas.
Auch in der sächsischen Kreisstadt Oschatz gab es einen Brandanschlag auf die Zeugen Jehovas. © Jehovas Zeugen | Jehovas Zeugen

Die Polizei und der Staatsschutz kamen sofort, ein Polizeiwagen sicherte abends den nächsten Gottesdienst, die Gemeinde selbst machte eine Art Anti-Amok-Training. „Es ging einfach darum, dass wir uns unsicher fühlten und uns besser schützen wollten“, sagt G. Doch die Sorgen der Gläubigen wurden nicht weniger – auch, weil der Vorfall kein Einzelfall blieb.

Als zwei Frauen der Zeugen Jehovas, sie nennen sich selbst Glaubensschwestern, Ende Mai 2023 mit ihrem Trolley und Bibel-Lektüre am Hafen von Flensburg missionieren, kommt ein Paar auf sie zu. Erst denken die beiden Gläubigen, es komme so wie öfter mal, Kritik gepaart mit Beschimpfungen. „Ich dachte erst, das kennst du, das geht vorbei“, erzählt eine der Betroffenen heute. Doch dann wird der Mann laut, beleidigt die beiden, droht, er werde sie ins Hafenbecken schmeißen.

Nach Amoklauf in Hamburg: In ganz Deutschland gab es Vorfälle

Plötzlich habe er sich den Trolley der beiden geschnappt und ins Wasser geworfen. „Willst du hinterher?“, habe er gerufen. Die Situation eskalierte – und löste sich erst auf, als Passanten einschritten, sich zwischen das gewalttätige Paar und die Gläubigen stellten. „Ich habe gezittert“, sagt eine Beteiligte. Die beiden Frauen rufen die Polizei, wollen die Drohungen nicht tatenlos hinnehmen. Das Verfahren läuft heute noch.

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Auch im baden-württembergischen Gottmadingen soll ein Mann eine Woche nach dem Amoklauf von Hamburg gedroht haben, den Königreichssaal niederzubrennen oder in die Luft zu sprengen. Laut Anzeige soll er sich konkret auf das Verbrechen in Hamburg bezogen und gesagt haben, dass es noch viel zu wenig für die Zeugen Jehovas war und er nachlegen könnte. Laut Zeugenaussage sagte er: „Man soll euch alle erschießen!“

Ein Zettel mit einer makaberen Drohung an die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Nettetal.
Ein Zettel mit einer makaberen Drohung an die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Nettetal. © Zeugen Jehovas | Zeugen Jehovas

Essen, Würzburg, Flensburg, Gottmadingen sind nur einige Tatorte. Unserer Redaktion liegt eine detaillierte Auflistung von 154 Fällen vor. Körperliche Übergriffe, Vandalismus und Brandstiftung, Belästigung, Drohungen gegen Familienmitglieder, Gemeindemitglieder und Versammlungstreffen. Es ist eine Dokumentation des Hasses. Fotos, Mitschnitte und Briefe belegen einige Fälle, andere Fälle bestätigt die Polizei stichprobenartig auf Nachfrage unserer Redaktion.

Immer öfter sehen sich Gläubige Hass und Hetze ausgesetzt

Seit dem Attentat in Hamburg ist die Hetze gewachsen, in vielen Gemeinden in Deutschland. Nach bundesweit 20 Anzeigen von Zeugen Jehovas im Februar 2023 waren es nach dem Attentat in Hamburg nur im März 2023 mehr als doppelt so viele Vorfälle – vor allem in den Tagen nach der Tat traf der Hass auch andere Gemeinden der Zeugen Jehovas in Deutschland. Gemeindemitglied Dirk G. aus Essen sagt, Gläubige seien auf der Straße im Vorbeigehen angesprochen worden, „dass wir nach Hamburg die nächsten seien und Ähnliches“. So berichtet es auch eine „Schwester“ aus Flensburg.

Oft wächst nach Attentaten das Risiko von Nachfolgetaten. Es gibt immer wieder Trittbrettfahrer, Nachahmungstäter, die sich durch Berichterstattung über Gewalt getriggert fühlen, ihren eigenen Hass in Tat umzusetzen. Aber erklärt allein das die stärker werdende Hetze? Eine Recherche unserer Redaktion zeigt: Gläubige sehen sich zunehmend im Visier der Hasskriminalität, analog und digital – und das trifft nicht nur die Zeugen Jehovas.

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    „Juden werden dafür attackiert, weil sie Juden sind“, sagt Nils Lange vom Zentralrat der Juden. Im Jahr 2019 griff ein Neonazi die Synagoge in Halle an, tötete danach zwei Menschen. Nach den Terrorangriffen der Hamas in Israel Anfang Oktober ist es laut Zentralrat zu einem „explosionsartigen Anstieg antisemitischer Vorfälle“ gekommen. Laut einer aktuellen Umfrage hat jede dritte jüdische Gemeinde seit dem 7. Oktober antisemitische Angriffe erfahren.

    BKA sieht drastischen Anstieg antisemitischer Vorfälle

    „Unisono wird von dem psychischen Druck über Drohanrufe und Drohmails berichtet“, sagt Lange. Auch Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) weisen diesen drastischen Anstieg antisemitischer Straftaten aus. Insgesamt registrierten die Ermittler 3255 Straftaten mit dem „Oberangriffsziel Religionsgemeinschaft“ für das Jahr 2022. Die allermeisten richten sich gegen Juden und Muslime. Für 2023 liegen noch keine Auswertungen vor.

    Christen machen einen eher kleinen Teil der Betroffenen aus. Und doch nehmen auch sie mehr Hetze wahr. Exkremente in Weihwasserbecken und Beichtstühlen, Enthauptung von Christusstatuen, Beschädigung von Gebetsbüchern, so beschreibt die Deutsche Bischhofskonferenz (DBK) eine „wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den religiösen Gefühlen der anderen“. Oftmals lande dies nur als „Sachbeschädigung“ in den Akten der Polizei, hebt ein DBK-Sprecher hervor. Aus Diözesen in mehreren Bundesländern höre die Bischofskonferenz, dass es „vermehrt zu einschlägigen Vandalismen“ kommt.

    Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat zwar keine Angaben über Drohungen und Übergriffe, doch eine Sprecherin stellt fest: „In den sozialen Medien beobachten wir eine Zunahme von diffamierenden Äußerungen.“ Der Zentralrat der Muslime teilt auf Nachfrage mit, die Anzahl der Vorfälle von „antimuslimischem Rassismus“ liege derzeit bei etwa zwei bis drei pro Tag, eine „akute Zunahme“. Und das sind nur die registrierten Fälle.

    Auch Anschläge auf muslimische Einrichtungen nehmen zu

    Auch die Anschläge auf muslimische Einrichtungen und Moscheen haben laut Zentralrat zugenommen, 45 Angriffe waren es 2023, 29 im Jahr davor. 2020 tötete ein Rechtsextremist neun Menschen in Hanau, alle Opfer hatten Migrationsgeschichte. Den Polizeibehörden in mehreren Bundesländern zeigt sich ein ähnlich gefährlicher Trend. In Berlin sind laut Polizei die registrierten judenfeindlichen Delikte gestiegen, von 380 Fällen im Jahr 2022 auf 892 im vergangenen Jahr.

    Attentat auf Menschen mit Zuwandergeschichte in Hanau, Februar 2020: Ein Auto ist mit Thermofolie abgedeckt, neben dem Wagen liegen Glassplitter, der Tatort ist mit Polizei-Band abgesperrt.
    Attentat auf Menschen mit Zuwandergeschichte in Hanau, Februar 2020: Ein Auto ist mit Thermofolie abgedeckt, neben dem Wagen liegen Glassplitter, der Tatort ist mit Polizei-Band abgesperrt. © picture alliance/dpa | Boris Roessler

    Islamfeindliche Straftaten stiegen in der Polizeistatistik in einem Jahr von 103 auf 180. Das Landeskriminalamt in Baden-Württemberg sieht ebenfalls einen Anstieg beim „Angriffsziel Religionsgemeinschaft“: 2022 meldete die Polizei 288 Straftaten, 2023 wurden „Fallzahlen im hohen dreistelligen Bereich erfasst“. Islamfeindlich, antisemitisch, christenfeindlich – die Polizei in Bayern erfasste einen Anstieg von 434 auf 789 religionsfeindliche Taten innerhalb von einem Jahr. Vor allem jüdische und muslimische Gemeinden trifft der Hass.

    „Abstrakte Gefährdung“ der Religionsgemeinschaften

    Die Gewalt gegen Gläubige kann noch eine weitere Ursache haben: ein Anwachsen von Verschwörungsmythen, von pseudo-religiösen Ideologien, die ihr Feindbild oft in den „Etablierten“ sehen und hinter ihrer Macht einen „Geheimplan“ wittern. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie nahmen diese radikalen Ideen zu, immer wieder waren vor allem Juden Teil kruder Verschwörungserzählungen. Aber auch das Narrativ vom „großen Bevölkerungsaustausch“, der durch eine „Elite“ und ihre Migrationspolitik gezielt befördert werde, befeuert rassistische Vorurteile.

    Ohnehin erfassen Polizisten erst seit 2017 Straftaten gegen Christen als „politisch motivierte Kriminalität“. Zu den Übergriffen gegen Zeugen Jehovas haben die meisten Dienststellen keine eigenen Auswertungen. Kriminalämter, die auf Nachfrage Zahlen liefern, sehen auch hier einen Anstieg. Rheinland-Pfalz meldet zwei Vorfälle für das Jahr 2023, Nordrhein-Westfalen sieben, darunter Volksverhetzung, Beleidigung, Bedrohung. Sachsen registrierte fünf Fälle.

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    Zugleich sehen die Sicherheitsbehörden insgesamt „keine Erhöhung der Gefährdungslage“ für die Zeugen Jehovas, sprechen meist von einer „abstrakten Gefährdung“ für Religionsgemeinschaften. Dass Hass in Worten auch Taten folgen können, erfuhren die Zeugen Jehovas vor einem Jahr. Eine Glaubensgemeinschaft, die schon oft im Visier ihrer Gegner stand. Im sogenannten „Dritten Reich“ verweigerten sie den Hitlergruß und den Einsatz für die Wehrmacht, verteilten Flugblätter und mussten ins KZ. Früher in der DDR wurden sie verfolgt, noch heute in China. In Russland werden sie als „Terrorgruppe“ klassifiziert.

    Oft wurden die Zeugen Jehovas ausgegrenzt, oft grenzen sie sich selbst ab, haben ein schlechtes Image. Manche werfen ihnen vor, sie seien eine Sekte. Das liegt auch an den unzähligen Berichten über Aussteiger aus der Religionsgemeinschaft, die ihre eigene Bibelübersetzung nahezu wörtlich nimmt. Frühere Gemeindemitglieder gaben an, dass sich die Zeugen Jehovas streng an die urchristlichen Vorbilder halten, eher unter sich bleiben und missionieren. Der schwerste Vorwurf: Mit Aussteigern soll die Gemeinschaft sehr rigide umgehen.

    Oft wurden sie ausgegrenzt, oft grenzen sie sich selbst ab, haben ein schlechtes Image. Manche werfen ihnen vor, sie seien eine Sekte. Das liegt auch an den unzähligen Berichten über Aussteiger aus der Religionsgemeinschaft, die ihre eigene Bibelübersetzung nahezu wörtlich nimmt. Das ist die eine Seite.

    Zeugen Jehovas sind in Deutschland den Kirchen gleichgestellt

    In Deutschland werden die Zeugen Jehovas offiziell seit 2017 in allen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und somit den Kirchen gleichgestellt. Sie sind als Glaubensgemeinschaft vom deutschen Staat akzeptiert, anders etwa als „Scientology“, die von den Sicherheitsbehörden beobachtet wird. Und so übt die Gemeinde der Zeugen Jehovas ein Jahr nach dem Attentat auch Kritik. Gewalt gegen ihre Gläubigen werde „meistens bagatellisiert oder aufgrund bestehender Vorurteile entschuldigt“, sagt Stefan Steiner, Menschenrechtsbeauftragter der Religionsgemeinschaft.

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    Die Führung der Zeugen Jehovas spricht von „diskriminierender Berichterstattung“ – selbst nach dem Anschlag, sogar von einer „unverantwortlichen Täter-Opfer-Umkehr“. Dass der Attentäter von Hamburg selbst einstmals Zeuge Jehovas war, befeuerte Debatten um die Glaubensgemeinschaft in den Tagen nach dem Blutbad. Zugleich eröffnete sich den Ermittlern die Wahnwelt eines Narzissten, der auch Erzählungen von Verschwörungsideologen in seine Pamphlete mischte.

    Hetze und Todesdrohungen: Vor Gericht gibt es eine Geldstrafe

    Inwieweit der Vorwurf der Zeugen Jehovas gegen die Medien zutrifft, bleibt offen. Doch dass die Hetze wuchs, können sie belegen: In Ölbronn-Dürrn in Baden-Württemberg sagte eine Woche nach dem Attentat ein zuvor unbekannter Besucher bei einer Predigt: „Hab jetzt keine Waffe da, besorge mir eine, dann ballere ich drauf los!“ Zwei Tage später fand ein Mitglied der Religionsgemeinschaft im sächsischen Lichtentanne eine handschriftliche Notiz: „Schade das Du nicht in Hamburg warst!“

    Doch es habe nach der Tat auch Zuspruch gegeben, Mitleid und Trauer, berichten Gemeindemitglieder. Jetzt am Jahrestag wollen sie sich bedanken. Die Überlebenden treffen sich an diesem Sonnabend zu einer Andacht in ihrem neuen Gemeindesaal in Hamburg. Immerhin: Die Frau, die in Essen mit einem Anschlag gedroht hat, konnte die Polizei ermitteln. Am Amtsgericht lief ein Verfahren. Die Täterin wurde verurteilt, für ihre Hetze und die Todesdrohungen bekam sie eine Geldstrafe. Doch sicher fühlt sich die Gemeinde in Essen trotzdem nicht.