Hamburg. Die früheren Volksparteien CDU und SPD verlieren auch, weil sie sich verrannt haben. Wo ist der neue Gerhard Schröder?
In diesem Jahr ist etwas Historisches passiert: Seit Januar hat keines der großen Umfrageinstitute für die beiden früheren Volksparteien mehr einen Wert von über 50 Prozent gemessen. Der Wähler hat die großen Parteien, die die Bundesrepublik seit ihrer Gründung gut regiert haben, brutal geschrumpft. Und immer kleiner werden offenbar auch die Ansprüche in den früheren Volksparteien: Die CDU findet es schon prima, bei gut 30 Prozent zu liegen, und die SPD ist froh, sich bei gut 15 Prozent stabilisiert zu haben. Noch ambitionsloser als Deutschland sind nur noch ihre beiden prägenden Parteien.
Offenbar hat sich bis tief in den Mittelbau der Sozial- und Christdemokraten der Niedergang als Naturgesetz eingebrannt. Ausreden gibt es viele. Die alten Milieus? Dahin. Die Bindungskräfte? Völlig losgelöst. Die Entwicklung? Nicht zu stoppen – man schaue nur ins Ausland. Da offenbar immer mehr an diese Erzählung vom Niedergang glauben, scheinen die Volksparteien das Volk aus dem Blick zu verlieren und ihr Heil in der Nische zu suchen. Man konzentriert sich auf die Einhundertprozentigen. Und verliert weitere Prozente.
Die beiden Volksparteien haben sich verlaufen
Die SPD winkt leicht benebelt ein Cannabisgesetz durch, das die Uno, Eltern, Ärzte und Sicherheitsexperten empört. Die Union wiederum stoppt mitten in der Krise das Wachstumsförderungsgesetz.
Dabei gibt es Themen, die den Wählern auf den Nägeln brennen. Die Forderung, dass in Deutschland nie wieder ein Joint ausgehen darf, gehörte nie dazu – genauso wenig wie günstiger Diesel-Sprit für die Bauern. Was wollen die Wähler? Ein Anruf beim Demoskopen genügt: Sechs von zehn Deutschen (61 Prozent) sorgen sich, dass der Klimawandel ihre Lebensgrundlagen zerstört. 60 Prozent der Bürger beklagen, dass man ausgegrenzt wird, wenn man bei bestimmten Themen seine Meinung sagt.
53 Prozent fürchten um ihren Lebensstandard, fast ebenso viele verängstigt, dass zu viele fremde Menschen nach Deutschland kommen. Und jeder Zweite ist besorgt über einen Verlust der deutschen Kultur und Sprache. Ob die SPD da mit dem fröhlichen Gendern und der erleichterten Einbürgerung neue Wähler gewinnt? Ob die CDU, die beim Klimaschutz 16 Jahre tief geschlafen hat und weiter vor sich hin dämmert, die Menschen begeistert? Sind die Gefahr die neuen Populisten? Oder eher die Volksparteien, die ihre Ränder nicht mehr integrieren, sondern absprengen?
Vielleicht fehlen beiden Parteien die Quälgeister
Hat es der SPD genützt, Thilo Sarrazin loszuwerden und nun Gerhard Schröder ins Aus zu stellen? Hat die Union (und die Republik) gewonnen, als sie einst Alexander Gauland verjagt hat?
Das ist ja das Gute und Stabilisierende am Projekt Volkspartei: Sie integriert auch die Grenzgänger, bindet sie ein, deradikalisiert sie. Zugleich bringen diese ihre Themen in die Volksparteien. Man mag die Positionen und Einlassungen der Sarrazins und Maaßens geschmacklos und falsch finden; sie aber gar nicht mehr zu diskutieren dürfte der falsche Ansatz sein. Sonst würde die AfD nicht bei fast 20 Prozent stehen – und die Union nicht nur bei 30 und die SPD nicht nur bei 15 Prozent.
Die Angst vor der AfD lähmt Sozialdemokraten und Christdemokraten
Natürlich können Politiker nicht über jedes Stöckchen springen, dass der Wähler ihnen hinhält; mitunter wechseln die Themen schneller, als ein Grundsatzprogramm geschrieben ist. Aber 47 Prozent sind gegen die Cannabis-Freigabe, 64 Prozent wollen weniger Flüchtlinge aufnehmen, und 80 Prozent lehnen das Gendern ab. Die Ampel macht mitunter den Eindruck, demonstrativ gegen diese Umfragen anzuregieren.
Als Hendrik Wüst (CDU) in Sachen Migration eine „Allianz der Mitte“ anregte, verbat sich SPD-General Kevin Kühnert diese „taktlose“ Idee: „Keine Zugeständnisse an die immer radikalere AfD.“ Hmm. In besseren Zeiten sah sich die SPD als Neue Mitte – 1998 gewann Gerhard Schröder 40,9 Prozent.
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Nun kommt Sahra Wagenknecht, die die Sorgen der Bürger aufnimmt. Sie beklagt die Verengung des Meinungsspektrums, plädiert für wirtschaftliche Vernunft und Gerechtigkeit. Zuwanderung sei nur so lange eine Bereicherung, bis „der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert“. Für die SPD könnte Wagenknecht zum Waterloo werden: Im Juni stehen die Europa-Wahlen an, bei denen manche wenig Hemmungen haben, den Wahl- mit einem Denkzettel zu verwechseln. Mal sehen, wer stärker wird.