Hamburg. Wenn das Land nicht mehr richtig funktioniert und jeder nur noch seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt rückt, verlieren alle.
In diesen Tagen erinnere ich mich an ein altes Computerspiel, das wir einst im Chemieunterricht in der Schule ausprobieren durften. Es ging darum, ein Atomkraftwerk zu steuern. Das Spielziel war, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, zu lernen, dass die Kernspaltung eine supersichersaubere Sache sei. Obwohl wir uns alle Mühe gaben, in der Schaltzentrale größtmöglichen Unsinn zu verzapfen, schafften wir es nicht, bis zum Pausengong einen Super-GAU auszulösen. Dass das gar nicht so schwer ist, bewies dann kurz darauf die Betriebsmannschaft im sowjetischen Meiler Tschernobyl.
Die Lage im Land erinnert mich gerade an dieses Computerspiel. Ein jeder schiebt derzeit die Regler etwas weiter in den kritischen Bereich, bringt hier das Kühlwasser zum Kochen oder blockiert dort einen Durchlauf. Das alles geschieht im festen Glauben, dass die Gesellschaft das aushalten kann. Nach 75 Jahren hält man die Bundesrepublik offenbar für so stabil, dass sie auch den größten Unsinn erträgt.
Bauerndemo, GDL-Streik: Eine Maßlosigkeit bei Protesten und Streiks macht sich breit
Viele Bauern gefallen sich darin, pünktlich zum Wochenbeginn ganze Städte lahmzulegen, weil sie sich nicht ausreichend gewürdigt fühlen. Dass sie damit immer mehr Sympathien verspielen, ist ihnen egal. Die wild gewordene GDL zieht Millionen in ihren Kampf für die 35-Stunden-Woche. Was interessiert sie der Kollateralschaden bei Reisenden, im Bundeshaushalt, für Bahn und Verkehrswende, wenn sie am Ende weniger arbeiten müssen? Der letzte Streik ist noch nicht verdaut, da ziehen die nächsten Arbeiterführer in den Arbeitskampf, dieses Mal die von Ver.di.
Auch wenn die Klimakleber nicht mehr kleben wollen – auch ihnen war stets herzlich egal, was sie mit ihren Aktionen anrichteten, wenn sie Kreuzungen oder Flughäfen blockierten. Weder halfen sie dem Klimaschutz noch der wichtigen Sache der Verkehrswende, aber sie haben sich immerhin selbst ein gutes Gefühl verschafft.
Wir sehen nur noch das Negative und übersehen das Positive
Die neuen Protestformen, die jedes Maß und jede Mitte verlieren, legen sich krisenverstärkend über ein Land, das schon länger nicht mehr so funktioniert, wie man es über Jahrzehnte kannte. Die unsichere Weltlage hat die deutsche Gemütlichkeit erschüttert. Aber statt anzupacken und sich unterzuhaken, protestiert man lieber und meckert vom heimischen Sofa.
Was gut klappt – wie etwa der rekordverdächtig schnelle Ersatz von russischem Erdgas –, ist eine Selbstverständlichkeit und wird achselzuckend zur Kenntnis genommen. Was hingegen nicht funktioniert, wird angeprangert und lauthals beklagt.
Nun rächen sich die Versäumnisse der Merkel-Ära
Natürlich muss das Land selbstkritisch sein. Jetzt rächen sich die katastrophalen Versäumnisse der vergangenen 15 Jahre: Weder hat das Land seine Infrastruktur ausreichend gepflegt noch sich vernünftig auf den demografischen Wandel vorbereitet. Stattdessen hat es der in die Jahre gekommenen Infrastruktur und den auf Kante genähten Ämtern und Behörden, Städten und Kommunen noch zusätzliche Belastungen aufgehalst.
Binnen zehn Jahren hat das Land seine Einwohnerzahl von 80,7 auf 84,7 Millionen gesteigert – allein durch Zuwanderung. Das System steht unter Stress. Und die Politik reagiert zu langsam und zu halbherzig, um diesen Systemstress abzumildern. Tiefenentspannt sind nur die Rechtspopulisten. Sie lehnen sich zurück – sie ernten, ohne zu säen.
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Natürlich ist da die Politik gefordert. Aber sie allein wird es nicht richten können. Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn nicht jeder nur an sich, sondern zur Abwechslung auch mal an alle denkt. Welche Konsequenzen hat mein Handeln? Was kann ich zum Gelingen beitragen, statt das Misslingen zu forcieren? Als die Politik noch große Rhetoriker kannte, brachte es US-Präsident John F. Kennedy auf den Punkt: „Und deshalb, meine Mitbürger: Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“