Hamburg. Der Ukraine-Krieg und die Suche nach Lösungen zeigen einmal mehr, dass es nicht nur eine Meinung geben darf. Beginnen wir zu diskutieren.
Das Büchlein ist aus der Zeit gefallen – und zwar doppelt. Es ist ein politischer Briefwechsel zwischen Hamburg und Freiburg, zwischen alter Friedensbewegung und neuer Zeitenwende, zwischen zwei alten Freunden, die sich einig sind, uneins zu sein. Und etwas tun, was leider aus der Mode geraten ist: Der Journalismus-Professor Michael Haller und der Politologe Hans-Peter Waldrich debattieren so leidenschaftlich wie freundschaftlich über den Ukraine-Krieg.
Sie tun das nicht auf 140 Zeichen mit steilen Thesen und effektheischenden Zuspitzungen, sondern jeweils auf rund zehn Buchseiten mit abwägenden Argumenten, philosophischen Verweisen und historischen Hypothesen. Etwas sperrig lautet der Titel „Schuld, Verantwortung und Solidarität: Eine Kontroverse über Russland, Deutschland und die Nato im Ukrainekrieg“. Doch wer sich die Mühe macht, hineinzulesen, wird belohnt.
Weisheiten wider das mediale Wettrüsten
In einer Zeit, in der die schrillsten Forderungen den größten Applaus bekommen, hebt es sich ab. Derzeit erlebt die Republik ein mediales Wettrüsten zwischen Anton Hofreiter (Grüne), Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Roderich Kiesewetter (CDU). Letzterer hatte zuletzt vorgelegt und gefordert: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden.“ Wer die meisten Waffen wünscht, der heftigsten Eskalation das Wort redet, darf sich auch des Beifalls der Leitartikler sicher sein.
Der kritische Journalismus zieht sich darauf zurück, Olaf Scholz zu kritisieren – weil er angeblich zu zögerlich, zaudernd, zuwartend ist. Dass die Bundesrepublik längst der zweitgrößte Financier des ukrainischen Abwehrkampfes ist, geht in der Fülle der plappernden Podcasts, medialer Möchtegern-Militärstrategen und redaktioneller Lagezentren unter.
Waldrich demonstriert mit Wagenknecht und Vad
Wie schön ist es da, Widerworte zu bekommen, Zweifel zu lesen, Hintergründe zu erfahren. Gerade in Zeiten des Krieges benötigen die Menschen ein vielschichtiges Bild, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Leider bekommen sie allzu oft nur noch einen Comicstrip präsentiert, als kämpften im Osten Europas Elben gegen Orks.
Hans-Peter Waldrich ist ein Vertreter der Friedensbewegung – er stand mit auf der Bühne der großen Friedensdemo in Berlin, die schnell durch den medialen Kakao gezogen wurde: Denn Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer waren auch dabei. Damals ebenfalls an seiner Seite: Erich Vad, ehemaliger Brigadegeneral und militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Dass Vad nur einer von vielen Militärs ist, die vor einer Ausweitung des Konflikts warnen, bewegt die Republik wenig. Auch die Aussagen von Eberhard Zorn, bis 2023 Generalinspekteur der Bundeswehr, oder des früheren Nato-Generals Harald Kujat nimmt kaum einer ernst. Die Öffentlichkeit folgt interessanterweise eher denen, die einst den Wehrdienst verweigert haben und bis 2022 die Bundeswehr nur als olives Sparschwein betrachteten.
Der Briefwechsel der beiden Kriegskinder ist eine echte Debatte
Der Briefwechsel der beiden Kriegskinder ist eine echte Debatte – der friedensbewegte Waldrich warnt vor der Eskalation und wirft dem Westen vor, „apokalypseblind“ geworden zu sein. Er zitiert den Satz, die nukleare Abschreckung sei „das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist“. Haller ist ganz anderer Meinung, verweist auf das Völkerrecht und wirft den westlichen Staaten unzureichende militärische Hilfeleistung vor, die den Krieg längst ohne Not in die Länge gezogen hätte.
Beide machen Punkte, beide regen zum Nachdenken an und füllen die intellektuelle Leere, die sich nach zwei Jahren Krieg ausbreitet. Dabei gibt es so viel zu diskutieren: Halten wir, wie vielleicht die USA anno 1915, den Krieg für eine regionale Angelegenheit und taumeln wie Schlafwandler in einen Großkonflikt? Warum schnüren wir nun das 13. Sanktionspaket, nachdem uns die vorangegangenen zwölf vielleicht mehr geschadet haben als Russland? Wieso versuchen wir nicht, einen Keil zwischen die Oligarchen und den Kreml zu treiben? Warum liefern wir immer mehr Waffen, diskutieren aber kaum die Frage, warum 600.000 Ukrainer nach Europa geflohen sind statt zu kämpfen. Und warum wir dafür noch Anreize setzen?
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Allein diese Fragen spalten Deutschland in verfeindete Meinungslager. Dieser unselige Krieg geht aber alle an. Kommen wir in eine echte Debatte, die bei allen Unterschieden wertschätzend bleibt. Haller und Waldrich zeigen, wie es geht.