Hamburg. 81-Jährige starb noch an der Unfallstelle. Zeuge ist vor Gericht von ihrem Schicksal sehr berührt. Hat Fahrer den Crash nicht bemerkt?

Vielleicht war Magda T. (Name geändert) auf dem Weg zum Einkaufen. Vielleicht wollte sie auch eine Freundin besuchen. Was auch immer die 81-Jährige in jenen Mittagsstunden des 25. Oktober 2022 vorhatte: Sie kam dort nie an. Die Seniorin wurde unterwegs von einem Lkw erfasst, als sie gerade auf einem Zebrastreifen eine Straße überqueren wollte, und dann einige Meter mitgeschleift. Die Hamburgerin starb noch an der Unfallstelle.

Dieses Unglück an einem Herbsttag vor anderthalb Jahren hat jetzt ein juristisches Nachspiel. Wegen fahrlässiger Tötung und Unfallflucht muss sich ein 48-Jähriger im Prozess vor dem Amtsgericht verantworten. Enis G (Name geändert) wird vorgeworfen, mit seinem Lkw während eines Abbiegevorgangs von der Hegestraße nach links in den Lehmweg (Hoheluft-Ost) nicht ausreichend lange in den Frontspiegel geschaut, die Seniorin erfasst und getötet zu haben.

Prozess Hamburg: Hätte der Lkw-Fahrer die Frau rechtzeitig sehen können?

Im Prozess geht es nun darum zu ergründen, ob der Angeklagte die Frau auf dem Zebrastreifen rechtzeitig hätte sehen und den Unfall und damit ihren Tod hätte vermeiden können. Davon geht die Staatsanwaltschaft aus. Außerdem stellt sich die Frage, ob er eine Unfallflucht begangen hat, sprich: ob er überhaupt wahrgenommen hat, dass sein Fahrzeug die 81-Jährige erfasste – und er trotzdem weiterfuhr. In der Anklage heißt es, der Lkw habe einen „kleinen, aber merklichen Hüpfer“ gemacht.

Der 48 Jahre alte Angeklagte (vorne links) mit seinem Verteidiger Oliver Klostermann im Gerichtssaal
Der 48 Jahre alte Angeklagte (vorne links) mit seinem Verteidiger Oliver Klostermann im Gerichtssaal © Bettina Mittelacher | Bettina Mittelacher

Der Angeklagte selbst, ein schmaler Mann mit ernsten Gesichtszügen, schweigt zu den Vorwürfen. Was sein Verteidiger für ihn vorträgt, bedeutet im Ergebnis, dass Enis G. nicht bestreitet, den Lkw, der die 81-Jährige erfasste, gefahren zu haben – und dass ihm der Tod der Seniorin sehr leidtue. Allerdings habe der Hamburger von dem Unfall auf dem Zebrastreifen selbst nichts mitgekommen, so Verteidiger Oliver Klostermann, und auch deutlich später überhaupt davon erfahren.

Erst ging er noch einkaufen. Dann meldete sich die Polizei

Dies sei erst dann geschehen, nachdem der Berufskraftfahrer seine Lkw-Tour beendet, das Fahrzeug auf dem Betriebshof seines Arbeitgebers abgestellt habe und noch mit Frau und Tochter einkaufen gewesen sei. Da habe ihn ein Anruf seines Chefs erreicht, der dem 48-Jährigen mitgeteilt habe, dass die Polizei mit ihm sprechen wolle. Enis G. habe die 81-Jährige „unstreitig zu keinem Zeitpunkt gesehen“, bilanziert Anwalt Klostermann.

Womöglich sei es Enis G. deshalb auch „nicht in den Sinn gekommen“, noch einmal in den Frontspiegel zu sehen. Allerdings sei es „rechtlich unklar“, ob er überhaupt in den Spiegel hätten sehen müssen. Der Verteidiger verweist auf den sogenannten Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr.

Verteidiger: Autofahrer dürfen erwarten, dass andere den Verkehr nicht gefährden

Dieser besage, so Klostermann, dass sich ein Verkehrsteilnehmer, der sich selbst regelkonform verhalte, „nicht vorsorglich auf alle möglichen Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer einzustellen“ braucht.

Vielmehr dürfe er „erwarten“, dass andere die Vorschriften beachten und „den Verkehr nicht gefährden“. Es bestehe keine Verpflichtung eines Fahrers, vor einem Zebrastreifen „immer zu halten“, führt der Anwalt weiter aus. Vielmehr hätten Fahrzeuge Fußgängern, die „den Überweg erkennbar benutzen“ wollten, das Überqueren der Straße zu ermöglichen und müssten, wenn nötig, warten. Auch ein Fußgänger dürfe „sich nicht bedingungslos darauf verlassen“, dass ihm von Auto- und Lkw-Fahrern der Vorrang eingeräumt werde.

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Was sich wirklich ereignete, soll nun durch eine Vielzahl von Zeugenaussagen zu einem schlüssigen Bild zusammengefügt werden. Für einen Hamburger, der das Unglück von seinem Balkon aus beobachtete, hat das Geschehen neben den objektiven Aspekten auch eine emotionale Note. Als der 76-Jährige den Moment schildert, in dem die Rentnerin von dem Lkw erfasst wurde, stockt die Stimme des Zeugen und er wischt sich Tränen aus den Augen. „Dann hat er sie mitgeschleift“, erzählt der Hamburger.

Prozess Hamburg: Zeuge ist von dem Schicksal der Seniorin sehr berührt

Vorher habe er beobachtet, wie die Frau auf den Zebrastreifen ging, einige Schritte machte, angehalten habe und dann erneut weitergangen sei. Als die Seniorin direkt vor dem Lkw war, so hat es der Zeuge in Erinnerung, habe sich das Fahrzeug in Bewegung gesetzt und sei langsam abgebogen. Ein erneutes Anhalten habe er nicht beobachtet.

Eine 35-Jährige erinnert sich an ein „Zögern“ der Seniorin auf dem Zebrastreifen. Sie gehe davon aus, dass der Fahrer die Fußgängerin übersehen habe, sagt die Zeugin. Dann habe der Lkw „einen kleinen Satz“ gemacht. „Ich könnte mir vorstellen, dass das von außen doller wirkt als von innen.“ Der Prozess wird fortgesetzt.