Hamburg. Maryam Blumenthal will auch auf diesem Weg junge Wähler erreichen. Berater: Demokratische Kräfte dürfen TikTok nicht AfD überlassen.

Maryam Blumenthal war gerade erst bei TikTok gestartet, da wollte sie es schon fast wieder sein lassen. Die Hamburger Grünen-Landesvorsitzende veröffentlichte Anfang Januar auf dem Onlineportal ihr erstes Kurzvideo. Darin verweist sie auf Recherchen des Medienhauses „Correctiv“ zu einem Treffen radikaler Rechter am 25. November in Potsdam, an dem auch AfD-Funktionäre und einzelne Mitglieder der CDU sowie der sehr konservativen Werteunion teilgenommen hatten. Dort soll ein „Masterplan“ diskutiert worden sein für die sogenannte Remigration – eine Massenverdrängung von Menschen, die nach rechtsextremer Ideologie nicht zu Deutschland gehören und das Land verlassen sollen.

„Unsere Demokratie ist in Gefahr“, sagt Blumenthal bei ihrer TikTok-Premiere, für die sie einen privaten Account anlegte. „Mich erschreckt, wie viele Menschen auf die Hetze der Rechten gerade reinfallen.“ Wer denke, die AfD könne eine Alternative sein, irre. „Wacht auf, schaut hin, stellt euch gemeinsam neben uns demokratische Parteien, seid mit uns wehrhaft“, appelliert sie.

Videoportal TikTok: Zuspruch, aber auch Spott und Beleidungen für Hamburgs Grünen-Chefin

Das Video wird mehr als 2300-mal angesehen, erhält 226 Likes, also „Gefällt mir“-Klicks. Unter den 91 Kommentaren findet sich Zuspruch, doch vor allem sammeln sich dort Spott und Beleidigungen. Ein Nutzer schreibt: „Landesvorsitzende der Grünen in Hamburg, Migrantin aus dem Iran! Ich glaube, ich muss wegziehen aus Hamburg.“ Dazu postet er blaue Herzen – blau verwendet die AfD als Parteifarbe. Ein anderer mokiert sich darüber, dass Blumenthal gendergerechte Sprache verwendet und schreibt: „Schon mal voll krank! Ich fühle mich wohl bei der AfD!“ Ein dritter bezeichnet Blumenthal als „Antifa Gesocks“.

Ist ihr Engagement bei TikTok verschenkte Zeit? Blumenthal ringt mit sich, so erzählt sie es, nimmt dann aber ein zweites Video auf, stellt sich dafür vor das Rathaus, Sitz der Bürgerschaft, deren Mitglied sie ist. „Wir sind eine offene Stadt, eine vielfältige Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern und über einem Drittel davon mit einer Migrationsgeschichte – wir sind mehr“, sagt sie und wirbt dafür, an der ersten großen Hamburger Kundgebung gegen Rechtsextremismus am 19. Januar teilzunehmen. „Wir sehen uns!“

Politikberater: „Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, TikTok nicht der AfD zu überlassen“

Dieses Video wird mehr als 7700-mal angesehen und erhält 1021 Likes – viermal so viele „Gefällt mir“-Klicks wie Blumenthals erster Beitrag. In den 55 Kommentaren dominiert der Zuspruch. Kurz darauf sei sie von einem jungen Grünen-Mitglied angesprochen worden: „Hey, Maryam, du hast jetzt einen TikTok-Account.“ Für die Hamburger Grünen-Landesvorsitzende ein weiteres Zeichen, dass sie über das Portal auch zu Menschen fernab der AfD durchdringt. „Da habe ich gedacht: Diesen Rückenwind nehme ich mit“, erzählt Blumenthal.

Es sei „begrüßenswert“, dass Blumenthal bei TikTok aktiv sei, sagt der Berliner Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje. „Insbesondere die Grünen sind bislang zu zögerlich bei der Nutzung von TikTok.“ Auf dem Portal erreiche man die jüngsten Wählerinnen und Wähler. „Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, TikTok nicht der AfD zu überlassen.“ Die Partei habe dort bisher eine „hegemoniale Stellung“, so Hillje. Zwei Drittel der 14- bis 19-Jährigen nutzten die Plattform. „Wenn die anderen Parteien nicht nachziehen, dann könnte im schlimmsten Fall aus der Generation TikTok die Generation AfD werden.“

„Parteien müssen auf TikTok nicht ihre Politik ändern, aber deren Vermittlung“

Skeptiker sagen, TikTok zeige bevorzugt Polemik und Radau; es mache keinen Sinn, dort seriöse politische Inhalte zu präsentieren. „TikTok erfordert allem voran eine zielgruppengerechte Ansprache“, sagt Hillje. „Es ist ein Irrglaube, dass demokratische Politik und TikTok inkompatibel seien. Statt um Radau geht es um Relevanz für junge Menschen.“

Die Themen, der Ton und die Ästhetik in Kurzvideos müssten den Interessen und Kommunikationsgewohnheiten junger Menschen entsprechen. „Parteien müssen auf TikTok nicht ihre Politik ändern, aber deren Vermittlung“, sagt der Politikberater. „Junge Menschen wollen so angesprochen werden, wie sie auch selbst sprechen. Häufig liegt bei demokratischen Parteien das Missverständnis vor, Emotionalisierung sei automatisch Entsachlichung. Menschen denken aber auch über Politik emotional.“

Landesvorsitzende der Hamburger SPD sind nicht bei TikTok

Abgesehen von der Hamburger AfD wirken die Hamburger Parteien mit Blick auf TikTok noch eher zögerlich. Von den Spitzen der rot-grünen Koalition in Hamburg ist Blumenthal eine Vorreiterin auf dem Portal. Die SPD-Landesvorsitzenden Melanie Leonhard, Niels Weiland und ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter sind nicht bei TikTok aktiv. Von den SPD-Abgeordneten in der Bürgerschaft veröffentlichen bisher Baris Önes und Markus Schreiber Beiträge bei TikTok. Es komme aber womöglich bald mehr von den Hamburger Sozialdemokraten, heißt es aus der Partei.

Nicht bei TikTok sind bisher CDU-Oppositionsführer Dennis Thering und die anderen Mitglieder des CDU-Landesvorstands; aus der Fraktion ist dort auch kein Abgeordneter vertreten. Dasselbe gilt für die Liberalen: Der Landesvorstand der Hamburger FDP habe sich gegen ein Engagement bei TikTok entschieden, weil es sich um einen chinesischen Dienst handelt: „Wir wollen nicht auf der Plattform eines autokratischen Regimes unterwegs sein“, sagt Hamburgs FDP-Chefin Sonja Jacobsen.

Umtriebig auf TikTok ist hingegen schon Linken-Co-Fraktionschefin Cansu Özdemir. Sie bekommt dort viel Zuspruch insbesondere für Statements, in denen sie sich mit der AfD auseinandersetzt. Özdemir folgen auf dem Portal derzeit 5701 Nutzer – das sind weit mehr als bei Maryam Blumenthal, die auf 374 Follower kommt. Beide Politikerinnen liegen allerdings deutlich hinter der Hamburger AfD-Fraktion, die mehr als 24.400 Follower hat. Letztere veröffentlicht bei TikTok fast ausschließlich Reden, von denen etliche hohe Zugriffszahlen erreichen.

Blumenthal: „Wir lassen uns unsere Heimat nicht nehmen“

Einen Redeausschnitt zeigt auch Maryam Blumenthals viertes TikTok-Video. Sie hat es mit dem Titel überschrieben: „Wir lassen uns unsere Heimat nicht nehmen.“ Es zeigt die Grüne in der Bürgerschaft, dort sagt sie: „Ich bin 38 Jahre alt, in diesem Land lebe ich seit 33 Jahren. Ich habe hier gelernt, geweint, gefeiert, getrauert, geliebt.“ Dann erzählt Blumenthal, die als Lehrerin einer Stadtteilschule arbeitet, wie es ihr geht damit, wenn Rechte über die sogenannte Remigration sprechen. Sie lebe „mehr denn je mit dem Gedanken, dass es doch eigentlich egal sei, was ich mache – ein Teil der Gesellschaft wird mich nie akzeptieren“. Sie fordert Widerstand gegen Rechtsextremismus in „maximaler Lautstärke“.

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Die Abgeordnete und Grünen-Landesvorsitzende sagt, sie wolle auch stärker ins Gespräch kommen mit Unterstützern der AfD, die strikt gegen die Politik der Ampel in Berlin oder der Koalition aus SPD und Grünen in Hamburg seien; sie wolle auch mit Bürgern diskutieren, die sich fragten, ob zumindest bestimmte Aussagen der AfD und Positionen nicht gerechtfertigt seien. „Ich sehe es mit Sorge, dass sich einige AfD-Sympathisanten nicht trauen, offen darüber zu sprechen, sondern sich stattdessen nur anonym im Netz äußern“, sagt Blumenthal.

Bei den persönlichen Diskussionen, die sie bisher mit Sympathisanten der AfD in Hamburg führte, habe sie gegen Ende der Gespräche häufig Verwunderung erlebt nach dem Schema: „Ach, ihr Grüne wollt uns gar nicht arm machen, nicht unsere Rente kürzen, nicht Einfamilienhäuser verbieten? Das hatte ich anders verstanden.“

Ihren achten TikTok-Beitrag hat Blumenthal zusammen mit dem Hamburger Grünen-Co-Landesvorsitzenden Leon Alam produziert. Sie plant eine kleine Videoreihe, in der sie über das AfD-Programm aufklären möchte. Ihr Engagement bei TikTok will sie fortsetzen – „bis auf Weiteres“.