Hamburg. Deutschland hat seine Außenpolitik moralisiert – und die Diplomatie vernachlässigt. Dabei wird sie mehr denn je benötigt.

„Die Welt ist ein Irrenhaus. Und hier ist die Zentrale.“ Der Spruch klebte einst zum Verdruss aller Altphilologen am Schwarzen Brett in meinem Klassenzimmer. 35 Jahre später scheint der erste Teil des Spruchs Wirklichkeit geworden zu sein. Zwei Daten beschreiben dieses Jahrzehnt, in dem die Menschheit den Kurs geändert hat und offenbar wieder Richtung Steinzeit marschieren möchte.

Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen und alle Regeln gebrochen, die über Jahrzehnte in Europa galten. Am 7. Oktober 2023 haben Hamas-Barbaren rund 1200 Zivilisten in Israel niedergemetzelt. Die Welt, sie ist ein Irrenhaus.

Zwischen Gaza und der Ukraine: Eskalation als Kern der neuen Politik

Und wie reagieren wir darauf? Verstört, empört, fassungslos. Die beiden Ereignisse sind grundstürzend. Aber haben wir die richtigen Schlüsse daraus gezogen? Das darf man bezweifeln. Vorsicht zumindest ist angebracht, wenn sich im politischen Diskurs plötzlich ganze Parteien um 180 Grad drehen. Drolligerweise werden ausgerechnet die Politiker, die mithalfen, die Bundeswehr fast vor die Wand zu fahren, nun besonders deutlich.

Karl-Theodor zu Guttenberg, der 2011 die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt hatte, hält es nun für „unsere verdammte Pflicht“, uns auf einen Angriff Putins einzustellen. Ursula von der Leyen, die als Nachfolgerin 2014 für Kitas in den Kasernen gekämpft hat, fordert heute, „die Ukraine bestmöglich zu unterstützen“. Je erfolgreicher sich die Ukraine verteidige, „desto sicherer sind wir in Europa“. Die Eskalation als Kern der neuen Politik.

Demnach müsste Europa mit jeder Waffenlieferung und Aufrüstung sicherer geworden sein. Zweifellos waren wir Deutsche vielleicht naiv, zu friedensverliebt. Aber müssen wir deshalb jetzt immer lauter dem Krieg das Wort reden? Noch vor wenigen Jahren waren wir stolz, Distanz zum Krieg zu halten und Vermittler zu sein. Wir fühlten uns als eine große Schweiz. Heute verstricken wir uns immer tiefer im Morast des Krieges.

Die Versprechen, schwere Waffen beenden den Krieg, waren falsch

Blicken wir nüchtern auf den Verlauf in der Ukraine, müssen wir konstatieren: Der erhoffte Sieg der Ukraine lässt sich weder herbeiwünschen noch herbeiliefern. Derlei hatten wir beim Export von Leopard-Panzern gehört, von Kampfflugzeugen und hören es nun bei Taurus-Marschflugkörpern. Die Waffenhilfe soll der Ukraine schnell zum Sieg verhelfen und den Krieg verkürzen. Das Gegenteil ist richtig: Mit jedem Tag fallen weitere Soldaten, werden weitere Landstriche verwüstet, wird weiterer Hass gesät.

Das Scheitern dieser Politik erkennen wir nicht einmal, weil wir Weltpolitik auf eine Frage der Moral heruntergekürzt haben. Dementsprechend ist entscheidend, was wünschenswert, aber nicht, was machbar ist. Jeder wünscht sich eine Niederlage des Aggressors; realistischer wird sie dadurch nicht. Wir haben hehre Ansprüche, wunderbare Ziele, aber scheitern an der Realität. Die Diplomatie eines Hans-Dietrich Genscher, der auch mit Schurken sprach, ist heute fast unmöglich. Außenpolitik wird zur Verlängerung einer innenpolitischen Schaufensterdebatte. Wer hierzulande gut aussehen will, fordert extra viel. Leider erreicht er meist wenig.

Die Moralisierung der Außenpolitik führt zum Verdrängen der Wirklichkeit

Die Moralisierung der Außenpolitik liegt seit einem Vierteljahrhundert im Trend. Schon Joschka-Fischer drückte die deutsche Beteiligung an den Nato-Angriffen auf Serbien mit dem „Auschwitz“-Argument durch. Die gesamte desaströse US-Außenpolitik der letzten Jahrzehnte gründet auf dem moralischen Anspruch, recht zu haben, die eigenen Ideen zu verbreiten und Interessensphären auszuweiten.

Es waren die US-Neokonservativen, die im Mittleren Osten den Teufel mit dem Beelzebub vertrieben haben. Im Irak wurde der Diktator Saddam Hussein gestürzt, in Libyen Muammar al-Gaddafi, in Afghanistan die Taliban. Der Regimewechsel hat geklappt – mit einem Schönheitsfehler. Das nächste Regime wurde nicht besser. Das sollten alle die bedenken, die schon vom Regierungswechsel in Moskau träumen.

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Was bedeutet das? Wir müssen die Di­plomatie wiederbeleben und die Wirklichkeit in den Blick nehmen. Wir müssen lernen, dass jeder Krieg eine Vorgeschichte hat, um fortan die Eskalation zu verhindern. Und wir dürfen uns niemals auf die Frage konzentrieren, wie eine Seite den Krieg, sondern wie alle den Frieden gewinnen können. Letzteres gilt übrigens auch für den Krieg im Nahen Osten. Die Welt ist ein Irrenhaus. Aber Deutschland sollte nie mehr eine Zentrale sein.