Hamburg. Der Medienexperte Michael Haller verteidigt das Buch von Richard David Precht und des Soziologen Harald Welzer gegen Kritik.
Seit mehreren Wochen führt das medienkritische Buch des Philosophen Richard David Precht und des Soziologen Harald Welzer die „Spiegel“-Bestsellerliste Sachbuch an. Dabei fielen die Rezensionen sehr kritisch aus. Der Hamburger Michael Haller kennt „die Medien“ vielleicht besser als jeder andere Deutsche.
Seit Jahrzehnten ist die „vierte Gewalt“ sein Forschungsschwerpunkt: Er war von 1993 bis 2010 Professor für Allgemeine und Spezielle Journalistik am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und übernahm vor sechs Jahren die wissenschaftliche Leitung des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK). Ein Gespräch über Stärken und Schwächen des Buches – und eine notwendige Debatte.
Hamburger Abendblatt: Das Buch „Die vierte Gewalt“ steht seit Wochen in den Bestsellerlisten – ein Zeichen dafür, dass das Buch so gut oder das Unbehagen mit den Medien so groß ist?
Michael Haller: Dieses Unbehagen ist weit verbreitet. Und viele Menschen glauben offenbar, die beiden Verfasser könnten das komplizierte Thema „Medienkrise“ so vereinfachen, dass man es versteht. Im Vereinfachen besitzen beide Autoren ja viel Expertise. Zudem half ihre Popularität beim Buchverkauf. Und nicht zuletzt sorgte der große Medienrummel für Aufmerksamkeit. Viele denken vielleicht, dass die Autoren ihre Finger in die Wunde gelegt haben, wenn so viele Medienleute so empört aufschreien.
Wie würden Sie das Buch als Medienexperte beurteilen?
Haller: Es nimmt die Sicht der Medienkonsumenten ein. Es beschreibt und analysiert, wie große Teile des Publikums die sogenannten Leitmedien erleben. Es zeigt also die Außenperspektive, die Sicht besorgter Mediennutzer und nicht diejenige der Journalisten oder der Medienwissenschaftler. Und diese Außensicht wäre eigentlich für die Medienmacher aufschlussreich. Stattdessen ziehen viele Medienjournalisten über die kleinen Irrtümer und Sachfehler her, die es in dem Buch auch gibt. Ich finde dies sehr bedauerlich.
Mit Losungen wie „Vierte-Gewalttäter“ haben es sich Precht und Welzer ein wenig selbst zuzuschreiben ...
Haller: Beide sind nebenbei auch Polemiker, die gern zugespitzt formulieren, das ist nichts Neues. Man kann solch eine Übertreibung ablehnen. Aber deswegen das Buch zerreißen? Das erinnert mich an das Bild vom Rumpelstilzchen.
Sie meinen Reaktionen von Journalisten, wonach die Autoren nicht mehr weit entfernt von „dubiosen Montagsdemonstrationen“ beziehungsweise „endgültig im Schwurbellager“ angekommen seien?
Haller: In der Psychologie spricht man vom Abwehrmechanismus. In ihrem Selbstwertgefühl angeschlagene Menschen benutzen diesen Mechanismus, um kritische Einwände, vor allem das Infrage-gestellt-Werden abzuwehren. Wenn wir dies auf den aktuellen Journalismus übersetzen, dann könnte es so sein, dass die Medienmacher der substanziellen Kritik ausweichen, indem sie die Kritiker lächerlich zu machen versuchen. Die von Ihnen zitierten Etikettierungen dienen dem Zweck, die Argumente abzuwehren, indem man die Autoren als unglaubwürdig hinstellt.
Wo landen Precht und Welzer denn Treffer?
Haller: Aus medienwissenschaftlicher Sicht trifft eine ganze Reihe von Beobachtungen zu. Nehmen wir die drei großen Krisenthemen – die Flüchtlingswelle 2015/16, die Corona-Pandemie und jetzt das Verhältnis zu Russland seit dem Krieg in der Ukraine. Jedes Mal treten die großen Informationsmedien mit dem Anspruch auf, die einzig richtige und moralisch legitime Sicht zu vertreten. Natürlich kommen auch Gegenpositionen zu Wort, man will ja Meinungsvielfalt demonstrieren. Doch die in den Medien vorherrschende Perspektive entspricht der rot-grün-gelben Politik wie auch den militärpolitischen Zielen des Westbündnisses. Abweichende Positionen werden verschwiegen oder ausgegrenzt und lächerlich gemacht.
Aber Welzer und Precht kamen doch in vielen Talkshows zu Wort ...
Haller: Es geht hier nicht um das Talk-Gequassle, sondern um die Orientierungsleistung der Newsmedien. Precht und Welzer sagen, dass die tonangebenden Medien ihre für die Demokratie bedeutsame Funktion aus den Augen verloren haben, nämlich den öffentlichen Diskurs zu moderieren und darin integrativ zu wirken. Beide weisen zu Recht darauf hin, dass rund ein Drittel der Erwachsenenbevölkerung den Informationsmedien misstraut. Von daher suchen viele Enttäuschte in den Blasen des Internets nach Gleichgesinnten und betreiben Vorurteilsbestätigung. Mit anderen Worten: Die politische Öffentlichkeit als Diskursraum zerfällt. Aus meiner Sicht zutreffend ist auch die These der Autoren, dass die journalistischen Medienmacher sich von den um Aufmerksamkeit buhlenden Wichtigtuern der Social-Media-Plattformen haben anstecken lassen. Ob Corona-Infektion oder Energiekrise: Wenn es um vermeintliche Gefahren geht, grassiert der Überbietungsjournalismus. Die Medien wollen Reichweite erzeugen, und das geht leichter mit der Produktion von Angst und Panik als mit solide recherchierten Nachrichten.
Besondere Kritik üben die Autoren an der Twitter-Fixierung. Da wird „relevant“, was trendet und wo ein Shitstorm wütet ... Macht Twitter den Journalismus schlechter?
Haller: Der Messenger-Dienst Twitter wirkt verführerisch, vor allem auf Politiker, Promis und eitle Wichtigtuer. Einen kurzen, knackigen Spruch raushauen, der dann von Tausenden Followern gesehen und gelikt wird, das gibt ein Gefühl von Wichtigkeit und Strahlkraft. Hinzu kommt die Schnelligkeit. Mit einer frechen These ruckzuck draußen zu sein, um die Debatte zu prägen: Auch dies wirkt auf manchen Journalisten verführerisch und steigert das Gefühl, zur Meinungsführerschaft zu gehören. Das Problem besteht darin, dass viele Journalisten Twitter als ein öffentliches News-Medium missverstehen, statt es als brancheninternes Kommunikationsmittel zu nutzen. Aber ich hoffe, dass die Twitter-Faszination bald wieder nachlässt. Dies wäre ein Segen für die solide und ernsthaft arbeitenden Journalisten.
Solide Arbeit ist manchen zu wenig – sie wollen Aktivisten sein und Haltung zeigen:
Haller: Am medialen Umgang mit Precht/Welzer kann man diese journalistische Fehlhaltung studieren, die in den vergangenen Jahren augenfällig wurde und ich für ausgesprochen fatal halte. Es ist der Hang zum Moralismus. Viele Kommentatoren treten in der Pose des überlegenen Besserwissers auf und bestätigen und verstärken sich darin wechselseitig. Ob in Rezensionen, Leitartikeln oder Talkshows: In verächtlichem Ton wird über die beiden Autoren geurteilt, als seien es ungezogene Schmuddelkinder. Auch wurden ihnen wiederholt Behauptungen unterstellt, die sich im Buch gar nicht finden. Es scheint, als wollte man das Buch schlechtmachen, damit man es verreißen kann. Besonders eindrücklich fand ich in dieser Hinsicht die Lanz-Talkrunde vom 29. September. Auch Markus Lanz hatte offenbar kein Interesse an einer sachlichen Debatte über die eigentlichen Inhalte des Buches.
Sehen Sie keine Schwächen in dem Buch?
Haller: Doch, es gäbe genug Stoff für Diskussionen. Denn so manches Argument der Autoren zielt am Problem vorbei. Zum Beispiel das Thema Vertrauen. Die Autoren beklagen den Schwund an Medienvertrauen. Stimmt das? Und wenn ja: Ist dies wirklich schlimm? Ich denke, im Umgang mit Newsmedien geht es nicht um Vertrauen, vielmehr um Glaubwürdigkeit, und das ist nicht dasselbe. Oder der im Buch pauschal benutzte Begriff „Leitmedien“: Welche sind gemeint und welche nicht? Dass zwischen der „Bild“-Zeitung und der Wochenzeitung „Die Zeit“ – beide sind Marktführer in ihrem Segment – himmelweite Qualitätsunterschiede bestehen, versteht sich von selbst. Zudem pflegt die „Zeit“ sehr ausgeprägt die von den beiden Autoren angemahnte Debattenkultur. Oder die mehr als 300 Lokal- und Regionalzeitungen: Sind sie nur Lemminge, die den großen Leittieren folgen? Ich denke: manchmal ja, oftmals eher nein.
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Der Versuch, eine sachliche Debatte über die vierte Gewalt zu führen, scheint danebengegangen zu sein. Haben Sie eine Idee, wie es besser funktionieren kann?
Haller: Wir müssen den Journalismus nicht neu erfinden, sondern ihn an das solide Handwerk des Informationsjournalismus erinnern. Seine Aufgabe ist die Darstellung und einordnende Aufklärung aktueller Vorgänge. Also die Sachen wichtiger nehmen als die Selbstdarstellung. Abweichende Positionen und Sichtweisen nach den Regeln des Respekts und der Fairness prüfen, publizieren und diskutieren. Und wieder lernen, dass die Welt viele Gesichter hat. Ich würde zum Beispiel jedem westdeutschen Nachwuchsjournalisten ein paar Wochen Praktikum im Jobcenter und bei der Landeskriminalpolizei vorschreiben. Außerdem ein paar Monate in einer Lokalredaktion im Osten Sachsens oder Brandenburgs. Ich vermute, diese Journalisten würden anschließend sich und die Welt anders sehen.