Hamburg. Unternehmer fühlt sich um Millionen betrogen und erstattet Anzeige. Doch ein Urteil gibt es bis heute nicht – oder einen Prozesstermin.
Der Mann ist 87 Jahre alt – und für sein Alter ausgezeichnet in Form. Trotzdem fürchtet der Hamburger, dass er es nicht mehr erleben könnte, wie ein Gericht über seinen Fall entscheidet. Günther N. (Name geändert) hat den Eindruck, dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen, sehr langsam sogar. Seit nunmehr neun Jahren, so empfindet es der Unternehmer, wartet er auf sein Recht.
„Justice delayed is justice denied“, zitiert der Hamburger einen Satz, den unter anderem der berühmte amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King geprägt hat. Frei übersetzt heißt das so viel wie: Wenn Gerechtigkeit lange dauert, wird sie verwehrt. „Dass man neun Jahre auf sein Recht warten muss, ist eine Zumutung“, meint der Unternehmer. „Das gefährdet das Vertrauen in den Rechtsstaat.“
Justiz Hamburg: Langes Warten auf sein Recht „gefährdet Vertrauen in den Rechtsstaat“
Aber von Anfang an: Günther N. hat jahrzehntelang eine Exportfirma geleitet. Etwa 30 Jahre lang beschäftigte er eine Geschäftsführerin, von der er sich mittlerweile um rund 2,5 Millionen Euro betrogen fühlt. Die damalige Mitarbeiterin habe nach und nach Geld von Geschäftskonten abgezweigt und für eigene Zwecke verbraucht, meint der 87-Jährige. In erster Linie habe sie davon die aufwendige Renovierung eines Hauses im Umland von Hamburg bezahlt.
Aufgefallen sei der Fehlbetrag Ende 2014, als die Tochter des Firmengründers in die Geschäfte einstieg und sich mit der Buchhaltung auseinandersetzte. „Da wurden viele Ungereimtheiten festgestellt. Wir haben die Dame damit konfrontiert, sie wurde beurlaubt, dann fristlos entlassen“, erzählt Günther N. Zunächst sei man noch von einem Fehlbetrag von 50.000 bis 60.000 Euro ausgegangen. „Aber dann haben wir festgestellt, dass es in die Millionen geht.“
Hamburger Unternehmer: Geschäftsführerin zweigte zu Unrecht Millionen ab
Der Unternehmer meldete für seine Firma Insolvenz an. Über eine Zivilklage auf Schadenersatz in Höhe von knapp einer Million Euro, die der Insolvenzverwalter daraufhin beim Landgericht gegen die damalige Geschäftsführerin einreichte, wurde im August 2019 entschieden. Das Urteil der Kammer: Die frühere Mitarbeiterin muss knapp eine Million Euro zahlen. Eine Berufung, die die Frau einlegte, wurde vom Hanseatischen Oberlandesgericht zurückgewiesen. Das Geld wurde von der Verurteilten mittlerweile in drei Raten gezahlt.
So weit das Zivilverfahren. Doch nach einer Strafanzeige wegen Betruges, die Günther N. im Frühjahr 2015 stellte, gebe es bis heute keine greifbaren Ergebnisse, ärgert sich der 87-Jährige. Zwar habe es Ermittlungen durch das Landeskriminalamt gegeben, ebenso eine Hausdurchsuchung bei der früheren Geschäftsführerin im Juni 2016. Schließlich habe die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft 18 Bände umfasst, in mehreren weiteren Bänden waren die sogenannten Beweismittel gesammelt. Und im März 2020 kam es schließlich zur Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft Hamburg beim Landgericht Hamburg – wegen 274 Straftaten der Untreue beziehungsweise des Betrugs.
Betrug und Untreue? Bis heute gibt es keinen Termin für einen Prozess
Als der Hamburger nachfragte, wieso es von der Anzeige bis zur Anklageerhebung fast fünf Jahre gedauert habe, sei ihm das mit einem nicht vermeidbaren Personalwechsel des Sachbearbeiters und einer längeren Vakanz im Dezernat erklärt worden, berichtet Günther N. Nun aber stehe er auf dem Weg zu seinem Recht vor der nächsten Hürde: Bis heute gibt es keinen Termin, an dem ein Prozess gegen die ehemalige Geschäftsführerin beginnen wird.
Also sitze sie seit Jahren in dem mit seinem Geld schick renovierten Haus, so die Quintessenz aus Sicht des 87-Jährigen, und müsse bislang keine strafrechtlichen Folgen tragen. Er würde „gern noch sehen, dass es ein Urteil gibt“, erklärt der Hamburger. Dass der Prozess immer noch nicht begonnen hat, geschweige denn ein Abschluss zu erwarten ist, belastet den Senior. „Das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet.“
Gerichtssprecher: Eine Terminierung des Prozesses steht noch aus, ist aber in Vorbereitung
„In dem Verfahren hat die Kammer mit Beschluss vom 4. März 2022 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet“, sagt Gerichtssprecher Kai Wantzen dazu auf Abendblatt-Anfrage. „Eine Terminierung steht noch aus, ist aber in Vorbereitung.“
Zuletzt seien Übersetzungen in Auftrag gegeben sowie Nachermittlungen veranlasst worden. Eine weitere Terminplanung hänge maßgeblich auch von der Verfügbarkeit der Beteiligten ab.
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Allgemein allerdings, so Wantzen, könne gesagt werden, dass „in wirtschaftsstrafrechtlichen Verfahren meist aufwendige Ermittlungen vorausgegangen sind und es sich um sehr komplexe und umfangreiche Fälle handelt, die auch in der Vorbereitung beim Gericht sehr zeitintensiv sind. Bei solchen Verfahren, zu denen auch das vorliegende gehört, kommt es leider manchmal zu Verzögerungen, die dazu führen, dass sie deutlich länger dauern, als wir uns das selbst wünschen würden.“
„Verzögerungen, die deutlich länger dauern, als wir uns das selbst wünschen würden“
Die Verzögerungen gingen – abgesehen von den immer noch spürbaren Auswirkungen pandemiebedingter Einschränkungen in den Jahren 2020 bis 2022 – maßgeblich auf die Belastung der zuständigen Kammer (und des gesamten Landgerichts Hamburg) mit sogenannten Haftsachen zurück, erläutert der Sprecher – also Verfahren, in denen sich die Angeklagten in Untersuchungshaft befinden. Solche Verfahren müssten vorrangig terminiert und verhandelt werden.
„Der Vorrang dieser Verfahren, deren Anteil beim Landgericht Hamburg seit 2017 sprunghaft gestiegen ist, zwingt leider immer wieder dazu, dass sogenannte Nicht-Haftsachen, zumal die besonders komplexen und umfangreichen, zurückgestellt werden müssen und sich dadurch in die Länge ziehen“, sagt Gerichtssprecher Wantzen.
Was Encrochat-Verfahren mit der Verzögerung zu tun haben
Maßgeblichen Anteil an den Verfahren mit Beschuldigten, die in Untersuchungshaft sind, hätten demnach seit 2020 die sogenannten Encrochat-Verfahren, also Anklagen wegen Drogenkriminalität, die auf die Auswertung des Kommunikationsdienstes Encrochat zurückgehen und insgesamt zu einer deutlichen Zunahme von Strafverfahren beim Landgericht geführt haben.
„Der hohe Anteil vorrangig zu fördernder Haftsachen wirkt sich mittelbar auf das gesamte Landgericht aus“, erläutert Wantzen weiter. Denn zum Teil müssten die Richter der einen Kammer auch zu Vertretungen in anderen herangezogen werden. „Davon war insbesondere auch die hier zuständige Kammer betroffen, in deren Besetzung, einschließlich des Vorsitzes Anfang 2023, es mehrfach auch zu personellen Wechseln gekommen ist.“