Hamburg. Neue Berechnung zur Veranstaltung gegen Rechtsextremismus am Jungfernstieg. Fridays For Future mit heftiger Kritik an Behörden.

„Wir sind mehr“, war der Slogan, den Tausende Demonstranten gegen Rechtsextremismus in Hamburg skandierten. „Mehr“ als die Unterstützer der AfD und der extremistischen Runde, die in einer Villa in Potsdam über die „Remigration“ von Zugewanderten fantasierte. Der Demo-Ruf hat nun eine weitere Bedeutung bekommen: Es waren nicht nur 50.000 Teilnehmer bei dem ersten großen Aufzug am Jungfernstieg am Freitag, den 19. Januar, sondern erheblich mehr. Polizei und Innenbehörde korrigierten ihre ersten Angaben nun auf 180.000, wie die Behörde dem Abendblatt bestätigte. Der Mitveranstalter der Demo, Kazim Abaci (Geschäftsführer des Vereins Unternehmer ohne Grenzen und SPD-Bürgerschaftsabgeordneter), sagte dem Abendblatt, er habe in einer E-Mail darum gebeten.

Die Eindrücke von der Demo seien so gewesen, dass vielen die Zahl 50.000 deutlich zu klein vorgekommen sei. Die Veranstalter hatten zunächst 80.000 kommuniziert. Auch Abendblatt-Reporter vor Ort bezweifelten die ersten Polizeiangaben. Das hängt vor allem damit zusammen, dass nicht nur der Jungfernstieg übervoll mit Menschen war, die Menge sich bis zum Gänsemarkt erstreckte und gleichfalls die „Zuläufe“ verstopft waren. Auch der Ballindamm war dicht, von der Mönckebergstraße wurde dasselbe berichtet – und weil die U-Bahnen zum Teil gar nicht mehr am Jungfernstieg, Rathaus und Rödingsmarkt hielten, verstreuten sich die Demo-Willigen an anderen Orten der Hamburger Innenstadt.

Hamburg: 180.000 bei Demo gegen Rechtsextremismus am Jungfernstieg

180.000 Demonstranten gegen Rechtsextremismus am 19. Januar in Hamburg.
180.000 Demonstranten gegen Rechtsextremismus am 19. Januar in Hamburg. © dpa | Jonas Walzberg

Auch unterirdisch war kaum ein Fortkommen, denn aus den Haltestellen-Ausgängen rund um den Jungfernstieg wurden die Menschen nicht mehr an die Oberfläche gelassen. Im Bereich der Binnenalster und der Alsterarkaden standen die Menschen so dicht, dass selbst nach dem Abbruch der Veranstaltung lange nichts ging.

Die Innenbehörde erklärte jetzt dem Abendblatt, dass „durch Zulauf und Abwanderung“ das Veranstaltungsgeschehen per se dynamisch sei. Man habe zunächst nur den eigentlichen Ort am Jungfernstieg betrachtet. Die grobe Schätzung vom Demo-Tag sei „ausnahmsweise“ nachgeschätzt worden. Dabei wurde auch auf öffentliche Bilder zurückgegriffen und auf Drohnen-Videos, die die Polizei aus Datenschutzgründen nicht selbst angefertigt hat.

Drei Demonstranten pro Quadratmeter

Die von den Teilnehmern besetzte Fläche habe etwa 60.000 Quadratmeter betragen. Mal seien fünf, mal weniger als drei Demonstranten auf einem Quadratmeter. Am Ende habe man drei als Erfahrungswert genommen und somit auf 180.000 hochgerechnet. Diese Berechnung könne man nicht auf andere Veranstaltungen übertragen.

In Berlin gingen zuletzt Veranstalter- (350.000) und Polizeiangaben (100.000) über die Teilnehmerzahl ebenfalls weit auseinander, in München (320.000 zu 100.000) ebenso. Anhand der erwarteten Demonstranten wird der Aufwand kalkuliert, den Veranstalter und Sicherheitsbehörden mit einer Demo haben. Dabei geht es um Absperrungen, Zahl der eingesetzten Polizisten und Sanitäter sowie im Falle eines großen Andrangs auch um den Einsatz von „Wellenbrechern“. Sie können helfen, größere Menschenmengen sicherer zu machen. Bei Stadionkonzerten dienen sie etwa dazu, vor der Bühne das Gedränge zu entspannen.

Fridays for Future kritisiert Polizei-Zählweise

Annika Rittmann von Fridays for Future kritisiert das Vorgehen der Polizei. „Diese große Korrektur nach oben um eine Zahl von 130.000 Menschen zeigt, dass auf die Zählweise der Polizei kein Verlass ist“, sagt die Hamburger Klimaschutzaktivistin. Das Vorgehen müsse nun umgehend umfangreich überarbeitet werden. Fridays for Future habe bereits seit Jahren darauf hingewiesen, dass die Unterschiede in den Zählungen zu groß seien. „Und wir zählen die Teilnehmer wirklich und schätzen nicht nur.“ Das sei ihr und allen Mitstreitern extrem wichtig.

Dabei wende die Klimaschutzbewegung folgende Methode an, so Rittmann. „Zum Zählen bestimmen wir einen bestimmten Punkt, an dem die Menge hindurchströmt. Dort teilen wir sie in Reihen und Spalten ein. Sobald die Menge losgezogen ist, zählt man die einzelnen Blocks mit einem Klicker.“ Auf einer Fläche werde außerdem ausgezählt, wie viele Menschen auf einem Quadratmeter stünden, „und dann rechnen wir hoch“. Zudem nutze die Klimaschutzorganisation die Internetseite mapchecking.com. „So sind wir mittlerweile ziemlich sicher, die Zahl der Teilnehmer recht genau bestimmen zu können.“

Zähl-Ärger schon bei Pegida-Demonstrationen

Annika Rittmann betont, dass sie keiner beteiligten Partei absichtliches Falschzählen unterstellen wolle. „Aber ab sofort sollte es der Anspruch sein, das Vorgehen grundlegend zu überarbeiten.“ Sie habe die große Hoffnung, dass das nach einer derart auffälligen Korrektur nun auch geschehe. Es sei gerade in diesen Zeiten besonders wichtig, möglichst genaue Zahlen bei derartigen Veranstaltungen zu veröffentlichen. „Die Menschen, die hier auf die Straße gehen, haben ein Recht darauf zu wissen, mit wie vielen sie gemeinsam demonstriert haben.“ In diesem Falle sei es ja sogar etwa ein Zehntel aller Hamburger gewesen. „Und das macht dann schon einen echten Unterschied.“

Der Leipziger Soziologe Stephan Poppe sagte im Abendblatt-Podcast „Becker am Morgen“ eine große Zahl sei ein Ausweis für den Erfolg einer Protestaktion. Er hat sich unter anderem mit den Pegida- und AfD-Aufmärschen 2015 und 2016 beschäftigt. Dort gab es ebenfalls unterschiedliche Angaben von Polizei und Veranstaltern, die zu Debatten geführt haben. Die erste große Hamburger Demo gegen Rechtsextremismus nach den Enthüllungen der Recherche-Plattform Correctiv hatte die AfD zum Anlass genommen, von einer „Manipulation“ der Bilder und damit der Teilnehmerzahl zu sprechen.

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Diese Erzählung von „Fake News“ zieht sich durch die Kommunikation der Populisten. Protestforscher Poppe sagte, behördliche Angaben könnten sicherlich fehlerhaft sein. Er hält drei Menschen pro Quadratmeter für sehr dicht. Teilnehmer berichteten jedoch von anhaltenden Situationen mit Körper an Körper.

Mitveranstalter Abaci sagte, ihm sei daran gelegen gewesen, die Eindrücke vieler mit einer Neubewertung der Polizei abzugleichen. Nach seinem Eindruck seien die 180.000 konservativ geschätzt. Viel wichtiger aber sei für ihn, dass es eine parteiübergreifende Demonstration aus der Mitte der Gesellschaft gewesen sei. „Jeder zehnte Hamburger ist aufgestanden gegen Rechtsextremismus.“