Hamburg. Wie viele Menschen auf die Straße gehen, ist zu wichtig, als dass man es wie bisher mit scheinbar groben Schätzungen ermittelt.
Wer an der ersten großen Demonstration gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie in Hamburg teilgenommen hat, erinnert sich noch an das komische Gefühl, das er hatte, als die Polizei damals die offizielle Teilnehmerzahl bekannt gab: Von rund 50.000 Menschen war die Rede, und das, obwohl die Massen auf den Straßen einen ganz anderen Eindruck vermittelten – und obwohl die Demo „wegen Überfüllung“ vor dem geplanten Ende abgebrochen werden musste. 50.000 Teilnehmer waren zwar nicht schlecht, das waren deutlich mehr als die Organisatoren erwartet hatten. Aber es waren eben nicht 100.000 oder 150.000, Zahlen, die in der Berichterstattung viel stärkere Signale aus Hamburg gesendet und die dem Protest automatisch eine höhere Bedeutung gegeben hätten.
Heute wissen wir: Es waren nicht 50.000, nicht 100.000, nicht mal 150.000 – es waren 180.000. Die nachträgliche, in dieser Form einmalige Erhebung der Behörden schreddert das zumindest in vielen Redaktionen ungeschriebene Gesetz, dass man bei Teilnehmern an Demonstrationen auf die offiziellen Zahlen der Polizei vertraut. Die waren in der Vergangenheit normalerweise immer niedriger als die der Veranstalter. Und weil Veranstalter Partei sind, man also zumindest befürchten musste, dass ihre Angaben eher nach oben als nach unten gerundet werden, hat man im Zweifel auf die Schätzungen der Polizei zurückgegriffen. Was, das muss man jetzt so sagen, nicht richtig gewesen ist.
Erfahrene Veranstalter wissen, wie man zählt
Schon bei der zweiten großen Demonstration gegen Rechtsextremismus in Hamburg kamen in der Redaktion des Abendblatts Zweifel auf, dass „nur“ 60.000 Menschen auf den Straßen waren, wie es die Polizei sagte. Unseren Reporterinnen und Reportern vor Ort schien die Schätzung des Veranstalters, in diesem Fall Fridays for Future, mit 100.000 deutlich realistischer – es war dann auch die Zahl, die wir veröffentlichten. Aber, so viel Ehrlichkeit muss sein: Wir waren auch überzeugt, dass diese zweite Demonstration größer war als die erste…
Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, in einer kurzen Zeit möglichst genau zu ermitteln, wie viele Menschen an einer Demonstration teilnehmen. Aber: Es ist wichtig, dass solche Fehler wie mit den 50.000, die in Wahrheit 180.000 waren, nicht wieder passieren. Denn mit den Zahlen wird Politik gemacht – gerade in der aufgeladenen Stimmung, in der sich unser Land empfindet. In einer Demokratie ist die Menge der Menschen, die sich in großen Streitfragen auf die eine oder die andere Seite schlägt, entscheidend, oft ist die Zahl der Teilnehmer das Einzige, was von einer Demonstration bleibt. Vor allem ist sie Spielmaterial für die, die in den sozialen Medien versuchen, jedes Ereignis am Ende so zu drehen, dass es ihren politischen Überzeugungen oder Zielen entspricht. Und das geht natürlich mit 50.000 viel leichter als mit 180.000...
Mit den Zahlen wird Politik gemacht
Die Lehre aus diesen Zahlenspielen, könnte, nein, müsste sein, auf die Einschätzungen von erfahrenen Demo-Organisatoren, etwa wie Fridays for Future, zu vertrauen. Die haben nämlich in den vergangenen Jahren nicht nur Methoden entwickelt, mit denen sich gut abschätzen lässt, wie viele Menschen bei diesem oder jenem Protest dabei waren. Sie haben auch gar kein Interesse daran, Zahlen bekannt zu geben, die sich bei genauerer Betrachtung als viel zu hoch erweisen könnten – weil sie damit nämlich ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen würden. Auch hier gibt es aus Hamburg ein gutes Beispiel: Der Veranstalter der ersten Großdemo gegen Rechtsextremismus hatte die Teilnehmerzahl in der Spitze mit 130.000 angegeben – und damit immer noch um 50.000 zu niedrig…