Hamburg. Nicht nur Wähler fremdeln mit den Sozialdemokraten, manche Sozialdemokraten fremdeln auch mit den Wählern – und das nicht nur im Osten.
Es gibt viele Ausflüchte, wie sich Sozialdemokraten die jüngste Umfrage aus Sachsen schönreden können: Das kleine Sachsen ist nicht ganz Deutschland! Das Meinungsforschungsinstituts Civey gehört nicht zu den großen Demoskopen! Und der Freistaat im Osten war immer schon vermintes Gelände für die SPD – bei keiner Landtagswahl seit der Wiedervereinigung kam die stolze Partei schließlich über 20 Prozent! 2004 rutschte sie sogar in den einstelligen Bereich.
Seit der Civey-Umfrage vom Neujahrstag – drei Prozent – muss die stärkste Fraktion im Bundestag erstmals um den Einzug in ein Landesparlament bangen. Dabei ist Sachsen Geburtsort der Sozialdemokratie: Der Allgemeine Deutscher Arbeiterverein wurde in Leipzig gegründet. Sollte dort enden, was vor 161 Jahren so verheißungsvoll begann und ein Glücksfall der Geschichte wurde?
SPD: Der Niedergang der Partei wurde nicht gestoppt, sondern nur unterbrochen
Zumindest scheint die Historie des Niedergangs der SPD mit der Wahl von Olaf Scholz 2021 nicht ihr Ende, sondern nur ihre Unterbrechung gefunden zu haben.
So verwunderlich ist der Abstieg der SPD nicht: Denn sie hat in den vergangenen Jahren ihrer Klientel zu oft vor den Kopf gestoßen. Es begann mit Kanzler Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 zwar Deutschland nach vorne gebracht, aber seine Partei zurückgeworfen hat. Die Zumutungen der Hartz-IV-Reformen gingen in ihrer Summe für die Partei der kleinen Leute zu weit – und es fehlte die Flankierung durch soziale Verbesserungen wie etwa die Einführung eines Mindestlohns. Trotzdem bleibt Schröder ein Mann für die Geschichtsbücher.
Angela Merkel schubste die Sozialdemokraten aus der Mitte
Der Wähler aber ist undankbar: Er wählte den Niedersachsen ab und kürte stattdessen Angela Merkel, die viel heftigere Reformen und Zumutungen im Wahlkampf angekündigt hatte, um anschließend im Amt dann lieber die Reformdividende ihres Vorgängers zu verfrühstücken. Danach machte sie vorzugsweise sozialdemokratische Politik. Zwar mögen viele Genossen sich gefreut haben, so viele Erfolge in der Großen Koalition zu erzielen – sie zahlten aber dummerweise auf das Konto der Union ein. Und während sich die CDU maximal flexibel nach links verschob, schubste sie die SPD aus der Mitte.
Fortan nahmen viele Sozialdemokraten nicht mehr die Sorgen und Nöte ihrer eigenen Wähler in den Fokus, sondern lieber Partikularinteressen. Doch wer vorzugsweise Minderheitenpolitik macht, verliert die Mehrheiten aus dem Blick. Die SPD wollte oft grüner als die Grünen und linker als die Linkspartei sein – und räumte das Feld, auf dem man in Deutschland Wahlen gewinnt: die Mitte.
Früher stand die SPD für eine Steuerung der Migration
Die Migrationspolitik ist dafür ein Beispiel. Lange stand die SPD unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Björn Engholm für eine strikte Steuerung der Migration. 2015 war plötzlich alles anders: Während die Parteigrößen „Refugees Welcome“ feierten, beschlich immer mehr Genossen das Gefühl, mit den Folgen dieser Politik allein gelassen zu werden. Es sind gerade die kleinen Leute, die die Überforderung der Gesellschaft als Erste spüren – auf dem Wohnungsmarkt, in den Schulen, auf den Straßen, in den Arztpraxen, im ÖPNV. Doch wenn sie ihre Sorgen äußerten, wurden sie schnell als Nazis abgekanzelt.
SPD: Was ist von der alten Arbeiterpartei geblieben?
Und wer erinnert sich heute noch daran, dass die SPD mal Arbeiterpartei war? Der Vorsitzende Kurt Beck wollte Politik für Leute am Fließband, für Leute im Tiefbau machen, für all die, die morgens früh aufstehen und den Tag über hart arbeiten. Inzwischen macht die SPD eher Politik für die, die sich morgens lieber noch einmal umdrehen. Vielleicht sollten Kühnert & Co. mal nachfragen, was die Leute am Fließband und im Tiefbau von der jüngsten Bürgergelderhöhung in Höhe von zwölf Prozent halten?
Als in Deutschland in der Rezession 2005 fünf Millionen Menschen arbeitslos waren, ging man ihnen ans Geld. Heute, wo allerorten Arbeitskräfte gesucht werden, subventioniert man das Nichtstun. Zugleich belasten die Steuererhöhungen ausgerechnet die Menschen überproportional, für die Beck einst Politik machen wollte.
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Hinzu kommt, dass die Ampel die SPD in eine schwierige Lage bringt. Gerhard Schröder verstand sich noch als Koch, die Grünen als seine Kellner. Olaf Scholz hingegen ist eher Dompteur oder Therapeut einer Regierung, die nur die Angst vor Neuwahlen zusammenhält. Die Umfrage in Sachsen ist da nicht nur ein Ausrutscher – sie muss eine letzte Warnung sein.