Hamburg. Die Polarisierung der Gesellschaft und den Rechtsruck können wir nur mit Dialog überwinden - auch wenn der nicht einfach wird.

Am Freitag haben Zehntausende Menschen in der Stadtgegen Rechtsextremismus und Neonazi-Netzwerke demons­triert. Hamburg ist aufgestanden. Es sind Bilder, die guttun. Es war eine Demonstration, die die Menschen gestärkt hat. Die wohl wichtigste Botschaft: Demokratie lebt davon, mitzumachen, mitzumischen, und manchmal mitzumarschieren. Der Aufruf von Kanzeln und Kulturschaffenden, er wurde gehört. Das ist ein Anfang.

Mehr aber nicht: Es ist zu bezweifeln, dass diese Demonstration nur einen einzigen der nach rechts Schwankenden überzeugen konnte, dass der stetig wachsende Anteil der AfD in deutschen Parlamenten ein Unglück für das Land ist. Eine Demo ändert leider nur wenig. Wie wusste schon Bertolt Brecht: „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“

Der Erfolg der Rechten ist ein Versagen aller

Leider spricht man auch nicht mit ihnen. Es geht hier nicht um die Unbelehrbaren, sondern die Verunsicherten. Weite Teile der Politik, der Medien und der viel gepriesenen Zivilgesellschaft haben es im vergangenen Jahrzehnt unterlassen, mit den Andersdenkenden, Argwöhnischen, Zweifelnden in einen vernünftigen Dialog zu treten. Hysteriker haben die Debatte bestimmt und jede Kritik etwa an der Massenmigration nach Deutschland moralisch abgeurteilt und als rechts gebrandmarkt.

Man fühlte sich wohl in den Reinräumen der Gleichgesinnten und hat dabei leider völlig übersehen, was da im Dunkeln wächst und wuchert. Das permanente Zuschreiben „rechtsradikal“ hat die Menschen nicht davor bewahrt, dorthin zu rutschen, sondern sie geradezu geschubst. Wer permanent als „Rechter“ beschimpft wird, wird am Ende leider einer. Das haben wir prima hingekriegt.

Eine Wahl galt mal als „Hochamt der Demokratie“, aber nie als Höllenritt von Racheengeln

Und doch ist es zu billig, die Rechtsausleger hier und heute zu armen Opfern zu stilisieren: In Deutschland, nun zitiere ich aus voller Überzeugung Angela Merkel, in einem Land, in dem wir immer noch „gut und gerne leben“ können, darf jedem ein Mindestmaß an Verantwortung zugemutet werden. Eine Wahl galt mal als „Hochamt der Demokratie“, aber nie als Höllenritt von Racheengeln.

Eine Stimmabgabe aus Frust über die da oben oder als persönliche Abrechnung mag kurz das Mütchen kühlen, Probleme wird es nicht lösen. Wer die AfD ernsthaft für eine Alternative für Deutschland hält, sollte einmal Björn Höcke lesen. Der Mann war mal Geschichtslehrer, er weiß, in welche Zeit er zurückwill. Das können doch 2024 nicht 22 Prozent der Wähler wollen!

Demokratie ist keine Netflix-Serie

Auch all die Desinteressierten sollten sich fragen, ob Zuschauen da noch genügt. Manche starren mit einer Faszination auf den politischen Rechtsruck, als finde der nur auf dem Bildschirm statt. Demokratie aber ist keine Netflix-Serie, sondern eine Lebensform. Die um sich greifende Politik- und Staatsverachtung gerade bürgerlicher und bessergestellter Kreise ist abstoßend: Ja, an der Bundesregierung gibt es viel zu kritisieren; aber Schadenfreude und Untergangsrhetorik helfen nicht weiter. Dass vermeintliche „Patrioten“ ihr einst geliebtes Land in sozialen Medien niedermachen, ist ein Fall für Therapeuten. In lichten Momenten sollten sich alle fragen, worin unsere Aufgabe liegt: Wollen wir zum Gelingen beitragen oder das Misslingen feiern?

Demokratie fordert alle, wenn wir die Verirrten zurückgewinnen wollen: Medien dürfen weder totschweigen noch dramatisieren, die Kultur soll Vielfalt nicht nur predigen, sondern leben, die Kirche Markus 2,17 predigen und leben: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ Politiker sind gut beraten, das ganze Land in den Blick zu nehmen und sich an Sigmar Gabriel zu erinnern: „Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist.“

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Raus aus der Blase, streiten, diskutieren, aber auch zuhören, zugestehen, zulassen, den anderen ernst nehmen und nicht moralisch aburteilen. Demokratie ist mehr als eine Talkshow. Wollen wir uns weiter immer lauter und zorniger anschreien? Oder anfangen, miteinander zu reden? Wenn nur jeder Demonstrant, jede Demonstrantin, jede Leserin, jeder Leser zwei Wankende und Schwankende mit Argumenten zu überzeugen vermag – es wäre schon vieles gewonnen.